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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 31.03.2022

Sehr sonderbar!

Die nicht sterben
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Wow was war das denn? Es fällt mir tatsächlich sehr schwer, hier die Handlung zu umreißen, aber Transsilvanien und Dracula sind wohl ein ganz passender Anfang. Denn man könnte wohl sagen, der Dracula-Mythos ...

Wow was war das denn? Es fällt mir tatsächlich sehr schwer, hier die Handlung zu umreißen, aber Transsilvanien und Dracula sind wohl ein ganz passender Anfang. Denn man könnte wohl sagen, der Dracula-Mythos spielt in diesem Roman die Hauptrolle.

Eine durchweg namenlose Ich-Erzählerin kehrt an den Ort ihrer Kindheit zurück, der ebenfalls keinen Namen trägt und lediglich mit dem Buchstaben "B" umschrieben wird. In dieser Kleinstadt, irgendwo in der Walachai am Rande zu Transsilvanien, treffen sich Verwandte und Freunde nach langer Zeit wieder, genießen das Leben in großbürgerlicher Sitte/Manier. Als sich beim Wandern ein Unfall mit Todesfolge ereignet, kommt es zum Knackpunkt, ab welchem das Buch an Fahrt aufnimmt und die Handlung richtig durchdreht: Beim Öffnen der Familiengruft wird ein Toter gefunden, der Erinnerungen an die Foltermethoden von Vlad den Pfähler weckt - jenem spätmittelalterlichen Fürsten, der in der heutigen Popkultur wohl fest mit dem Namen Dracula verankert ist.
Als sich dann auch noch herausstellt, dass Vlad der Pfähler himself in eben dieser Gruft liegt und der Ahnenkette der Erzählerin angehört - naja, ihr könnt es euch vorstellen, was das für eine Kleinstadt bedeutet: da geht natürlich ganz schön die Post ab.

Grigorcea schreibt mit "Die nicht sterben" keinen blutrünstigen Vampirroman oder etwa einen modernen Dracula nach Vorbild Bram Strokers. Sondern sie baut Merkmale des Schauerromans in eine rumänische Orts- und Familiengeschichte ein, schreibt über das postkommunistische Land und dessen Gesellschaft, über Klassenunterschiede, das "in der alten Zeit festhängen" und die Perpektivlosigkeit des Gegenwärtigen. Natürlich mokiert man sich auch hier über den Dracula-Hype des Westens, doch wenn die Chance besteht mit dem alten Mythos selbst Geld scheffeln zu können, sagt man halt auch nicht nein. Nur die Touristen will man hier auch nicht unbedingt haben - außer vielleicht im zügig entstehenden Dracula-Themenpark.

Ich fands leider streckenweise verwirrend und relativ schwierig durchzublicken, zwischendurch wurde auch gerne mit lateinischen Phrasen rumgeworfen, die man auch gerne irgendwo für Leute ohne Latinum hätte übersetzen können. Es hat mich aber doch ziemlich gefesselt, war sehr träumerisch, phantastisch angehaucht und hat mich sehr gut unterhalten. "Die nicht sterben" ist nicht nur ein Buch, welches die Dracula-Legende quasi wieder auferleben lässt, sondern ist ein doch ziemlich anspruchsvoller, aber auch skurriler Roman über eine altrumänische Historie, der auch auf der Longslist zum letztjährigen Buchpreis stand. Geschichte mal anders!
 

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Veröffentlicht am 30.03.2022

Klischee und Kitsch

Offene See
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Ort: ein altes, uriges Cottage mit Blick auf die raue See, umgeben von blumigduftenden, wildromantischen Wiesen, dazu ein halbverfallenes Atelier im Garten.

Stimmung: laue Sommerabende mit Wein, erstklassigen ...

Ort: ein altes, uriges Cottage mit Blick auf die raue See, umgeben von blumigduftenden, wildromantischen Wiesen, dazu ein halbverfallenes Atelier im Garten.

Stimmung: laue Sommerabende mit Wein, erstklassigen Speisen und tiefgründigen Gesprächen über Literatur, insbesondere über Poesie.

Protagonisten:
Robert - ein armer Arbeiterjunge auf Wanderschaft, der seinem Schicksal im Bergwerk entfliehen möchte und der das Meer sehen will. Irgendwo in den Hügeln Nordenglands trifft er auf:
Dulcie - eine Lebefrau und Genießerin, unglaublich poetisch und ach so klug, predigt dem jungen Robert ununterlassen ihr Motto vor: Carpe Diem.

Handlung: Robert findet beim Restaurieren des Ateliers unter Dielen einen gutversteckten Gedichtsband, und gemeinsam begeben er und Dulcie sich auf eine literarische Reise in die Vergangenheit.

Puh, ich mochte echt gar nichts an dem Buch. Dulcie war für mich einfach eine überhebliche Besserwisserin, altklug und einfach nur unsympathisch, nervig. Robert blieb mir komplett fremd, spielt eine ziemlich devote und komplett unnahbare Rolle für einen Protagonisten.
Sprachlich hat es mich besonders genervt. Auch, wenn es zwischendurch mal nette Umschreibungen gab: es war mir von allem zu viel, zu gewollt schön, zu perfekt ausformuliert, zu ausgeknobelt, zu ausschweifend. Ich weiß, very unpopular opinion, aber für mich ein komplett zu Unrecht gelobtes Buch, das in einer perfekten Welt angesiedelt ist (natürlich mit Happy End, wie könnte es auch anders sein?) und das hauptsächlich unter dem folgendem Motto spielt: "lebe dein Leben, denn zum Leben ist es ja da".

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Veröffentlicht am 27.03.2022

Die jüngste Tochter

Die jüngste Tochter
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Gleich der Autorin heißt die innerlich zerrissene Protagonistin in Fatima Daas autofiktionalem Debütroman "Die jüngste Tochter". Sie ist Französin mit algerischem Background und die Jüngste dreier Töchter. ...

Gleich der Autorin heißt die innerlich zerrissene Protagonistin in Fatima Daas autofiktionalem Debütroman "Die jüngste Tochter". Sie ist Französin mit algerischem Background und die Jüngste dreier Töchter. Fatima wächst im Pariser Banlieue Clichy-sous-Bois auf, ist praktizierende Muslima und angehende Autorin, doch sie hadert immer wieder mit ihrer Rolle im streng islamischen Weltbild ihrer Familie; Unter anderem liebt sie Frauen, ist sogar polyamorös - und sündigt aus islamischer Sicht damit gleich doppelt. Also versucht sie sich mit äußerlichen Zuschreibungen und Erwartungshaltungen Anderer zu identifizieren, traut sich nicht so richtig, zu sich selbst zu stehen. Und so versteckt Fatima ihre eigene Identität unter einem schützenden Gerüst aus Lügen, und versucht zeitgleich den Grat einer guten Tochter und einer selbstbestimmten Frau zu überwinden.

Ich machs kurz, ich habs in einem Rutsch gelesen und geliebt, der sehr originelle, repetive Schreibstil ist klar und flott zu lesen, entwickelt einen tollen Rhythmus und einen unheimlichen Sog. Das Buch, aus dem französischen von Sina de Malafosse übersetzt, wurde 2021 zurecht mit dem Internationalen Literaturpreis ausgezeichnet. Fatima Daas erzählt von Einer, die zwischen den Stühlen sitzt. Einer, die sich im Spannungsfeld islamischer Zugehörigkeit und dem Streben nach Selbstverwirklichung befindet. Einer, die mit dem Spagat zwischen Identität, Herkunft und religiöser Moralvorstellungen zu kämpfen hat. Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 20.03.2022

Macht und Begehren

BÄR
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"Oh Bär [...], wir sind ein lustiges Pärchen." (S. 93)

"Bär" erzählt die Geschichte einer Frau, die das Haus eines verstorbenen Colonels im Norden Kanadas bezieht. Im Auftrag ihres Instituts untersucht ...

"Oh Bär [...], wir sind ein lustiges Pärchen." (S. 93)

"Bär" erzählt die Geschichte einer Frau, die das Haus eines verstorbenen Colonels im Norden Kanadas bezieht. Im Auftrag ihres Instituts untersucht Lou dessen Nachlass, katalogisiert sie die dortige, außergewöhnlich gut bestückte Bibliothek und soll dabei herausfinden, ob sich Aufschlüsse zur Siedlungsgeschichte der Region finden lassen. Da das Haus abgeschieden auf einer einsamen Insel liegt, handelt es sich bei dem einzigen Lebewesen, dem sie sich sowohl körperlich als auch psychisch annähern kann, ein im Schuppen hinterm Haus lebender Bär. Und zwar ein angeketteter, sehr handzahmer Bär.
Im Laufe des Sommers entwickelt sich so auch eine sexuelle Beziehung zwischen Lou und dem eigentlich wilden, aber faszinierenden Geschöpf, und wird zu einem Machtspiel zwischen Mensch und Tier.

Lou, selbst von einem Mann verlassen und als Schreibtischaffäre ihres Institutsdirektors, projiziert ihre eigenen Gefühle auf den Bären, geht mit ihm schwimmen und macht sich ihn körperlich zu eigen. Das Buch, bereits 1976 erschienen und jetzt neu aufgelegt, behandelt das ziemlich unbequeme Thema der Zoophilie und macht auch den Leser zum Voyeur teils detailgetreuer Schilderungen. Ein außergewöhnliches Leseerlebnis, das über persönliche Grenzen geht und harter Tobak ist.
Am Ende befindet sich ein sehr gutes Nachwort der Autorin Kristine Bilkau, welches sich dem Text aus literaturwissenschaftlicher Sicht mit Referenzen zu u.a. Virginia Woolf und Marlen Haushofer nähert, feministische Denkanstöße gibt und auch Überschneidungen zur Popkultur anspricht. Hier kann man auch sicher selbst noch viel interessante Forschung am Text betreiben. Das Nachwort hat nochmal guten Input gegeben und wirklich viele interessante Interpretationsansätze geliefert, welche die eigentliche Story gut ergänzt und perfekt abgerundet haben.

Und ja, auch wenn ich mich in der Story nicht wirklich wohl gefühlt habe, überwiegten Neugier und Interesse am Weiterlesen wie in einem Fiebertraum ohne Entrinnen. Somit ist "Bär" für mich ein kleines Frühjahreshighlight über Begehren, Macht und Freiheit, das ich bestimmt noch mehrmals Lesen werde und wirklich jedem empfehlen möchte!

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Veröffentlicht am 16.03.2022

Lesenswert

Aufruhr der Meerestiere
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Luise ist 32 und promovierte Meeresbiologin. Ihr Spezialgebiet ist die Meerwalnuss: eine Rippenqualle, die sich in den Meeren der Welt ausbreitet und welche als sogenannte Invasive Art für so manchen Wirbel ...

Luise ist 32 und promovierte Meeresbiologin. Ihr Spezialgebiet ist die Meerwalnuss: eine Rippenqualle, die sich in den Meeren der Welt ausbreitet und welche als sogenannte Invasive Art für so manchen Wirbel in den Ozeanen sorgt. Luise soll für einige Zeit beruflich von Kiel nach Graz reisen, um an einem Projekt des örtlichen Tierparks mitzuwirken. Doch Graz ist mehr als eine von vielen beruflichen Zwischenstationen in ihrem Leben, denn Graz ist ihre Heimatstadt, Erinnerung an die eigene Kindheit und Ort einer entrückten Vergangenheit. Luise bezieht die Wohnung ihres Vaters, der gerade in Nürnberg bei ihrem Bruder ist. Die familiären Beziehungen sind schwierig, stets vorwurfsvoll und geprägt von einer immerwährenden Sprachlosigkeit. Nebenbei kämpft Luise mit einer Essstörung , fühlt sich einsam und hängt in einem Schwebezustand zwischen Gegenwart und Gedanken an die Vergangenheit fest, versucht sich ihrer Kindheit zu stellen und das Leben irgendwie zu managen.

Gamillscheg schreibt in einer facettenreichen Sprache - nicht immer unbedingt einfach zu lesen, aber herausfordernd und insgesamt doch bemerkenswert ruhig. Vieles wird angedeutet, aber nicht immer ganz auserzählt. So wird der Leser oft in der Schwebe gelassen, was Luise uns wirklich von sich erzählen will, und es bleibt so manche Interpretation offen.
Insgesamt handelt es sich bei "Aufruhr der Meerestiere" um einem guten, vielschichtigen Roman mit teilweise durchaus auch emanzipatorischen Zügen über eine Frau, die immer noch in familiären Kreisen eingeengt ist und ihre Fesseln aufbrechen will. Die sich in die Arbeit stürzt und bis auf den Boden ihrer Identität vordringt. Kein easy-read, aber ein durchaus lesenswerter Entwicklungsroman einer erwachsenen Frau.

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