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Veröffentlicht am 09.03.2024

Interessant gemachtes moralphilosophisches Gedankenexperiment

Das andere Tal
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Mit seinem ersten Roman „Das andere Tal“ entwirft der promovierte Philosoph Howard eine Welt nicht nur mit einem interessanten metaphysischen Grundkonzept sondern auch mit Denkanstößen zu moralphilosophischen ...

Mit seinem ersten Roman „Das andere Tal“ entwirft der promovierte Philosoph Howard eine Welt nicht nur mit einem interessanten metaphysischen Grundkonzept sondern auch mit Denkanstößen zu moralphilosophischen Fragen. Das geschieht im Gewand eines zunächst sogar eher wie ein Jugendbuch anmutenden Romans, der sich in der zweiten Hälfte zu einer hoch spannenden Lektüre entwickelt und eine unerwartete Auflösung bietet.

Odile ist gerade sechzehn geworden und lebt auf den ersten Blick das Leben einer durchschnittlichen Jugendlichen, die aber nicht so recht in die Gruppendynamiken der Schule passt. Man merkt schnell, dass die Stadt, in der sie lebt, irgendwie anders ist, als das, was wir von unserer Gegenwart kennen. Die Stadt, die verwendete Technik, die Personen scheinen wie aus der Zeit gefallen. Unbestimmbar. Und mit „der Zeit“ hat es hier auch etwas ganz Besonderes auf sich, denn die Stadt befindet sich in einem Tal und würde man nach Westen reisen, ins nächste Tal, befände sich dort der gleiche Ort aber 20 Jahre in der Vergangenheit. Der nächste Ort im Westen, wieder weitere 20 Jahre (also insgesamt 40 Jahre) in der Vergangenheit. In Richtung Osten würden wir uns in die Zukunft, auch in 20er Schritten, bewegen. Nun steht Odile zwar eigentlich „nur“ vor der Entscheidung, die jede Person zum Abschluss der Schulzeit treffen muss, nämlich welche Ausbildung sie beginnen möchte. Doch ihre Geschichte ist komplizierter, da sie sich für das Conseil bewirbt, welches eine Art ethisches Gericht ist, welches entscheidet, wer im Trauerfall die Wanderung in die Vergangenheit antreten darf, um seine Liebsten noch einmal aus Entfernung sehen zu können. Gleichzeitig wird sie verstrickt in genau einen solchen Vorgang und folgenschwere Geschehnisse werden losgetreten.

Scott Alexander Howard hat hier ein wirklich spannendes Gedankenexperiment um Zeitreisen, Trauer und ethisch-moralische Entscheidungen entworfen. Durch seine Prämisse der zeitverschobenen Täler umgeht er technische Fragen zum Thema Zeitreisen komplett, wenn auch nicht die daraus entstehenden Paradoxa. Es macht Spaß diesem Gedankenexperiment zu folgen, auch wenn in der ersten Hälfte des Romans es manchmal so wirkt, als ob der Autor Vignetten mit moralischen Fragestellungen aus seinen Philosophieseminaren eingebunden hat. Das wirkt zunächst ein wenig didaktisch und könnte daher auch durchaus für den Schulunterricht genutzt werden. Trotzdem bleibt der Roman für erwachsene Leser:innen auch immer interessant und wird im Verlauf immer spannender. Zuletzt habe ich richtig mit der Protagonistin mitgefiebert und wollte das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen. Der Autor löst ein gewisses Problem des hiesigen Zeitreisekonzeptes geschickt auf und lässt die Geschichte von Odile wunderbar offen.

Sprachlich liest sich der Roman, wenn man sich erst einmal an die mitunter wenig gängigen französischen Namen gewöhnt hat, sehr flüssig runter, ohne zu simpel geschrieben zu sein. Den Charakteren, auch neben Odile als Ich-Erzählerin, folgt man sehr gern. Howard kann die Atmosphäre dieses Tals ganz wunderbar heraufbeschwören, sodass man problemlos in die Geschichte eintauchen kann und vor dem inneren Auge einen spannenden Film sieht. Apropos Film: Das Buch soll als Miniserie verfilmt werden, was man sich bei diesem Stoff sehr gut vorstellen kann.

Insgesamt hat mich der Roman nicht nur sehr gut unterhalten sondern gleichzeitig ein interessantes, für mich ein neues Konzept für Zeitreise entworfen und Fragen zum Thema Trauerarbeit aufgeworfen. Erfrischend.

4,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 28.02.2024

Daran beißt man sich die Zähne aus – zu zäh!

Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht
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Das autofiktionale Romandebüt von Julia Jost dreht sich um ein Mädchen, das Anfang der 1990er Jahre in einem Kärntner Dorf aufwächst, entdeckt, dass sie nicht so ist, wie ihre Eltern sie als Mädchen gern ...

Das autofiktionale Romandebüt von Julia Jost dreht sich um ein Mädchen, das Anfang der 1990er Jahre in einem Kärntner Dorf aufwächst, entdeckt, dass sie nicht so ist, wie ihre Eltern sie als Mädchen gern hätten, und ebenso wie einer ihrer Brüder auch politisch nicht ins Bild der heimattreuen, österreichischen Familie passt.

Die Geschichte des Romans ist zentriert um eine Situation herum, die in 1994 stattfindet. J. (unsere Ich-Erzählerin) ist 11 Jahre alt und ihre Familie zieht aus dem Gasthof-Gebäude, welches den Eltern gehört, aus. Sie spielt mit ihrer Freundin Luca Verstecke und während Luca von Einhundert rückwärts zählt, schweift J. gedanklich in vergangene Situationen und Familienmythen ab. Immer wieder kehren wir im Text zurück zu diesem Moment des Versteckspiels, der auch der einzige ist, der im Präsens erzählt wird. Alle Erinnerungen und Anekdoten werden im Präteritum erzählt.

Grundsätzlich erscheint das Romankonzept auf den ersten Blick äußerst ansprechend. Die Inszenierung wirkt geschickt eingefädelt und man freut sich auf eine (Zitat Verlagsinternetseite) „Coming-of-Age-Geschichte voller Drive und Witz“. Leider bekommt man nur den ersten Teil der Versprechung, den zweiten kann der Roman nicht halten.

So liest sich „Wo der spitzeste Zahn…“ über die nur 230 Seiten unglaublich zäh. Eine Familien- bzw. Dorfanekdote reiht sich an die nächste. Erst im Verlauf wird klarer, welche überhaupt relevant für unsere Erzählerin ist. So zum Beispiel der tragische (aber nicht sonderlich tragisch erzählte) Tod eines Mitschülers in 1989. Dieses Ereignis wird auch später noch Auswirkungen auf die beteiligten Personen haben, leider transportiert sich dies überhaupt nicht auf der emotionalen Ebene. Generell fehlten mir die Emotionen dieses erzählenden Mädchens. Recht lakonisch erzählt es grausamste Geschehnisse herunter, wie man es sich bei einem 11jährigen Mädchen kaum vorstellen kann. Diesbezüglich drängt sich auch ein Problem mit der Erzählperspektive auf. Da die Versteckspiel-Szene im Präsens als Ausgangssituation von der aus das Mädchen ihr Wissen speist werten muss, passt neben dem Ton auch das Wissen der kindlichen Erzählerin nicht so recht ins Bild. Beschreibt sie doch haarklein, dass die Mutter einer Mitschülerin in die DDR gegangen ist und die Familie für einen SED-Funktionär (diese Worte!) verlassen habe. Da kommen Zusammenhänge zum Tragen, die nicht zum Verständnisraums eines Kindes, welches – so erleben wir es in anderen geschilderten Situationen – von ihren Eltern nicht als vollwertiger Mensch angesehen und größtenteils ignoriert wird, außer es entwickelt sich eben nicht so, wie es als Mädchen sollte. Zu einem Lapsus kommt es, wenn es auf Seite 44 heißt: „meine erste Cola habe ich mit einundzwanzig getrunken“. An keiner anderen Stelle gibt es einen Hinweis darauf, dass J. Von einem späteren Zeitpunkt als dem in 1994 heraus erzählt. Somit sehe ich für mich das Problem mit der Erzählperspektive bestätigt.

Ich nehme an, es soll sich hierbei nicht nur um eine reine Coming-of-Age-Geschichte um dieses Mädchen aus dem LGBTQ+Spektrum, sondern vielmehr um einen Gesellschaftsroman, der das Leben und die alltäglichen Sorgen, Intrigen und Anekdote von Menschen aus dem ländlichen Österreich handeln. So scheinen immer wieder die rechtspopulistischen Gesinnungen der Dorfbewohner durch, wenngleich die bosnische Einwandererfamilie von Luca als Arbeiter gern gesehen sind. Leider taucht die Erzählerin kaum in Lucas Geschichte ein, was vielleicht widerspiegeln soll, wie diese Menschengruppe zu der Zeit ignoriert wurde.

Ich hatte so meine Schwierigkeiten nicht nur mit der Erzählperspektive sondern auch mit der Geschichte an sich, da die Handlung sehr reduziert ist und sich auf wild aneinandergereihte Anekdoten stützt. Man wird hier mit, wie ich finde, sehr vielen eher unwichtigen Details versorgt, mit der Beschreibung von Menschen, Umgebungen, Situationen, Familienmythen. Es kommt zu zahlreichen Abschweifungen, bis man gar nicht mehr richtig weiß, wie man dort überhaupt hingekommen ist. Am Ende hatte ich den Eindruck, viel weniger gelernt zu haben, als die Geschichte eigentlich hergegeben hätte. Jedenfalls nicht in dem Maße, welches Volumen die Abschweifungen im Buch einnehmen. Vieles wirkte auf mich eher ablenkend und störend. Für wen solche wilden Szenenwechsel und das Anschneiden von Themen etwas ist, wird hier vielleicht besser mit dem Roman zurechtkommen. Für mich war bis auf das letzte Drittel des Romans, dieser unglaublich zäh zu lesen. Wobei das letzte Drittel auch nicht den genannten „Drive“ entwickelte, aber zumindest musste ich mich nicht mehr durch die Sätze quälen. Dort wird auch das rechte Gedankengut am interessantesten sprachlich ausgehebelt und vorgeführt.

Somit kann ich aber leider keine Leseempfehlung für den Roman aussprechen, auch wenn ich das Szenario ganz grundsätzlich und auch den ein oder anderen prägnanten, pointierten Satz sehr gut fand.

2,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 19.02.2024

Leider nicht der erwartete Knaller

Arctic Mirage
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Mit „Arctic Mirage“ hat die Finnin Terhi Kokkonen sofort mit ihrem Debütroman den finnischen Helsingin-Sanomat-Literaturpreis eingeheimst. Das ist nach der Lektüre etwas verwunderlich, ist der Roman zwar ...

Mit „Arctic Mirage“ hat die Finnin Terhi Kokkonen sofort mit ihrem Debütroman den finnischen Helsingin-Sanomat-Literaturpreis eingeheimst. Das ist nach der Lektüre etwas verwunderlich, ist der Roman zwar nicht schlecht, doch bleibt er weit hinter seinen Möglichkeiten zurück.

Gleich zu Beginn erfahren wir auf der ersten Seite, dass Karo ihren Ehemann Risto umbringen wird. Dann springen wir eine Woche in der Zeit zurück und erlesen uns die Geschehnisse bis zu diesem einschneidenden Ereignis. Die Kapitel sind spannend mit den entsprechenden Wochentagen überschrieben, sodass das Buch wie ein „Countup“ (denn „down“/“runter“ wird im eigentlichen Sinne ja nicht gezählt, da wir in der Zeit voranschreiten) aufgebaut ist. Wir erfahren, dass das Paar zusammen auf eine Reise in den hohen Norden Finnlands aufgebrochen ist und am Tag ihrer geplanten Abreise durch einen Autounfall davon abgehalten wurde. Nun sind sie in einem zunehmend merkwürdig anmutenden Luxus-Hotel Namens „Arctic Mirage“ gestrandet und die Geschehnisse nehmen ihren nebulösen Verlauf.

Die Autorin konnte mich zu Beginn des Romans mit ihrer nebulösen Art, die Personen, ihre Handlungen und die Geschehnisse zu beschreiben zunächst sehr gut einfangen. Ich ließ mich auf dieses kuriose Hotel und die ebenso kuriosen Figuren, die alle von abwegigen Gelüsten geleitet zu sein scheinen, ein und erhoffte mir dann im letzten Drittel eine geschickte Zusammenführung der verschiedenen Erzählstränge. Denn nicht nur erfahren wir einiges über die Vergangenheit des Ehepaares Karo und Risto, sowie deren zerrüttetet Beziehung zueinander sondern auch sehr viel über die Hintergründe von Nebenfiguren, wie dem behandelnden Hotelarzt oder der jungen Empfangsdame des Hotels. Es bot sich quasi auf dem Silbertablett an, hier geschickt diese Fäden zu verweben und ein knalliges Ende zu stricken.

Leider hat mich die Auflösung der Geschichte sehr enttäuscht, wird doch letztlich relativ konventionell die Geschichte zu Ende erzählt. Viele Andeutungen aus dem Roman werden nie wieder aufgegriffen und man fragt sich nach Abschluss der Lektüre, warum so einige Textpassagen überhaupt im Roman geblieben sind. So hätte die Autorin entweder stark einkürzen und sich auf einen raffinierten Twist konzentrieren können oder den Roman in seinem Volumen erweitern und dafür den verschiedenen Strängen eine Funktion geben können.

Nun gut. Ich habe mich nicht durch den Roman gequält oder maßlos geärgert. Letztlich kann die Autorin durchaus gut schreiben, hat sich hier aber in der Konstruktion des Romans vergaloppiert. Meines Erachtens hat sich auch die Jury vor den oben genannten Literaturpreis etwas vergaloppiert, denn es handelt sich durchaus um keinen schlechten, aber meines Erachtens auch nicht um einen herausragenden Roman. Das Potential dafür war sicherlich da, aber es wurde nicht annähernd ausgeschöpft. Schade.

2,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 12.02.2024

Eine Annäherung über Listen

Weltalltage
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Ich sitze hier und versuche mir einen schmissigen Titel für die Rezension zu diesem großartigen Buch einfallen zu lassen. Da „Weltalltage“ von Paula Fürstenberg aber so vielschichtig und im wahrsten Sinne ...

Ich sitze hier und versuche mir einen schmissigen Titel für die Rezension zu diesem großartigen Buch einfallen zu lassen. Da „Weltalltage“ von Paula Fürstenberg aber so vielschichtig und im wahrsten Sinne des Wortes „unbeschreiblich“ ist, fällt es mir schwer, einen solchen Titel zu finden.

Auf der aller obersten, oberflächlichen, inhaltlichen Ebene dreht sich der Roman um die Freundschaft der Erzählerin mit Max. Beide in der DDR kurz vor der Wende geboren und gefühlt schon immer befreundet. Dabei war Max immer der Aufpasser für die Erzählerin, denn diese ist chronisch krank seit der Kindheit, leidet unter anderem an einem medizinisch nicht erklärbaren Schindel, der sie häufig in die Knie zwingt und für sie lebensgefährlich wird, wenn sie z.B. schwimmen gehen will. Das Gefüge zwischen den beiden: Sie die Kranke, Er der Gesunde; bleibt bis sie Dreißig sind so bestehen, bis Max langsam in eine Düsternis abrutscht, die beide nicht schnell genug als eine Depression erkennen. So einfach, so profan. Aber dann kommen noch die anderen Ebenen zum Vorschein.

So betrachtet Fürstenberg auch den Zusammenhang von Biografien und Erkrankungen mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Auf einer soziologischen Ebene begleiten wir Kinder, die in der strukturlosen Nachwendezeit aufwachsen, deren alleinerziehende Mütter überfordert sind und um die existenziellen Grundlagen ihrer Familien kämpfen müssen, wodurch sie fast keine Kapazitäten für die Bedürfnisse ihrer Kinder mehr haben. Diese retten sich durch das Klammern aneinander.

Und eine Ebene weiter ist Fürstenbergs Roman eigentlich gar kein „richtiger“ Roman, denn er besteht ausschließlich aus Listen. Listen, welche nicht aus reinen Stichpunkten bestehen, aber nach denen der Zettelkasten dieser Freundschaftsgeschichte geordnet ist. Das Buch beginnt mit der „Liste möglicher Anfänge dieser Geschichte“. Wir finden bald heraus, warum hier ertastet werden muss, wie der Anfang der Freundschaft zustande gekommen ist. Denn die Erzählerin ist Schriftstellerin, Max ist Architekt. Die Schriftstellerin versucht ein Buch zu schreiben und muss ihre Ideen und Gedanken irgendwie zusammenbringen. Dies gelingt ihr durch Listen. So kommt die „Chronik einiger Verletzungen, die ihr euren Müttern zufügt“ ebenso vor wie ein „Amtliches Verzeichnis einiger Gespräche zwischen Max und dir, die im Nachhinein betrachtet nicht so optimal gelaufen sind“. Anhand dieser übergeordneten Punkte ergibt sich mehr und mehr ein tiefgründiges Bild nicht nur dieser besonderen Freundschaft, sondern auch der Biografien der Figuren, deren Befindlichkeiten und Sorgen.

Weiterhin enthält dieses Buch fast essayistische Passagen, in denen Krankheitsentstehung, die Wahrnehmung von Krankheit in der Gesellschaft, Diagnoseodysseen, die misogyne Medizingeschichte, Krankheit als Metapher in literarischen Texten usw. erforscht werden. Hier werden viele konkrete Zitate eingebunden, die im Anhang des Buches durch ein entsprechendes Literaturverzeichnis unterlegt werden.

Und auf einer Metaebene beobachten wir auch die Figur der fiktiven Schriftstellerin dabei, wie sie diesen Roman, den wir hier in Händen halten, überhaupt erst entwirft. Wie sie gegen Wände rennt, wie sie mit Max verhandeln muss, ob Passagen über ihn im Buch vorkommen dürfen, wie sie eine erzählerische Stimme findet: „Dies ist auch die Geschichte eurer Freundschaft und die begann 1999 in der siebten Klasse. Da hast du noch keine Selbstgespräche in der zweiten Person geführt, da hast du noch ich gesagt, wenn du ich meintest.“ Denn der Text ist vollständig in der Du-Form verfasst. Da muss man sich erst einmal zu Beginn des Buches hineinfinden, aber nach der Eingewöhnungszeit passt diese etwas distanzierte Form perfekt, wird mensch beim Lesen doch dadurch auch immer mit angesprochen.

Und auch wenn das alles jetzt unglaublich überkonstruiert klingt, ist es das dann bei der Lektüre gar nicht so sehr. Alles fließt wunderbar dahin, alles greift ineinander und ergänzt sich, lässt sich wunderbar lesen. Der Text ging mir an vielen Stellen ganz nah, entlockte mir immer wieder Tränen. Dieses Buch ist ein „Ja genauso ist/war es“-Buch für Menschen mit chronischen Erkrankungen, mit Ärzt:innenodyssee, mit „Migrationshintergrund“ aus dem nicht mehr existenten Staat DDR, eine Migration, für die man nicht einmal umziehen musste, und mit vielem mehr in ihrem Erlebnishorizont. Und es ist ein Buch für Menschen, die zwar all diese Erfahrungen nicht gemacht haben, aber die es besser verstehen wollen, wie es sich damit anfühlen kann.

Für mich persönlich stellt dieses Werk von Paula Fürstenberg ein wahres Highlight dar. Ein Roman, den ich in dieser kreativen Form und mit so eindringlich und authentisch vermittelten Inhalten noch nie gelesen habe. Ich bin restlos begeistert und ich weiß, egal, was ich hier schreibe, es wird sowieso weder dem Roman noch meiner Begeisterung gerecht, die ich beim Lesen empfunden habe.

Deshalb:

10/5 Sterne… nein natürlich 5/5 Sterne, geht ja nicht anders. ;)

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Veröffentlicht am 10.02.2024

Unterhaltsam trotz nur schwer erträglichem Thema

Lil
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In seinem nur 240 Seiten kurzen Roman verarbeitet Markus Gasser auf eine rasante und überraschend unterhaltsame Weise die Geschichte zweier - aber natürlich vieler - Frauen, die eigentlich kaum auszuhalten ...

In seinem nur 240 Seiten kurzen Roman verarbeitet Markus Gasser auf eine rasante und überraschend unterhaltsame Weise die Geschichte zweier - aber natürlich vieler - Frauen, die eigentlich kaum auszuhalten ist ob ihrer Scheußlichkeit und doch aushaltbar literarisch umgesetzt ist.

Sarah, eine Frau aus der heutigen Zeit, Journalistin beim Wall Street Journal, selbstständig, modern, mit Hund und Apartment in Greenich Village, erzählt uns - oder vielmehr ihrer Hündin Miss Brontë - die Geschichte ihrer Ururururgroßmutter Lillian Cutting, kurz Lil, die im ausgehenden 19. Jahrhundert als Eisenbahnmagnatin zu den „Oberen 400“ der New Yorker High Society und des Geldadels gehörte, deren Selbstständigkeit allerdings nicht gern gesehen wurde und sie daher einer infamen Intrige zum Opfer fiel. Lil ist eine taffe Frau, die sich nur zwei Sachen hat zuschulden kommen lassen: Sie trauert über drei Jahre um ihren geliebten verstorbenen Ehemann und sie hat einem Sohn das leben geschenkt, der ein besonders abscheuliches männliches Exemplar ist. Natürlich hat sie sich auch ganz grundsätzlich vielerlei andere Dinge aus Sicht ihrer Zeitgenossen zuschulden kommen lassen, die allesamt mit der unerwünschten Selbstständigkeit einer Frau zu tun haben. Die Intrige führt zu einer unfreiwilligen Hospitalisierung in einer der ersten psychiatrischen Heime seiner Zeit und wir folgen nun Sarah in ihrer Erzählung der märchenhaften Geschichte ihrer Ur-Ahnin um Emanzipation, Gerechtigkeit und Rache und erfahrend dabei auch einiges über Sarah selbst.

Musste ich mich zunächst in den Erzählstil dieses Romans hineinfinden, packte mich doch die Geschichte der Frauen mit Haut und Haaren. Auf den ersten Blick erzählt hier Sarah mit einem recht flapsigen, sarkastisch-humoristischen Ton (besonders im ersten Drittel des Buches) die Geschichte von Lil. Dabei spricht sie nicht nur direkt ihre Hündin Miss Brontë direkt an, sondern diese antwortet ihr sogar! Was sich zunächst etwas merkwürdig anfühlt, wird im Verlauf aber immer natürlicher und hat literarisch auch durchaus eine Funktion. Damit muss man erst einmal klarkommen, aber hier fühlt es sich letztlich gut so an. Dieser sarkastisch-humoristische Ton wirkt zu Beginn erst einmal nicht passend zu den knallharten Schilderungen aus Lils Leben und vor allem ihrer Zeit in dem psychiatrischen Heim. Denn der behandelnde Arzt ist nett formuliert durchaus kein Sympathieträger, nein, er tut seinen Patientinnen so ziemlich jede vorstellbare Scheußlichkeit an. Der Ton von Sarah erklärt sich gegen Ende des Romans, wenn sie den Blick ausführlicher auf ihre eigene Geschichte richtet.

Der Roman strotzt nur so vor literaturgeschichtlichen Zitaten und Verweisen, ebenso wie vor Querverweisen in unsere heutige Zeit hinein. Behandelt nicht nur das Thema der schreienden Ungerechtigkeiten gegenüber Frauen, sondern streift auch das Thema der Diskriminierung aufgrund von Herkunft. Man muss jedoch nicht jede Anspielung verstehen und die literaturgeschichtlichen Hintergründe kennen, um den Roman mit Freude und Gewinn lesen zu können.

Zu einem großen Teil habe ich den Roman „Lil“ wirklich sehr gern gelesen. Überraschenderweise muss man sagen, dass er unterhaltsam daherkommt. Richtiggehend mitgefiebert habe ich mit Lil, eine fast diebische Freude hatte ich an Szenen der sich erfüllenden Gerechtigkeit, hingegen nicht an allen Schilderungen der Rache. Missfallen ist mir indes der Ton bzw. eine ganz bestimmte Szene gegen Ende der Geschichte, die wie ein Rundumschlag gegen nicht nur die vergangene, unheilvolle Historie der Psychiatrie sondern auch den heutigen Zustand der Psychiatrie und Psychologie daherkommt. Da werden mir die Vorkommnisse in Sarahs Leben, die vollkommen nachvollziehbar erschütternd und wichtig dafür sind zu verstehen, warum sie Lils Geschichte so erzählt, wie sie sie erzählt, und vor allem aber die Aussage eines Mediziners aus einem somatischen Bereich nicht in einen ausreichend differenzierten Kontext gesetzt, den ich mir an dieser Stelle gewünscht hätte. Das finde ich leider nicht gut gelungen, wir so doch pauschal nicht nur die vergangene sondern auch die moderne Psychiatrie und Psychologie scheinbar undifferenziert verteufelt und verstärkt damit ungewollt Vorurteile gegen ebenendiese.

Das Ende empfinde ich somit als den schwächsten und eventuell gefährlichsten Teil des Romans, trotzdem konnte mich das Gesamtpaket ansonsten überzeugen, weshalb meine Gesamtbewertung bei 3,5 Sternen liegt und es mir so schwer wie lange nicht fällt, mich für das Auf- oder Abrunden zu einer ganzen Bewertungszahl zu entscheiden. Doch, insgesamt ist es ein "gutes" Buch und für "gut" stehen bei mir die 3 Sterne. Für 4 Sterne stört mich dann doch besagte Darstellung der modernen "Psych..."-Felder zu sehr. Bei einer kritischen Lektüre kann ich den Roman aber durchaus als lesenswert empfehlen.

3,5/5 Sterne

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