"Die Inselschwimmerin" - aufwühlend wie das Meer
Die Inselschwimmerin„Die Inselschwimmerin“ ist das Romandebüt der britischen Journalistin und Fernsehmoderatorin Lorraine Kelly. Nach mehreren Sachbüchern wagt sie sich hier erstmals an fiktionale Literatur – und das mit ...
„Die Inselschwimmerin“ ist das Romandebüt der britischen Journalistin und Fernsehmoderatorin Lorraine Kelly. Nach mehreren Sachbüchern wagt sie sich hier erstmals an fiktionale Literatur – und das mit spürbarer Leidenschaft für das Setting: die Orkneyinseln, in die sie sich laut eigenen Aussagen bereits vor Jahrzehnten verliebt hat.
Im Zentrum der Geschichte steht Evie, eine Frau mittleren Alters, die vor zwanzig Jahren plötzlich und ohne Erklärung ihre Heimat – die rauen, windumtosten Orkneys – verlassen und sich in London ein neues Leben aufgebaut hat. Der Grund für ihre abrupte Flucht liegt tief vergraben in ihrer Vergangenheit, ein gut gehütetes Geheimnis, über das sie nie gesprochen hat – weder mit ihrer Familie, zu der sie jeden Kontakt abgebrochen hat, noch mit ihrer einzigen verbliebenen Freundin Freya. Auch Freya weiß bis heute nicht, warum Evie damals gegangen ist. Als Freya ihr mitteilt, dass Evies Vater im Sterben liegt, ringt sich Evie dazu durch, in ihre Heimat zurückzukehren – allerdings kommt sie zu spät, um sich mit ihm auszusöhnen. Dennoch wird ihre Rückkehr zum Ausgangspunkt einer schmerzhaften, aber notwendigen Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit. Evie beschließt, sich endlich ihrer Geschichte zu stellen und das lang verdrängte Kapitel ihres Lebens aufzuarbeiten.
Besonders gelungen ist meiner Meinung nach die Erzählstruktur des Romans: Die Handlung entfaltet sich auf mehreren Zeitebenen. Neben der Gegenwart im Jahr 2024 gibt es Rückblenden in die 1960er Jahre, in denen wir miterleben, wie sich Evies Eltern kennenlernen und eine Familie gründen, sowie ins Jahr 2004, dem Zeitpunkt von Evies Flucht. Lorraine Kelly versteht es bemerkenswert gut – und das gerade für ein Erstlingswerk – diese verschiedenen Zeitstränge kunstvoll miteinander zu verweben. Wie Puzzlestücke fügen sich die Ereignisse allmählich zu einem stimmigen Gesamtbild zusammen. Diese Art der Erzählweise entwickelt einen regelrechten Sog und sorgt dafür, dass man das Buch kaum aus der Hand legen möchte – man möchte ständig wissen, wie alles zusammenhängt und was als Nächstes passiert.
Was dieses Buch zudem für mich besonders lesenswert macht, ist die Vielzahl an vielschichtigen, teils widersprüchlichen Charakteren. Einige wachsen einem schnell ans Herz, andere wirken befremdlich oder gar abstoßend – nicht selten tun sich dabei menschliche Abgründe auf. Doch gerade diese Mischung sorgt für Spannung und emotionale Tiefe.
Auch thematisch hat der Roman einiges zu bieten: Trauer, familiäre Konflikte, Versöhnung, unerfüllter Kinderwunsch, Suchtproblematik, Krankheit, Freundschaft, Verlust, Schuld, Erpressung und Trauma sind nur einige der Themen, die sensibel und glaubwürdig in die Handlung eingebettet werden. Trotz dieser thematischen Fülle wirkt die Geschichte nie überladen – vielmehr ist es der Autorin gelungen, all diese Aspekte organisch miteinander zu verknüpfen.
Ein ganz besonderes Highlight ist jedoch die atmosphärische Beschreibung der Orkneyinseln. Die kargen, zugleich rauen und doch faszinierend schönen Landschaften, die Weite des Meeres, das wechselhafte Licht – all das wird mit so viel Liebe zum Detail und Sinn für Stimmung geschildert, dass beim Lesen fast automatisch Reiselust aufkommt. Man möchte selbst dorthin reisen, den Wind spüren, die Klippen sehen und in diese besondere Insellandschaft eintauchen.
Ein kleiner Kritikpunkt bleibt dennoch: Der deutsche Titel „Die Inselschwimmerin“ sowie der Klappentext erwecken Erwartungen, die der Roman nur bedingt erfüllt. Der Schwimmaspekt spielt eine eher untergeordnete Rolle und dient eher als symbolisches Motiv denn als zentrales Handlungselement. Dennoch hat dies bei mir das Lesevergnügen kaum geschmälert.
Insgesamt ist „Die Inselschwimmerin“ ein atmosphärisch dichter, berührender und klug konstruierter Roman, der mit emotionaler Tiefe, einem spannenden Erzählbogen und lebendigen Landschaftsbeschreibungen überzeugt. Für ein Debüt ein wirklich gelungenes Werk – mit dem Potenzial, Lesende nicht nur zu unterhalten, sondern auch nachhaltig zu berühren.