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Veröffentlicht am 21.07.2025

Aufarbeitung eines fast vergessenen Lebens

Anna oder: Was von einem Leben bleibt
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"Jeder Mensch stirbt zweimal": so eröffnet Henning Sußebach sein Buch. Er meint damit einerseits das körperliche Dahinscheiden, andererseits aber auch das soziale Sterben: das Vergessen einer Person. Während ...

"Jeder Mensch stirbt zweimal": so eröffnet Henning Sußebach sein Buch. Er meint damit einerseits das körperliche Dahinscheiden, andererseits aber auch das soziale Sterben: das Vergessen einer Person. Während in der Menschheitsgeschichte nur sehr wenige Personen - dabei handelt es sich nach wie vor größtenteils um Männer - in Erinnerung bleiben, werden all die "kleinen Leute", die den Alltag ausmachen und die Geschichte vorantreiben, ohne viele Spuren zu hinterlassen, spätestens nach zwei Generationen vergessen. Dagegen kämpft Sußebach in "Anna oder: was von einem Leben bleibt" an.

Seine Urgroßmutter Anna war einst Lehrerin, musste sich dem Lehrerinnenzölibat unterwerfen, konnte anfangs ihre große Liebe Clemens nicht heiraten, weil sie laut Familienverband nicht den richtigen Stand hatte. Als ihr Glück doch noch in Erfüllung geht, verliert sie es umgehend wieder, denn nach nur wenigen Wochen Ehe verunglückt Clemens. Doch Anna gibt nicht auf, übernimmt die vererbten Familiengeschäfte und heiratet zu späterer Zeit erneut. Soviel ist nachzuvollziehen, anhand von einigen noch vorhandenen Quellen, vieles ist aber Spekulation und kann nur im Rahmen des Zeitgeschehens rekonstruiert werden.

Immer wieder spannt Sußebach den großen Bogen zum Weltgeschehen, lässt die Leserinnen wissen, was zur Zeit, in der Anna wirkte, an Weltgeschichtlichem vonstatten ging, setzt ihr Leben so immer wieder in den großen Kontext. Er phantasiert, wie es Anna wohl mit den verschiedenen Schicksalsschlägen ergangen sein mag, weißt aber explizit darauf hin, dass manches nur erdacht ist, da konkrete Spuren darüber fehlen. Immer wieder lässt er Quellen sprechen, zeigt und interpretiert die wenigen Fotos, die von Anna und ihrer Familie übrig geblieben sind, gibt Auszüge von Schulmaterial zum Besten, um den Leserinnen einen Eindruck vom Zeitgeist des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu geben. Kritisch anzumerken ist, dass besonders letzterwähnte leider nicht groß kommentiert werden, obwohl sie an vielen Stellen rassistische Aussagen enthalten. Auch wenn man davon ausgeht, dass die Leser*innenschaft historienkundig ist, wäre es angebracht gewesen, diese Zitate in einen Kontext zu setzen.

Dem Autor gelingt es hervorragend aufzuzeigen, wie schwierig es ist, ein längst vergangenes Frauenleben zu halten, da mit jedem Tag, an dem die Geschichte voranschreitet, Erinnerungen und Spuren verblassen. Anna kann als Charakter so nicht mehr greifbar gemacht werden, trotzdem schafft er es, sie vorm endgültigen, nachhaltigen Vergessen zu bewahren, indem er ihr mit diesem Buch ein Denkmal setzt.

Mein Fazit: "Anna oder: was von einem Leben bleibt" ist ein berührender Versuch, ein Leben einer Vorfahrin für die Nachwelt zu konservieren, mit nur spärlich vorhandenen Quellen und wenigen familiären Erzählungen einen Charakter, der um die Jahrhundertwende in Deutschland lebte und wirkte, nachzubilden. Er zeigt die Schwierigkeit eine historische Persönlichkeit ohne jeglichen Bekanntheitsgrad, vor allem wenn es sich um eine Frau handelt, einzuordnen und nachzuvollziehen, was sie bewegte. Trotz kleinerer Unterlassungen an Erklärungen kann ich das Buch nur wärmstens an alle empfehlen, die sich nicht nur für die Großen in der Geschichte interessieren, sondern offen sind für Menschen wie du und ich.

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Veröffentlicht am 21.07.2025

Der Himmel sieht stets anders aus

Himmel ohne Ende
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Charlie ist 15 und ihr Leben scheint gerade den Bach hinunter zu gehen: ihre vermeintlich beste Freundin will von heute auf morgen nichts mehr von ihr wissen, ihre Mutter hat einen neuen Partner und sie ...

Charlie ist 15 und ihr Leben scheint gerade den Bach hinunter zu gehen: ihre vermeintlich beste Freundin will von heute auf morgen nichts mehr von ihr wissen, ihre Mutter hat einen neuen Partner und sie selbst schafft es einfach nicht, ihre Stimme zu erheben. Doch dann taucht Pommes auf, ein Junge, der ihr vollkommen unvoreingenommen entgegentritt, sie so mag wie sie ist und ihr zeigt, worauf es in einer Freundschaft wirklich ankommt. Sie planen ihren ersten gemeinsamen Urlaub, doch das Leben stellt ihnen etliche Steine in den Weg...

Welch schönes Debut ist Julia Engelmann hier geglückt! Mit ihrer einnehmenden, poetischen und teilweise philosophischen Sprache versetzt sie einen sofort in die unendlich scheinenden Leiden eines schüchternen Teenagers, die sich lieber über die Welt und den Himmel Gedanken macht, als über Äußerlichkeiten und Cliquen. Charlie ist ein Mädchen, dass sich selbst nicht so wirklich mag, immer nur die eigenen Fehler sieht und vor lauter Selbstfixiertheit übersieht, dass auch sie jemand für andere ist. Jemand, der nicht nur fehlerhaft ist, sondern lustig und intelligent und talentiert. Alleine kann Charly, gefangen hinter einer Glasscheibe - wie sie es selbst wahrnimmt - nicht aus diesem Negativkreislauf aussteigen. Dabei hilft ihr, ohne, dass sie es bemerkt, Pommes, ein Junge, der ebenso traurig ist wie Charly, aber der durch seine Offenheit, wie er mit der Welt umgeht und seinen Träumen, nicht in der Vergangenheit steckenbleibt, sondern trotz erlittener Traumata hoffnungsvoll in die Zukunft blickt. Pommes zeigt Charly, was Freundschaft ist und dass diese Freundschaft wachsen kann, auch wenn sie Enttäuschungen mit sich bringt. Mit diesen positiven Vibes stellt die Protagonistin fest, dass sie doch nicht so unbeliebt ist, wie sie dachte und kann schließlich auch erkennen, dass sich die Welt - und der Himmel - nicht nur um sie dreht.

Mein Fazit: Himmel ohne Ende ist ein wunderschöner, tiefgründiger und vielschichtiger Roman über ein viel nachdenkendes Mädchen, dass durch eine Freundschaft erkennt wie Himmel und Erde sich anfühlen können, wenn man sich auf Zuversicht und Offenheit einlässt. Er kommt ohne jede Teenager-Romantik aus, fühlt sich zu hundert Prozent authentisch an und legt ein wunderbares Gefühl in die Magengegend. Er gehört zu meinen Jahreshighlights und ich kann ihn nur jeder und jedem ans Herz legen, besonders jenen, die in ihrer eigenen Pubertät nicht nur rosige Zeiten hatten.

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Veröffentlicht am 07.07.2025

Viel Flair, wenig Geschichte

Die Hummerfrauen
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Eines Tages wird eine junge Frau an die Küste vor Stone Harbor in Maine angespült und von Ann und ihrer Freundin Julie liebevoll aufgenommen und aufgepäppelt. Wie sich herausstellt, war Mina, wie die "Meerjungfrau" ...

Eines Tages wird eine junge Frau an die Küste vor Stone Harbor in Maine angespült und von Ann und ihrer Freundin Julie liebevoll aufgenommen und aufgepäppelt. Wie sich herausstellt, war Mina, wie die "Meerjungfrau" heißt, bereits als Kind als Sommergast mit ihrer Familie öfter in der Gegend. Die drei Frauen werden zu einer freundschaftlichen Einheit, doch jede einzelne von ihnen hat mit der Liebe und dem Leben als Hummerfischerin zu kämpfen.

Üblicherweise erwähne ich das Cover in meinen Rezensionen nicht, aber jenes der "Hummerfrauen" verdient eine spezielle Erwähnung - der äußere Umschlag zeigt einen roten Hummer, während der Druck am Hardcover einen blauen zeigt - eine schöne Anspielung auf Ann's ungewöhnliches Haustier - den blauen Hummer Mr. Darcy. Nicht nur das Haustier ist ungewöhnlich (besonders, wenn man bedenkt, dass Ann die Tiere ansonsten fängt, um sich mit ihnen ihren Lebensunterhalt zu verdienen und ihnen so einen grausamen, im heißen Wasser eintretenden Tod beschert), sondern auch die Frauen selbst. Die eine - Ann - hat sich vor Jahrzehnten trotz des Widerstands des gesamten Dorfes durchgesetzt und ist Hummerfischerin geworden, obwohl das bislang nur Männern vorbehalten war. Auch Julie ist störrisch, vorlaut und derb und schert sich nicht um Konventionen. Mina hingegen ist eingeschüchtert und geprägt von ihrer herrischen und negativen Mutter, die ihr nie Liebe entgegenbringen konnte.

Die Sprache ist eingehend und angenehm zu lesen, die Geschichte springt zwischen den Jahren 2000/2001 und 1982, mit Ausnahme von Prolog und Epilog, die in der Gegenwart angesetzt sind. Die Zeitsprünge bringen eine willkommene Abwechslung in das Geschehen. Bedauerlicherweise dümpelt die Geschichte über weite Strecken so vor sich hin, zieht sich und ist nur wenig spannend. Als dann im letzten Drittel ein spannender Verdacht im Raum steht und sich das Blatt wenden zu scheint, wird dieser aber schnell wieder fallen gelassen. Das ist schade, denn es hätte der Geschichte eine entscheidende Wendung geben können. So verfolgen wir über weite Strecken Dorftratsch, gescheitere Beziehungen, bösartige Mütter und Nachbarinnen, unerfüllt und aufgegebene Lieben, Konflikte unter Freund*innen und das meist ohne Ziel. An vielen Stellen dachte ich beim Lesen an "Virgin River" in Maine. Viele Charaktere werden eingeführt und immer wieder erwähnt, ohne, dass sie für die Geschichte eine wesentliche Bedeutung hätten. Das Gefühl der rauen Landschaft und See konnte die Autorin sehr gut vermitteln, die Entwicklung der Charaktere und der Geschichte blieb aber größtenteils langweilig und vorhersehbar. Nach Beendigung des Buches habe ich das Gefühl, dass zwar viel, aber nichts wirklich erzählt wurde. Schade, besonders die Mutter-Tochter-Beziehung von Mina und ihrer Mutter Judith hätte Potential gehabt, wird aber leider auch nicht ansatzweise weiterverfolgt oder aus erzählt.

Mein Fazit: "Die Hummerfrauen" mag ein sommerlicher, leichter Roman sein, der oberflächlich von Freundschaft, Liebe und Konflikten erzählt und für alle empfehlenswert ist, die "Virgin River" lieben. Tiefe, Weiterentwicklung der Charaktere und Beziehungen und das große Ganze bleibt das Buch aber leider schuldig. Highlights sind die kurzen Sequenzen, in denen der blaue Hummer Mr. Darcy als Haustier vorkommt.

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Veröffentlicht am 02.07.2025

Kommt so der Schlaf?

Der kleine Bubu. Mittagsschlaf ganz schnell und fix? Der Bubu, der kennt alle Tricks!
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Vorweg: die Illustrationen finde ich großartig! Sie sind sehr detailliert und erinnern an manchen Stellen an Wimmelbilder, das finde ich immer besonders schön, wenn man mit den Kindern viel entdecken kann. ...

Vorweg: die Illustrationen finde ich großartig! Sie sind sehr detailliert und erinnern an manchen Stellen an Wimmelbilder, das finde ich immer besonders schön, wenn man mit den Kindern viel entdecken kann. Besonders die Tiere sind herzerwärmend gezeichnet und dass die Schöpfer:innen des Buches mit einer Illustration und einem Reim vorgestellt werden ist spitze!

Der große und der kleine Bubu, flauschige Fellwesen, helfen den großen und den kleinen Menschen beim Mittagseinschlafen. Während die Erwachsenen freudig die Hilfe des großen Bubus in Anspruch nehmen, tut sich der kleine Bubu bei den Kindern schwer, partout wollen sie kein Nickerchen machen. Er plagt sich sehr und irgendwann gelingt es ihn dann doch, meistens durch Berührungen, die Kleinen in den Schlaf zu bringen.

Ich finde es wirklich sehr schön, wie die Erwachsenen liebend gerne zu mittags schlafen - und dich Kinder nicht. Allerdings finde ich, dass jetzt nicht wirklich etwas lehrreiches oder hilfreiches thematisiert wird, was die Kinder zum Schlaf animieren soll. Außerdem habe ich - besonders zu Beginn des Buches - etwas Schwierigkeiten, beim Vorlesen in das Reimschema hineinzukommen, das wirkt für mich nicht ganz stimmig. Außerdem finde ich die Reime für die Zielgruppe fast ein wenig zu lange.

Also grundsätzlich ein sehr schön und liebevoll illustriertes Kinderbuch, das mir von der textlichen Gestaltung und dem Lerneffekt nicht ganz überzeugt.

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Veröffentlicht am 23.06.2025

Das Buch: ein Rätsel

Die Schrecken der anderen
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Ein Toter im Eis, der soziophobe Schibig, die Alte, Kern und dessen Mutter: das sind die Hauptfiguren in Martina Clavadetschers "Die Schrecken der Anderen". Langsam werden die Personen eingeführt und sachte ...

Ein Toter im Eis, der soziophobe Schibig, die Alte, Kern und dessen Mutter: das sind die Hauptfiguren in Martina Clavadetschers "Die Schrecken der Anderen". Langsam werden die Personen eingeführt und sachte miteinander verwoben. Die Sprache ist zwar einfach zu lesen, aber doch sehr anspruchsvoll und komplex, es bedarf einer hohen Konzentration, um dem Erzählten die nötige Aufmerksamkeit zu schenken.

Gewaltig und dicht ist nicht nur die Sprache, sondern auch der Inhalt. Jede einzelne Figur bekommt einen schrägen Charakter, ist mit eigenen Besonderheiten ausgestattet. Was sie vereint, ist das Unzugängliche, das Mysteriöse das ihnen anhaftet. Jede und jeder ist etwas auf der Spur, lang ist nicht erkennbar, dass es sich um Gemeinsames handelt. Die Geschichte ist Geschichte und Ungeschichte zugleich, sie ist nicht fassbar und lässt sich deshalb auch kaum beschreiben.

Es ist ein Leseerlebnis, das man selbst erfahren muss, es hat etwas Märchenhaftes, aber doch sehr Reales, könnte vor oder in hundert Jahren spielen. Es beeindruckt und stößt ab zugleich. Schließlich geht es - wie in vielen Dingen - um das Geld, dass nicht nur Dreck am Stecken hat, sondern auch Blut - und alle gieren danach, aus unterschiedlichen Motiven. Und auch hier, in der neutralen Schweiz, tauchen abstoßende Spuren von Alt- und Neonazis auf.

Es benötigt definitiv einen zweiten Durchlauf, um dieses Buch zu verstehen und es fassen zu könne, denn es bleibt: ein Rätsel. Eines allerdings, dass es sich lohnt lösen zu wollen. Und hoffentlich gelöst werden kann.

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