Profilbild von Kwinsu

Kwinsu

Lesejury Star
offline

Kwinsu ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Kwinsu über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 04.01.2025

Einfühlsame Auseinandersetzung mit dem Vergessen

Alte Eltern
0

Volker Kitz arbeitet in seinem essayistischen Buch "Alte Eltern" die Demenzerkrankung seines Vaters auf. Äußerst gefühlvoll nähert er sich anhand seiner biographischen Erfahrung dem Thema an, erzählt die ...

Volker Kitz arbeitet in seinem essayistischen Buch "Alte Eltern" die Demenzerkrankung seines Vaters auf. Äußerst gefühlvoll nähert er sich anhand seiner biographischen Erfahrung dem Thema an, erzählt die Entwicklungsgeschichte der Krankheit seines Vaters, clustert dabei gewisse Themenblöcke, beispielsweise zu Erinnerungen oder Einsamkeit, und spickt sie mit fundiertem Expert:innenwissen.

Sein Text ist literarisch, emotional und ehrlich zugleich, trotz der Schwere und Traurigkeit des Themas zieht er die Leser:innen in den Bann, lässt sie mitfühlen und schafft es auf erstaunliche Weise, die Krankheit besser zu verstehen - und wie es Angehörigen im Umgang damit ergeht. Unweigerlich fühlt man mit, erahnt die innerliche Zerrissenheit, ganz besonders in jenem Kapitel, in dem es ums Loslassen geht. Ehrlich erzählt Kitz über die eigene Ungeduld und die anfängliche Unfähigkeit, die Wesensveränderung des Vaters aufgrund der Demenz zu akzeptieren. Wunderbar gelingt es dem Autor das Leben des Vaters und auch sein eigenes zu reflektieren, erkennt, wie wenig man doch über seine Eltern eigentlich weiß, besonders über jene Generation, die es nicht lernte, Gefühle zu artikulieren. Das stete Vergessen essentieller Dinge, das Zurückentwickeln macht betroffen, nichtsdestotrotz schafft es Volker Kitz einem die Angst vor der Krankheit etwas zu nehmen.

Mein Fazit: Alte Eltern ist ein einfühlsames Annähern an das Verstehen einer Demenzerkrankung anhand sehr persönlicher Erfahrungen, untermalt mit fundiertem Expert:innenwissen. Es ist für allgemein Interessierte an der Thematik ebenso informativ wie für Angehörige, die die Krankheit besser verstehen wollen, auch um erkennen zu können, dass sie nicht alleine sind. Ich hätte mir das Buch vor 20 Jahren sehnlichst gewünscht, als ich selbst Angehörige war. Es hat mich zutiefst berührt und mir die Angst vor der Krankheit ein Stück weit genommen, deshalb kann ich nur eine absolute Leseempfehlung aussprechen!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.12.2024

Ein feministisches, ideologiefreies und solidarisches Plädoyer

Empathie und Widerstand
0

Auf den ersten Blick mögen Empathie und Widerstand nicht so richtig zusammenpassen. Kristina Lunz versucht jedoch in dem vorliegenden Werk aufzuzeigen, dass beide Begriffe untrennbar mit einander verbunden ...

Auf den ersten Blick mögen Empathie und Widerstand nicht so richtig zusammenpassen. Kristina Lunz versucht jedoch in dem vorliegenden Werk aufzuzeigen, dass beide Begriffe untrennbar mit einander verbunden sind.

Wer auf der Suche nach einem Sachbuch ist, liegt hier falsch. Vielmehr ist "Empathie und Widerstand" ein essayistisches Plädoyer für ein ideologiefreies, feministisches und solidarisches Handeln, um Veränderungen nachhaltig anzustoßen.

Ich selbst beschäftige mich viel mit Empathie und auch mit Widerstand, denn in bin von Beruf Sozialarbeiterin. Kristina Lunz' Buch hat es bei mir geschafft, viele neue Gedankenanstöße anzuregen bzw. mich in meinen eigenen Beobachtungen zu bestärken und mir auch etliche Aha-Momente zu bescheren. Überraschend war für mich beispielsweise, dass der Begriff "Empathie" nicht nur positiv gesehen werden kann, denn mit jemanden mitzufühlen, lässt uns auch dazu verleiten, eine Seite zu ergreifen. Nichtsdestotrotz ist Empathie auch wichtig, um in den Widerstand zu gehen, denn nur, wenn wir konträre Positionen mitfühlend betrachten, so die Autorin, kann es gelingen ihn oder sie vom Gegenteil zu überzeugen.

Eine besondere Rolle spielt für Lunz auch das "Peacebuilding", was durch seine Ideologiefreiheit funktioniert. Dem Begriff und seinen Akteur:innen werden einiges an Raum gegeben, genauso wie der "Sisterhood". Ebenso schildert die Autorin etliche Handlungsoptionen und spricht über Frauen, die durch Empathie und Widerstand erfolgreich wurden. Die Argumentation, weshalb beide Begriffe für die vorgestellten Personen so wichtig sind, schwächelt für mich aber ein wenig, ich konnte sie teilweise nicht nachvollziehen, weshalb ich hier einen Stern Abzug gebe.

Mein Fazit: "Empathie und Widerstand" ist ein leerreiches, essayistisches Buch, in dem die Autorin ihre Erfahrungen als widerständige und empathische Frau schildert und Erklärungen gibt, weshalb ein feministisches, solidarisches und ideologiefreies Handeln Veränderungen anstoßen kann. Es ist ein absolut lehrreiches Buch, für alle, die offen dafür sind, die Welt zu einem besseren Ort machen zu wollen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 23.12.2024

Unerzählbares grandios erzählt

Siebenmeilenherz
0

Katharina Winkler erzählt in "Siebenmeilenherz" das Unerzählbare: den sexuellen Missbrauch an einem Kleinkind. Die Erzählform ist teils märchenhaft - auch weil das Buch Märchen immer wieder als Referenz ...

Katharina Winkler erzählt in "Siebenmeilenherz" das Unerzählbare: den sexuellen Missbrauch an einem Kleinkind. Die Erzählform ist teils märchenhaft - auch weil das Buch Märchen immer wieder als Referenz verwendet - besonders im ersten Teil des Buches, als die Protagonistin und gleichzeitige Erzählerin Kind ist, verwendet sie eine Gedichtform, die das Erleben des Kindes in seinem naiven und elterngläubigen Weltbild absolut realistisch wirken lässt. Die Liebe des Vaters seiner fünfjährigen Tochter gegenüber ist so groß, dass das Herz ihrer Mutter stehen bleiben würde, wüsste sie davon - so erzählt der Täter es dem Kind. Der Missbrauch wird als Geschichte gestaltet, der Vater erzählt vom Mäuseloch, der Zauberritze, dem Horn und dem Zaubersaft. Die Missbrauchsszenen sind unpackbar, das Kind ist dem schutzlos ausgeliefert, glaubt, dieses Spiel sei normal, auch wenn sie weiß, dass sie nicht will, was geschieht.

Der Erzählstil wechselt, als die Protagonistin älter wird, es erfolgt eine Abkehr von der Lyrikform hin zur Erzählung. Trotzdem zeichnet die Autorin ein realistisches Bild von der Qual der Missbrauchten, wie sie sich in der Pubertät und darüber hinaus durch das Leben hetzt, sich selbst verletzt, beziehungsunfähig zu sein scheint. Der innere Kampf, der nichts sehnlicher will, als ein Eingeständnis des Vaters für das Unrecht und den Schmerz, den er ihrer Seele angetan hat, ist absolut nachvollziehbar.

So grausam das Thema ist, so großartig ist es der Autorin gelungen, das Innenleben einer Missbrauchten zu erzählen, es den Lesenden fühlen zu lassen. "Siebenmeilenherz" kam wohlverdient auf die Shortlist des Österreichischen Buchpreises, auch wenn es bedauerlicherweise nicht ausgezeichnet wurde. Es ist literarisch ein Meisterwerk, auch wenn es ob der schockierenden Thematik nicht für jede/n geeignet ist. Es stellt ein großes Risiko dar, dieses Thema literarisch zu bearbeiten, glaubhafter könnte es aber nicht dargestellt werden.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 23.12.2024

Eine fühlbare Trauer

Von dem, der bleibt
0

Kurz nach der Trennung nimmt sich Matteo Bianchi's Ex-Partner "A." das Leben - in ihrer ehemals gemeinsamen Wohnung. Die Trauer, die Bianchi fühlt, ist unfassbar, doch schafft es der Autor, sie fühlbar ...

Kurz nach der Trennung nimmt sich Matteo Bianchi's Ex-Partner "A." das Leben - in ihrer ehemals gemeinsamen Wohnung. Die Trauer, die Bianchi fühlt, ist unfassbar, doch schafft es der Autor, sie fühlbar zu machen. Matteo Bianchi nimmt uns in seiner autobiographischen Traueraufarbeitung "Von dem, der bleibt" mit in die schwerste Zeit seines Lebens. Er vermittelt uns seinen Schmerz so, dass man ihn schier miterlebt. Die Ohnmacht wirkt greifbar, er klammert sich an viele Strohhalme - mögen sie auch noch so absurd sein, wie der Besuch bei mutmaßlichen Totenmedien - um zu verstehen, weshalb "A." den schlimmsten Schritt setzte, den sich Angehörige vorstellen können.

Der Schreibstil des Autors ist emotional direkt, er verheimlicht nichts, geht offen mit Trauer, Selbstvorwürfen, Zweifeln und Anschuldigungen um. Die kurzen Kapitel ermöglichen immer wieder ein kurzen Innehalten. Bianchis Sprache ist in weiten Teilen literarisch beeindruckend und thematisch ergreifend. Er zeigt auf, dass es für die Hinterbliebenen unmöglich ist, den Suizid zu fassen, geschweige den zu verstehen und dass es ein langer Prozess des langsamen Heilens ist. Zudem wird aufgezeigt, dass sich in den letzten 25 Jahren gesellschaftlich auch etwas getan hat - war das Thema Suizid lange Zeit tabuisiert, erhält es langsam mehr Aufmerksamkeit und es beginnt die Möglichkeit, offen darüber zu sprechen, auch wenn eine endgültige Endtabuisierung noch nicht in Sicht ist.

Bianchi gibt Hoffnung, dass "Überlebende", wie er die Hinterbliebenen nennt, auch heilen und die Trauer überwinden können, auch wenn der Weg beschwerlich ist und die hinterlassene Lücke niemals geschlossen werden kann. Der Autor hat immer wieder das Gespräch mit anderen Betroffenen und Expert:innen gesucht, um zu verstehen, weshalb Menschen ihr Leben beenden und wie den Hinterbliebenen geholfen werden kann. Besonders zum Ende hin - hier steigt die Erzählperspektive aus der Emotion in die Sachlichkeit - vermittelt er Zuversicht, dass der schmerzhafte Trauerprozess schlussendlich ein Ende finden kann.

Mein Fazit: "Von dem, der bleibt" ist ein höchst berührendes, emotionales Buch über die Trauer eines Hinterbliebenen nach einem Suizid, dass nachvollziehen lässt, wie der Kreis des Trauerns - mit all seinen düsteren Facetten - funktioniert und wie er schließlich auch durchbrochen werden kann. Eine absolute Leseempfehlung für alle Betroffenen, um Hoffnung zu schöpfen und alle Interessierten, die sich auf eine emotionale und glaubhafte Aufarbeitung einlassen können.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 02.12.2024

Eine umgekehrte Welt

White Lives Matter
0

In "White Lives Matter" finden sich die Leser:innen in einer umgekehrten Welt wieder: Menschen mit weißer Hautfarbe sind die Unterdrückten, wohingegen die schwarze Gesellschaft rassistische Unterdrückung ...

In "White Lives Matter" finden sich die Leser:innen in einer umgekehrten Welt wieder: Menschen mit weißer Hautfarbe sind die Unterdrückten, wohingegen die schwarze Gesellschaft rassistische Unterdrückung ausübt. Hauptprotagonistin ist die junge Studentin Anna, die es als eine der wenigen geschafft hat, an der Uni studieren zu können. Mit außerordentlichen Eifer treibt sie ihr Geschichtestudium voran, um gesellschaftliche Anerkennung zu erlangen. Einer ihrer Professoren bittet sie, eine Hausarbeit über die Unterdrückung der Weißen zu schreiben und akribisch, wenn auch mit anfänglichen Widerwillen, beginnt sie zu recherchieren, stößt immer wieder auf fatale Geschichten einzelner, die aufgrund der kolonialen Unterdrückung ihr Leben lassen mussten. Schnell erkennt sie, dass diese Geschichte der Unterdrückung bislang in der Forschung kaum beleuchtet wurde, was ihren Forscher:innenergeiz vorantreibt. Bis ein schrecklicher Vorfall ihr einen geliebten Menschen entreißt und sie zur Mitbegründerin von "White Lives Matter" macht.
Das Gedankenexperiment, das Jasmina Kuhnke zu wagen versucht, ist großartig - wie fühlt es sich an, zum unterdrückten Teil der Gesellschaft zu gehören, was macht das mit den Leser:innen, wenn plötzlich Weiße diskriminiert, gefoltert, aufs grausamste zur Schau gestellt und getötet und grundsätzlich als minderwertige, ja teils animalische Menschen behandelt werden? Was macht das mit einer/m, den Rassismus umzukehren? In "White Lives Matter" ist die Welt und deren Geschichte umgekehrt, Schwarze sind hier die herrschenden Eliten. Die Autorin ersetzt einfach schwarz gegen weiß, lässt aber jegliche geografische Verordnung außen vor. Lediglich "Norden" und "Süden" dienen als geografische Orientierung. In kurzen Blitzlichtern wird in die Vergangenheit geblickt und beschrieben, wie Weiße auf bestialische Art zu Tode kamen, meist durch die Hand ihrer Unterdrücker, auf alle Fälle aber mit deren Zutun. 
Die Hauptprotagonistin Anna versucht es allen recht zu machen, versucht nicht aufzufallen und glaubt anfangs mit Ehrgeiz und Unauffälligkeit weiterzukommen. Sie muss einiges an Diskriminierung aushalten, schluckt es, auch wenn es sie innerlich zerfrisst. In den ersten zwei Dritteln des Buches wirkt sie recht naiv. Ein besonderes Augenmerk wird auf ihr Verhältnis zu ihrem Bruder gelegt und hier reagiert Anna oft mit kindlichem Trotz auf Konflikte. Ihr Bruder, der die gesellschaftlichen Verhältnisse so nicht hinnehmen will, reagiert auf jede Diskriminierung mit Widerstand, etwas, was Anna falsch findet. Auch wenn sie sich im Verlauf des Buches emanzipiert, ist das meiner Meinungen einer der Schwachstellen in der Geschichte. 
Der Mann als Widerständiger und die Frau als jene, die alle Unterdrückung schluckt, ist ein Rollenbild, das lang tradiert wurde - und noch immer wird. Deshalb finde ich es auch sehr schade, dass Anna diese Rolle lange Zeit inne hat. Besonders im ersten Drittel erfahren wir viel von Annas (oft trotzigem) Innenleben, was aber im Laufe der Geschichte etwas abnimmt, das mich aber aufgrund der folgenden Ereignisse etwas verwundert. Grundsätzlich finde ich die Aufteilung des Romans etwas unausgewogen, erfahren wir im ersten Teil doch sehr viel über ihre Lebenssituation, wie es im Studium läuft, wie das Zusammenleben in der WG funktioniert (Anna ist hier die einzige Weiße), ein bisschen etwas über ihre Freundschaften und ihre Familie. Das einschneidende Erlebnis, bei dem ein ihr geliebter Mensch stirbt und der darauffolgende Widerstand gegen die Unterdrückungsverhältnisse und das System werden relativ rasch abgehandelt. Ein weiterer Kritikpunkt meinerseits ist zudem, dass beschrieben wird, wie Anna zur Geschichte der Unterdrückung recherchiert - als Studentin der Geschichtswissenschaft - und hier passieren die Einschübe aus der Vergangenheit, bei denen jeweils eine Geschichte des Zutodekommens einer weißen Person beschrieben wird. Danach folgt die Beschreibung, wie Anna das gerade Recherchierte aufnimmt. Das ist für mich etwas unglaubwürdig, denn es wird nicht erklärt, welche Quellen Anna hier verwendet hat - vermutlich auch deshalb, weil es dazu keine gegeben haben könnte, denn die Geschichte der Unterdrückten wurden so gut wie nie aus ihrer eigenen Perspektive festgehalten, sondern wenn dann aus der Sicht der Unterdrücker.
Mein Fazit: "White Lives Matter" ist ein Roman, der die Welt der Unterdrückung aus einer fiktiven Umkehr der Machtverhältnisse erzählt. Die Idee ist großartig, kann sie doch den Unterdrückenden einen Spiegel vor Augen halten. Leider hat mich jedoch die Umsetzung nicht wirklich überzeugt, ist die Hauptprotagonistin doch sehr im patriarchalen Rollbild gezeichnet. Außerdem wirkte für mich die Geschichte und deren Erzählweise an Geschehnissen etwas unausgewogen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere