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Veröffentlicht am 11.04.2023

Wildnis neu denken

Wildnis
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Wenn wir heute daran denken was "Wildnis" für uns ist, denken wir vielleicht an die Savannen Afrikas mit Elefant, Nashorn und co. Oder wir haben die schier endlos-grünen, ausgedehnten Weiten Kanadas vor ...

Wenn wir heute daran denken was "Wildnis" für uns ist, denken wir vielleicht an die Savannen Afrikas mit Elefant, Nashorn und co. Oder wir haben die schier endlos-grünen, ausgedehnten Weiten Kanadas vor Augen, die von Elchen durchwandert werden und in denen sich wilde Flüsse ihren Weg durchs Land bahnen. Aber garantiert haben wir keine deutsche Weide im Sinn, auf der domestizierte Rinder und Pferde gemütlich vor sich hin grasen. Das ist wohl so ziemlich das Gegenteil von dem, was wir eigentlich mit 'wild' assoziieren.

Doch Jan Haft, Biologe und Naturfilmer, verschiebt den Begriff "Wildnis" in seinem Sachbuch in eben genau diese Richtung und plädiert dafür, auf sogenannten 'Wilden Weiden' wieder große Säugetiere (also etwa Rinder und Pferde) für ein vielfältiges Ökosystem grasen zu lassen. Wie das gehen soll? Naja, eine Rückkehr zu den Bewirtschaftungsmethoden unserer Vorfahren sozusagen, als Ackerland tatsächlich noch mit Tieren beackert wurde. Denn nicht nur Klima und Boden sind an einem intakten Ökosystem und einer funktionierenden, klimagerechten Umwelt beteiligt, sondern auch die bloße Anwesenheit großer Huf- und Säugetiere setzt symbiotische Prozesse in Gang, aus denen vielfältige und stabile Ökosysteme resultieren.
Den Garanten für erfolgreichen Naturschutz heute sieht Jan Haft in der Nutzung großer Weidetiere als Landschaftspfleger; Sie halten Büsche und Gehölze kurz, Ebenen offen, lassen Licht und Wärme durch und geben der Vegetation ihren Raum. Denn entgegen dem allgemeinen Glauben an die Vorherrschaft des schattig-feuchten deutschen Waldes sind die meisten hier anzutreffenden Arten solche, die eine sonnige und warm-trockene Umgebungen präferieren. Zusätzlich speichern eben solche Weidelandschaften aus nachhaltiger Sicht weitaus mehr CO2 als unsere Wälder, in welchen das Treibhausgas nur befristet gebunden ist - und bieten im Gegensatz zu den Wäldern mit relativ kleiner Artenvielfalt ein viel breiteres Spektrum an Biodiversität. Haft geht sogar so weit zu sagen, dass Weiden beinah allen Lebewesen der Roten Liste einen Lebensraum bieten könnten - wenn wir es denn nur zulassen würden.

Die Wildnis ist vor allem im heutigen, verhältnismäßig dicht besiedelten Europa ein unerreichbarer Sehnsuchtsort geworden, doch mit Hilfe einer neuen Definition jener kann eine "neue Wildnis" auferstehen. Dazu ruft Haft auf und inspiriert uns, neues zu wagen, indem wir unser alteingesessenes Verständnis vom Wilden umdenken und einen neuen Umgang mit der Natur finden. Das Buch gibt dabei spannende und frische Ansätze zum Thema Natur- und Klimaschutz, kritisiert anschaulich die strenge und nicht mehr zeitgemäße Zweiteilung der Landschaft in Forst- und Weideland und ist ein Mutmacher, Schutzgebiete mit der Hilfe von Weidehaltung umzugestalten. "Wildnis. Unser Traum von unberührter Natur" ist ein knapp 140 Seiten langer Essay in laienverständlicher Sprache, der nicht nur Wissenschaft verständlich macht, sondern diese auch sehr angenehm mit persönlichen Beobachtungen kombiniert und thematisch neue Wege in eine lebenswerte Zukunft weisen kann.

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Veröffentlicht am 26.03.2023

Highlight

Zeit der Schuld
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Delhi in den frühen Morgenstunden. Plötzlich rast ein Mercedes auf den Bordstein und reißt fünf schlafende Obdachlose in den Tod. Einziger Überlebender ist der mutmaßliche Fahrer des Wagens: Ajay, ein ...

Delhi in den frühen Morgenstunden. Plötzlich rast ein Mercedes auf den Bordstein und reißt fünf schlafende Obdachlose in den Tod. Einziger Überlebender ist der mutmaßliche Fahrer des Wagens: Ajay, ein Dienstbote im Hause des Wadia-Clans. Was fortan erzählt wird, ist Ajays Geschichte. Als Kastenloser, im armen, ländlichen Teil Nordindiens geboren, wird er von seiner Mutter an ein kinderloses Pärchen am Fuße des Himalayas verkauft. Durch eine lebensweisende Begegnung macht er schon bald Bekanntschaft mit Sunny, einem Sprössling des mächtigen Wadia-Clans. Sunnys Leben ist geprägt von Korruption, Gewalt, Drogen- und Alkoholexzessen. Aufgrund seiner hingebungsvollen sowie besonnenen Art wird Ajay schnell zu Sunnys persönlichem Dienstboten berufen und taucht dabei nicht nur in die Welt der delhi'schen VIP's und indischen Gangster ein, sondern erlebt auch hautnah eine von Korruption und Verbrechen geprägte Welt - in der er fortan mehr als nur einmal für seinen Dienstherrn den Kopf hinhält.

Kapoors Roman spielt im modernen Indien und thematisiert nicht nur das Gangsterleben, sondern ebenfalls das Modernisierungsstreben, das häufig zu Lasten der ländlichen, ärmeren Klassen bzw. niederen Kasten geht und beleuchtet dieses kritisch. Komplexe, sehr ausdefinierte Charaktere mit ganz eigenen Lastern bilden zudem das solide Grundgerüst für diesen wirklich sehr guten Roman. Sunny will sich von seiner Familie lösen, doch zugleich genießt er den Reichtum und die Machtposition seiner Familie, die er doch nicht missen möchte und - in Unvereinbarkeit mit seinem Lebensstil - auch gar nicht kann. Neben Sunny sind alle anderen, mal mehr mal weniger präsenten Protagonisten in ihren Wesen sehr ambivalent aufgebaut. Sie sind raue Charaktere mit vorherbestimmen Lebenswegen - aber authentisch und trotz ihrer jeweiligen Eigenheiten und Verderbtheit ein großes Stück weit Zuneigung erregend und herzgewinnend.

Als dritte Protagonistin taucht irgendwann dann eine Frau namens Neda im Leben der beiden Männer auf. Sie ist Journalistin und wird bald schon zur Liebhaberin von Sunny und zum Teil auch zum moralischen Kompass seiner verquerten Machenschaften. Alle drei bilden fortan ein ziemlich verquirltes Trio in schicksalhafter Verbundenheit; drei Menschen aus dreierlei Lebenswelten und Umfeldern, deren Realitäten aber allesamt vom Clanleben überschattet wird.

Allerlei Intrigen, Nebengeschichten und Wendungen führen zu vielen actionreichen Szenen und einer griffigen, manchmal chaotischen und sehr rasanten Handlung mit ständigem Spannungsbogen. Mit einer schmutzigen, rabiaten Welt und mitunter viel Brutalität und menschlichen Abgründen hat "Zeit der Schuld" mich mit Begeisterung ins Gangster-Paradis Indiens abtauchen lassen. Das schnelle Erzähltempo hat mich komplett gefesselt und das 700-Seiten starke Buch hab ich innerhalb weniger Tage durchgesuchtet. Große Leseempfehlung, ein Highlight!

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Veröffentlicht am 22.03.2023

Highlight

Der weiße Fels
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"Der weiße Fels" ist für mich bisher das größte buchige Highlight des Frühjahrs. Die Autorin Anna Hope (bekannt durch "Was wir sind") erzählt in ihrem druckfrischem Roman von vier Personen verschiedener ...

"Der weiße Fels" ist für mich bisher das größte buchige Highlight des Frühjahrs. Die Autorin Anna Hope (bekannt durch "Was wir sind") erzählt in ihrem druckfrischem Roman von vier Personen verschiedener Zeiten, deren geographische Verbindung ein sakraler, weißer Felsen vor der Pazifikküste Mexikos ist.

Zuerst folgen wir einer Schriftstellerin, die mit Mann, Tochter und einer kleinen internationalen Gruppe zum heiligen Felsen pilgert und am dortigen Strand für die Geburt ihrer Tochter eine Opfergabe ins Meer setzen will - und zwar genau dann, als das Wörtchen "Corona" immer mehr Menschen zum Begriff wird. Dann: The Doors-Frontman Jim Morrison himself, der in der mexikanischen Abgeschiedenheit versucht seinem Ruhm zu entkommen und eine rauschhafte Nacht im kleinen Küstenstädtchen am Felsen durchtorkelt. Noch 60 Jahre weiter zurück in der Zeit erleben wir, wie zwei Yeome-Schwestern gewaltsam ihrem Land entrissen werden und auf ihrer Verschleppung per Schiff in die Sklaverei an jenem weißen Felsen Halt machen. Und zuguterletzt verfolgen wir den Tag eines spanischen Kapitänslieutnanten des späten 18. Jahrhunderts, welcher vom weißen Felsen aus auf Entdeckungs- und Missionierungsfahrt in die nördlichen Längengrade in See stechen will.

Inspiriert von wahren Ereignissen erzählt Anna Hope in vier Jahrhunderten von grundverschiedenen Menschen, deren Schicksal sie früher oder später in ihrem Leben aus ganz verschiedenen Gründen an jenen brandungsumtobten Felsen im Meer führt. Ich habe mich gut durch die einzelnen Geschichten tragen lassen, die Sprache war bildgewaltig und ruhig, zu einem Teil poetisch und zum anderen Teil abstrakt, ab und an auch spirituell.
Das Buch ist keines für jene, die eine auserzählte Geschichte suchen. Die Fäden der Erzählstränge sind wenn überhaupt nur vage miteinander verknüpft, die Leben der Protagonisten nur knapp und ausschnitthaft dargestellt. Doch ich fand die Personen trotz dessen greifbar, das Buch bewegend, in sich stimmig und sehr besonders.

Ich hab's wirklich gern gelesen mit dem einzigen Kritikpunkt, dass es gern noch länger hätte sein können!

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Veröffentlicht am 12.03.2023

Gott ist tot

Lapvona
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Die Handlung Lapvonas spielt inmitten einer augenscheinlich mittelalterlichen Gemeinschaft frommer Bauern und zieht sich über 5 wahrlich grausame Jahreszeiten hinweg. Die Bewohner bewirtschaften ihre Felder ...

Die Handlung Lapvonas spielt inmitten einer augenscheinlich mittelalterlichen Gemeinschaft frommer Bauern und zieht sich über 5 wahrlich grausame Jahreszeiten hinweg. Die Bewohner bewirtschaften ihre Felder und leben ein einfaches Leben, während ihr korrupter und schamloser Herrscher in seinem Schloss dem schönen Leben in Überfluss frönt. Durch tragische Umstände fällt der Protagonist Marek, Sohn eines armen Hirten, ganz plötzlich in den Genuss unermesslichen Reichtums, als der Herrscher Lapvonas ihn nach Tod seines eigenen Sohnes zum Ersatzerben bestimmt. Mareks Varer lässt ihn nur zu gern gehen - immerhin ist Marek ein missgestalteter Bastard und so hässlich, dass nicht mal er ihn anschauen will. Doch der Tod des rechtmäßigen Prinzen bringt scheinbar übernatürliche Konsequenzen mit sich: es fällt kein Regen mehr, die wenigen überlebenden Dorfbewohner ziehen sich an die letzte Wasserquelle zurück, wo sie sich von Insekten und Tierexkrementen ernähren. Die Bauerngemeinschaft ist im Umschwung, während im dekandenten Herrschaftssitz eine Jungfrau ein Kind erwartet.

Lapnova ist ein Fall von exzessiv derber und morbider Gore-Literatur, ausgestattet mit Kannibalismus, Folter, Missbrauch und Ansätzen von Pädophilie. Moshfeghs Werk ist ein schauerliches, abscheuliches, ja brutales Stück Text, welcher vom Leser einen starken Magen fordert. Die Protagonisten und alle Randpersonen sind in ihren Charaktern absolut Eigen und der Eine verstörender als der Andere.

Moshfegh schreibt erbarmungslos direkt über die hässlichen Seiten der Menschen, doch bearbeitet dabei Themen wie Klasse, Religion, Macht und Gier in überraschend auf die moderne Welt anwendbarer Manier. Mit meisterhaftem Können schafft sie aus historischer Fiktion eine realistische Fantasiewelt, die sich in Anspielung auf heutige hierarchiche Systeme und Herrschaftsprinzipien zweifelsfrei spannend analysieren lassen würde. Sehr beklemmend und die Grenzen des Ekels häufig und meilenweit überschreitend, hat Moshfegh ein makaberes Spektakel erschaffen, bei dem sich immer wieder alles in einem zusammenzieht, aber von dem man sich trotzdem nicht lösen kann. Ein völlig seltsamer, chaotischer Roman, in dem mir persönlich leider doch zu Vieles nicht aufgeklärt wurde - der mich aber trotzdem unheimlich gut unterhalten hat!

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Veröffentlicht am 05.03.2023

Sehr unterhaltende Lektüre

Morgen, morgen und wieder morgen
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Was bleibt mir noch zu sagen, was nicht schon so oft geschrieben worden ist. Gefühlt haben das Buch ja schon alle gelesen, auf den Inhalt brauche ich also nicht mehr groß einzugehen. Es geht um die drei ...

Was bleibt mir noch zu sagen, was nicht schon so oft geschrieben worden ist. Gefühlt haben das Buch ja schon alle gelesen, auf den Inhalt brauche ich also nicht mehr groß einzugehen. Es geht um die drei Jugendfreunde Sadie, Sam und Marx, die seit den 90er Jahren zusammen Videogames entwickeln und damit ziemlich schnell auch internationale Erfolge feiern können. Ihre Freundschaft, samt ihrer Höhen und Tiefen, begleiten wir dabei über die Jahrzehnte hinweg. Für viele ist das Buch ein Highlight und eigentlich bleibt auch mir nicht viel mehr, als mich den vielen positiven Stimmen anzuschließen. Die Handlung war vielschichtig und ausgefeilt, Erzählstränge waren perfekt miteinander verknüpft und alles insgesamt sehr mitreißend und bewegend erzählt. Die Protagonisten waren zwar nicht durchgehend sympathisch, haben jedoch allesamt gute Entwicklungen durchgemacht, die vor allem aber auch durchweg nachvollziehbar waren. Die drei Freunde und ihre Weggefährten waren tiefgreifend unterfüttert und ich konnte mich mit ihnen identifizieren. Plus: das Buch hat in mir die Sehnsucht entwickelt, die von den Freunden programmierten Games zu zocken, und das obwohl ich mit Videospielen eigentlich wenig bis gar nichts anfangen kann. Das lag vor allem mit daran, dass neben der realen Welt auch die virtuellen Spielwelten unglaublich detailliert und bildhaft beschrieben waren; die Handlungen der Spiele waren tiefgründig sowie moralisch untermalt und allgemein sehr clever durchdacht. Der Schreibstil war einfach und flott zu lesen, aber dafür nicht weniger mitreißend. Ein sehr, sehr unterhaltsames Buch, das mich quasi rundum begeistert hat!

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