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Veröffentlicht am 21.08.2021

Hirsch rules!

Barrier Highway
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Paul „Hirsch“ Hirschhausen ist die Ein-Mann-Polizeidienststelle in Tiverton, der Kleinstadt im südaustralischen Outback. Sein Revier ist groß, aber dennoch hat er bei seinen täglichen Streifenfahrten immer ...

Paul „Hirsch“ Hirschhausen ist die Ein-Mann-Polizeidienststelle in Tiverton, der Kleinstadt im südaustralischen Outback. Sein Revier ist groß, aber dennoch hat er bei seinen täglichen Streifenfahrten immer ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte der Menschen. Üblicherweise sind es eher Kleinigkeiten, mit denen er es zu tun hat, nicht die ausgeklügelten Verbrechen, wobei sich aber auch diese auf den ersten Blick harmlosen Vorfälle zu etwas Größerem auswachsen können.

Beispiele gefällig? Da gibt es den Wäschedieb, der die Unterwäsche älterer Frauen von den Leinen entwendet, das vernachlässigte, unterernährte Kind, zu dessen Rettung Hirsch gerufen wird, der wütende Vater, den er in der Grundschule beruhigen muss, die Gemeindemitglieder, die Bedenken haben, dass ihre Investitionen in ein geplantes Musikfestival in dunklen Kanälen verschwinden, die betrügerischen irischen Wanderarbeitet, die für die Instandsetzung angeblich maroder Dächer eine alte Frau um einen horrenden Geldbetrag bringen, und nicht zuletzt ein Vater/Sohn Duo mit einer tödlichen Mission. Und wenn das noch nicht genug wäre, muss sich Hirsch auch noch mit einer Stalkerin herumschlage, die jeden seiner Schritte beobachtet.

Zwar dauert es etwas, bis all diese Handlungsstränge in „Barrier Highway“ verknüpft sind, aber durch die stimmungsvollen Schilderungen von Land und Leute kommt zu keinem Zeitpunkt Langeweile auf. Und wie Disher schlussendlich all diese Ereignisse in Zusammenhang bringt, die Fäden jederzeit geordnet in der Hand hält, das ist große Schreibkunst und zeigt einmal mehr, dass es nicht der blutrünstigen Schilderung abscheulicher Morde bedarf, der sich weniger talentierte Autoren gerne bedienen, um Spannung zu generieren.

Ein Kriminalroman von einem Meister seines Fachs, mit einem menschenfreundlichen Sympathieträger im Zentrum und einem Plot, der ohne die gerade in diesem Genre mittlerweile so verbreiteten voyeuristischen Schilderungen möglichst abartiger Verbrechen auskommt. Äußerst spannend und unterhaltsam, und deshalb nachdrücklich empfohlen.

Veröffentlicht am 18.08.2021

Ein Jahreshighlight!

Shuggie Bain
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Der Booker Prize ist der wichtigste Literaturpreis, mit dem seit 1969 jährlich der beste in Großbritannien veröffentlichte englischsprachige Roman ausgezeichnet wird. 2020 erhält ihn Douglas Stuart (als ...

Der Booker Prize ist der wichtigste Literaturpreis, mit dem seit 1969 jährlich der beste in Großbritannien veröffentlichte englischsprachige Roman ausgezeichnet wird. 2020 erhält ihn Douglas Stuart (als zweiter schottischer Autor in dessen einundfünfzigjähriger Geschichte) für sein Debüt „Shuggie Bain“ @hanserberlin. Und ohne meiner Wertung vorgreifen zu wollen, diese Auszeichnung war wohlverdient.

Die achtziger Jahre in Glasgow sind geprägt von den Auswirkungen, die Thatchers Politik „for the few not the many“ zu verantworten hat. Das Land ist gespalten in Arme und Reiche. Der Süden erhält Unterstützungen und prosperiert, im Norden werden Zechen geschlossen und die alten Industriestädte sich selbst überlassen. Massenentlassungen sind die Folge. Die Arbeitslosigkeit ist immens und die Armut nimmt zu, weil die Regierung sich aus ihrer Verantwortung stiehlt. Das Leben der Kinder und Jugendlichen in den heruntergekommenen Arbeitervierteln ist trist und ohne Perspektive.

Douglas Stuart erzählt eine an seine eigene Biografie angelehnte Geschichte. Schreibt über die Auswirkungen der Armut, über Sucht und Missbrauch, aber auch über Co-Abhängigkeit und eine bedingungslose Liebe. Dies macht er mit einer Intensität, die einem fast das Herz zerreißt. Aber er erzählt auch von dem Leben eines Jungen, der nicht in die vorgeformten Rollenklischees passt. Der keinen Fußball, aber dafür Puppen und die Little Ponies mag, sich an schönen Dingen erfreut, seine Mutter anbetet und die Augen vor deren exzessiven Trinkgewohnheiten verschließt, obwohl er tagtäglich mit deren Auswirkungen konfrontiert wird. Der die Hoffnung nicht verliert, sie eines Tages retten zu können, bis er erkennen muss, dass der Einzige, den er retten kann, er selbst ist.

Eine zutiefst bewegende, ein traurige Geschichte. Mit „Shuggie Bain“ ist dem Autor ein aus der Vielzahl der Neuerscheinungen herausragender Roman gelungen, den ich so schnell nicht vergessen werde.

Veröffentlicht am 17.08.2021

Wo Reacher draufsteht...

Der Spezialist
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Es ist an der Zeit langsam Abschied zu nehmen, denn „Der Spezialist“ ist das vorletzte Buch aus der Reacher-Reihe, das komplett aus der Feder des Autors stammt. Und einmal mehr setzt Lee Child das bewährte ...

Es ist an der Zeit langsam Abschied zu nehmen, denn „Der Spezialist“ ist das vorletzte Buch aus der Reacher-Reihe, das komplett aus der Feder des Autors stammt. Und einmal mehr setzt Lee Child das bewährte Konzept um: Der Protagonist reist durch Amerika, landet 1.) in einem kleinen Städtchen, hilft 2.) jemandem aus der Bredouille und handelt sich 3.) damit eine Menge Ärger ein, was aber kein Problem ist, weil Reacher immer gewinnt. So auch diesmal, denn wo Reacher draufsteht, ist Reacher drin.

Okay, also dann. Jack Reacher ist auf dem Weg nach Westen und unterbricht die Fahrt in Laconia, New Hampshire, weil dieser Ort mit seiner Familiengeschichte verknüpft ist, sein Vater dort gelebt hat. Natürlich trifft er dort auf eine junge Frau in Not, die sich eines Angreifers nicht erwehren kann. Reacher greift ein und verpasst dem Kerl eine tüchtige Abreibung, nicht wissend, dass es sich bei diesem um den Sohn eines einflussreichen Unterweltlers handelt, den es natürlich nach Rache dürstet. Er hetzt ihm seine Handlanger auf den Hals und es kommt zu tätlichen Auseinandersetzungen. Soweit so bekannt, so vorhersehbar.

Jetzt kommt der zweite Handlungsstrang ins Spiel, denn zeitgleich strandet ein kanadisches Pärchen nach einer Autopanne in einem zwielichtigen Motel außerhalb des Städtchens. Hat erstmal nichts mit unserem Serienhelden zu tun, die Verbindung ergibt sich erst später, als Reacher zufällig dort landet und ihnen zur Hilfe eilt.

Was allerdings aufgrund dieser diversen Aktionen etwas in den Hintergrund rückt, ist die Suche nach der Vergangenheit seines Vaters, denn es gibt keine aussagekräftigen Aufzeichnungen, sondern nur vage Hinweise darauf, dass dieser an der Tötung eines tyrannischen Soziopathen beteiligt war. Aber Reacher weckt mit seiner Herumschnüffelei schlafende Hunde, was unweigerlich Ärger nach sich zieht. Unterstützt wird er von der ortsansässigen Polizistin, aber diese ist, wie so oft in Childs Thrillern, nur schmückendes Beiwerk.

Natürlich ist diese Reihe erfolgreich. Der Leser weiß, dass ihn Spannung gepaart mit Action und keine Abhandlung über Raketenwissenschaft erwartet. Und ja, das ist, wenn auch vorhersehbar, äußerst unterhaltsam, gerade weil man weiß, das der Serienheld manchmal lädiert, aber immer als Sieger aus seinen Auseinandersetzungen hervorgeht. Aber ich denke, dass selbst dem Autor die ewig gleichen Variationen des Themas genug sind und nichts mehr hergeben. Ob die Übergabe an seinen Bruder Andrew Child, der bereits unter dem Pseudonym Andrew Grant einige Thriller veröffentlicht hat, neue Impulse bringt bleibt abzuwarten.

Veröffentlicht am 16.08.2021

Der Ausverkauf Griechenlands und seine mörderischen Folgen

Das Lied des Geldes
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Ein wohlhabender chinesischer Geschäftsmann ist der erste Tote, hinterrücks erstochen. Er wird nicht der einzige bleiben. Die Ermittlungen des Athener Kommissars Kostas Charitos samt Team bringen erstaunliche ...

Ein wohlhabender chinesischer Geschäftsmann ist der erste Tote, hinterrücks erstochen. Er wird nicht der einzige bleiben. Die Ermittlungen des Athener Kommissars Kostas Charitos samt Team bringen erstaunliche Gemeinsamkeiten der Todesopfer zu Tage. Alle hatten große Mengen Geld in die Hand genommen und Investitionen getätigt. Aufgekauft, was in dem gebeutelten Land zu haben war. Die Sahnestücke aus dem Ausverkauf Griechenlands.

Die sozialen Ungleichheiten haben sich verschärft. Die Älteren werden entlassen, die Jüngeren zu Billiglöhnen eingestellt. Die Nachwirkungen der Krise sind allgegenwärtig. Die, die ihre Arbeit verloren haben, können die Miete nicht mehr bezahlen, wissen nicht mehr, wie sie über die Runden kommen sollen. Der unkontrollierte Flüchtlingszustrom bringt zusätzliche Probleme. Die Politik hat auf ganzer Linie versagt. Rechtspopulisten sind im Aufwind, die Linke hat sich mit dem System arrangiert, schielt nach politischer Macht, hat ihre ursprünglichen Ziele und ihre Wähler verraten.

Wie überall in Europa formiert sich auch in Athen der Widerstand. Eine kleine Gruppe, zuerst nur die Bewohner des Obdachlosenheims und eine Handvoll Migranten, angeführt von Kostas‘ Freund, dem Altlinken Lambros. Anfangs kommen nur wenige Teilnehmer zu den Kundgebungen, in denen die Linke zu Grabe getragen wird, doch der Zustrom wächst und wird zu einem Protest des Mittelstands, dem sich auch Kostas‘ Familienmitglieder anschließen, auch wenn er sich um ihre Sicherheit sorgt.

Spannungsliteratur entsteht nicht im luftleeren Raum und sollte deshalb auch die politischen Gegebenheiten in die Handlung einbeziehen. Dies leisten Petros Markaris‘ Kriminalromane, und „Das Lied des Geldes“ ist ein gelungenes Beispiel dafür. Er verankert seine Romane in der politischen Realität Griechenlands und zeigt eine Gesellschaft, die an der sozialen Ungleichheit zu zerbrechen droht. Lesen!

Veröffentlicht am 14.08.2021

Auf den Punkt

Sommer
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2020, ein Wendepunkt, ein Jahr, das uns schmerzlich die Auswirkungen unseres gedankenlosen Verhaltens vor Augen führt und gleichzeitig das Versagen der Politik anprangert.

„Sommer“, Abschlussband des ...

2020, ein Wendepunkt, ein Jahr, das uns schmerzlich die Auswirkungen unseres gedankenlosen Verhaltens vor Augen führt und gleichzeitig das Versagen der Politik anprangert.

„Sommer“, Abschlussband des Jahreszeiten-Quartetts, setzt zu Beginn des vergangenen Jahres ein. Die Auswirkungen des Brexit werden im täglichen Leben spürbar. Nachrichtensendungen zeigen Bilder erschreckenden Ausmaßes vom anderen Ende der Welt. Australien brennt, Tiere werden zum Opfer der Flammen, Menschen flüchten aus dem Inferno. Die Welt wird erstmals von einem Virus heimgesucht, dessen Auswirkungen in seiner ganzen Tragweite noch niemandem bewusst sind, aber bereits jetzt schon ahnen lassen, dass unser Leben sich für immer verändern wird. Globale Katastrophen, die Politik hilflos. Unfähig Entscheidungen zu treffen. Die Menschen nehmen es hin, verharren in Apathie. Die junge Generation mit ihrem Willen zur Veränderung als Hoffnungsträger.

Vier Jahre, vier Jahreszeiten, vier Romane, die unsere Gesellschaft abbilden und uns durch die Augen der schottischen Autorin unsere politische Gegenwart sehen lassen. Zu Werken aus Kunst und Literatur in Bezug gesetzt, letztere meist englische Klassiker wie Shakespeare und Dickens, unaufdringlich und gerade deshalb umso eindringlicher in ihrem Nachhall.

„Herbst“, der Brexit-Roman, „Winter“ über Trumpismus, „Frühling“, über Grenzen und die Flüchtlingskrise. „Sommer“ thematisiert die Klimakrise, Covid und dessen Auswirkungen auf unser soziales Leben. Natürlich kann man auch diesen Band einzeln lesen, aber seine besondere Wirkung entfaltet er nur dann, wenn man ihn als Teil der Reihe erlebt, da immer wieder Bezüge zu den Vorgängern hergestellt werden, Kommentare/Anspielungen auf deren Thematik, Personen in Momentaufnahmen in die aktuelle Handlung eingebunden werden, die dort zentrale Rollen hatten.

Ali Smith ist eine der großen britischen Gegenwartsautorinnen, die die politische Gegenwart betrachtet, analysiert und mit dem ihr eigenen Sprachgefühl sichtbar macht und kommentiert, zum Nachdenken anregt. Immer brillant und auf den Punkt.