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Veröffentlicht am 01.04.2025

Kurzweilige Gartenlektüre

Der Schattengarten
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Christine steht im Garten und gießt Rhododendron. Er wächst spärlich, ganz anders, als sie es aus ihrer Kindheit gewohnt ist. Die Eltern reisten mit den Kindern um die Welt, weil der Vater Diplomat war. ...

Christine steht im Garten und gießt Rhododendron. Er wächst spärlich, ganz anders, als sie es aus ihrer Kindheit gewohnt ist. Die Eltern reisten mit den Kindern um die Welt, weil der Vater Diplomat war. Fast ihre ganze Kindheit verbrachte sie in London. An den Wochenenden gingen die Eltern mit ihnen in die umliegenden Parkanlagen. Dort versteckte sie sich in den Rhododendren mit den dunkelroten und violetten Blütendolden.

Christine lebt mit ihrem Mann Franz und den Kindern in Berlin. Sie haben keinen Balkon oder Garten. Es hat sie nie gestört, aber Franz anscheinend schon, denn er berichtet ihr euphorisch von einem Grundstück mitten im Wald auf einer lichtdurchfluteten Lichtung. Er möchte es erwerben, doch zuvor will er es Christine zeigen. Sie fahren eine halbe Stunde durch die Berliner Innenstadt, danach über diverse Schnellstraßen und eine öde Autobahnstrecke. Nach zweieinhalb Stunden sind sie im Harz. Der Weg zum Grundstück ist steil und beschwerlich. Mit dem Auto kommen sie nicht weit, deshalb folgen sie dem mit Brennnesseln überwucherten Schotterweg zu Fuß. Oben angekommen staunt Christine nicht schlecht. Die Brennnesseln haben auch auf der Lichtung die Herrschaft übernommen, zwei verfallene Holzhütten säumen die eine Grenze des Grundstücks und sonst weit und breit nichts außer Bäume. Birken, Eichen, Apfel, Fichten. Christine wehrt sich gegen den Erwerb dieser weit entfernten, abgelegenen Einöde und doch werden sie in Zukunft jedes verlängerte Wochenende dorthinfahren.

Fazit: Dieses kleine Büchlein ist das erste, das ich von Christine von Brühl lese. Hierin gibt sie Einblicke, wie sie aufgewachsen ist. Sie wehrt sich gegen das Grundstück, das ihr Mann in eine Oase zu verwandeln gedenkt, nicht nur weil sie handwerklich unbegabt ist, sondern auch weil sie von Pflanzen keine Ahnung hat. Tatsächlich scheint es auch mir als Leserin ganz und gar utopisch, ein so weit entferntes Stück Land nutzbar zu machen, doch wider aller Erwartungen gelingt es ihrem Mann. Nichtsdestotrotz dauert es Jahrzehnte und etliche Ereignisse, bis die Autorin seine Entscheidung nicht nur verstehen, sondern sogar bewundern kann. Mir war die gehobene Ausdrucksform (z. B. Herrschaften) manches Mal etwas drüber, aber ansonsten ist es eine kurzweilige Lektüre, an der es wenig auszusetzen gibt.

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Veröffentlicht am 01.04.2025

Zeiten des Eisernen Vorhangs

370m über NN
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Hana und Frederik sind seit vier Jahren ein Paar. Sie unterhalten ein Hostel in Holland, das ganz gut läuft. Hana ist Frederik schon seit einer Weile mit ihren Familiengeschichten auf die Nerven gegangen. ...

Hana und Frederik sind seit vier Jahren ein Paar. Sie unterhalten ein Hostel in Holland, das ganz gut läuft. Hana ist Frederik schon seit einer Weile mit ihren Familiengeschichten auf die Nerven gegangen. Jetzt ist er sie für die nächsten vier Wochen los. Sie ist auf dem Weg in ihr Heimatdorf, um Fragen zu klären, die sich ihr aufdrängen. Als erstes besucht sie ihren Vater, bei dem sie auch wohnen wird. Er war gerade erst an der Hüfte operiert worden.

Sie erkennt die Siedlung nicht wieder. Die grauen zehnstöckigen Plattenbauten sind Fassaden in gelb-grün-blauen Pastelltönen gewichen. In seiner Wohnung angekommen, hat sich allerdings gar nichts verändert. Der selbe abgestoßene Schuhschrank im Flur, die verblichenen Vorhänge im Wohnzimmer, die sie noch mit ihrer Mutter aufgehängt hat. Beim Abendessen spricht sie ihren Vater auf Honza an, den dritten auf ihrer Liste, den sie treffen will. Der Vater sitzt da wie versteinert. Er braucht eine Weile, bis er sie wissen lässt, dass er darüber auf keinen Fall reden wird.

Als erste trifft sie Milada, die sich freut, sie nach fünfzehn Jahren wiederzusehen. Milada redet ohne Unterlass und leiht ihr am Ende ihr Auto. Hana fährt zum alten Friedhof, ganz in der Nähe ihres Dorfes. Die zwei Kühltürme thronen über der Landschaft und strahlen Präsenz aus. Der Staudamm hat das Haus ihrer Familie verschluckt, ebenso die Schule, an der sie nach dem Referendariat unterrichten wollte und die Mühle. Auf dem Rückweg zum Auto trifft sie auf Konopka, der sie mit unverhohlener Feindlichkeit übergießt. Sie solle verschwinden, weil sie seinen Sohn an der Nase herumgeführt habe, nie in der Kirche war und sich Gott weiß wo herumgetrieben habe.

Fazit: Jirí Hájícek hat eine Geschichte erzählt, die tief in die sozialistische Vergangenheit der Tschechoslowakei blickt. Er verhandelt das Thema Verlust und Entwurzelung. Er spricht die Zwangsumsiedelung in den 50er-Jahren an und zeigt die daran zerbrochenen Menschen. Wie schwer die Männer darunter litten, verbitterten und diese Verbitterung auf die Söhne übertrugen. Der Autor zeigt, wie ganze Dörfer kurz nach der Tschernobyl-Katastrophe dem Bau eines Atomkraftwerkes weichen mussten. Die Demonstrationen, die weitergingen, als der Eiserne Vorhang schon gefallen war. Politiker versprachen, was sie nicht halten konnten. Im Vordergrund steht die Protagonistin und ihre Familie. Ihr wortkarger Vater, der nicht der Vater ihres Bruders ist und den Stiefsohn deutlich heftiger behandelt als die Tochter. Während die Eltern den Umzug in den Plattenbau hinnehmen und der Sohn längst verschwunden ist, kämpft die Tochter erbittert bis zum Schluss, ähnlich wie Don Quichotte gegen die Windmühlen. Eine fein ziselierte, aufwühlende Familiengeschichte, die mich in die Zeit des Kalten Krieges und der atomaren Aufrüstung entführt hat.

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Veröffentlicht am 31.03.2025

Starke wütende Heldin

Fischtage
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Seit Ella dreizehn ist, hat sie diese Wutanfälle. Es überkommt sie zügig. Ein falsches Wort an der richtigen Stelle, ein so tun als ob, ein Versprechen, das nicht gehalten wird, verbrennt ihr die Magenwände, ...

Seit Ella dreizehn ist, hat sie diese Wutanfälle. Es überkommt sie zügig. Ein falsches Wort an der richtigen Stelle, ein so tun als ob, ein Versprechen, das nicht gehalten wird, verbrennt ihr die Magenwände, dann die Speiseröhre und kriecht ihr die Wirbelsäule hoch, bis ihr der Kopf platzt. Sie hat damit schon viele Freunde vergrault, deswegen lässt sie das mit der Nähe und dem Vertrauen jetzt.

Mit dreizehn hat Mama mich noch jedes Mal festgehalten, mit vierzehn hat sie versucht, mit mir darüber zu reden, mit fünfzehn hat sie mich aufgegeben. S. 11

Der Einzige, dem sie alles erzählen konnte, der wirklich zugehört hat, ist der olle Eckard, aber der driftet jetzt zielstrebig in die Vergesslichkeit und immer öfter erkennt er sie nicht mehr. Normalerweise hilft Rennen, das verhindert, dass sie den Menschen Ziegelsteine ins Gesicht wirft. Allerdings ist sie besoffen von einem Karussell geflogen und hat sich mehrmals das linke Bein gebrochen. Deswegen brüllt sie einfach, wenn es sie überkommt, aber danach hasst sie sich dafür.

Die Eltern haben sie in Therapie geschickt, seitdem kann sie dienstags und donnerstags nachmittags nicht mehr mit Kotsche abhängen. Jeden Mittwoch besucht sie den coolen ollen Eckard. Der Vater ihres Vaters ist früh gestorben und der Vater ihrer Mutter ist ein Vollzeitarschloch, das in Düsseldorf-Oberkassel sitzt und sich einen Scheiß für sie interessiert. Ihre Eltern sind zwei f****** Junkies aus der Kunstszene, die knallen Acid, Pilze, Koks, Gras und MDMA. Und jetzt ist ihr jüngerer Bruder spurlos verschwunden.

Fazit: Charlotte Brandi hat in ihrem Debüt eine temporeiche Coming -of- Age Story geschaffen und ich muss sagen Story“Telling“ kann sie absolut. Ihre sechzehnjährige Protagonistin wächst mit ihren zwei Geschwistern in einem Elternhaus auf, in dem es ihr an nichts fehlt, außer an echter Zuneigung und Wertschätzung. Von ihrer hormonellen Explosionsfähigkeit abgesehen, lebt sie in einer Familie, in der sich jeder selbst der Nächste ist. Die Eltern, je nach Stand der Dröhnung, die sie intus haben, sind auf Kante genäht und entsprechend reizbar. Der Bruder, dem sie sich noch am nächsten fühlt, ist plötzlich augenscheinlich abgehauen und die weitere Entwicklung der Geschichte lässt das Schlimmste befürchten vor den Kulissen des Dortmunder Underground. Die Stimmfarbe ist bockig, explosiv, stinksauer und so mutig. Ich liebe diese neuen Geschichten, in denen Mädchen oder junge Frauen so authentisch dargestellt werden wie sie sind und nicht wie die vernünftigen Püppchen der letzten vierzig Jahre. Die Autorin hat mich mitgenommen auf einen Trip mit einer starken Heldin, die ich gerne in echt kennengelernt hätte. Das war geil.

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Veröffentlicht am 28.03.2025

Sehr anschaulich erzählt

Zehn Bilder einer Liebe
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David

David hat Luisa nach vielen Jahren wiedergesehen und sich im Gegensatz zu ihr an sie erinnert. Damals war er mit seinen Eltern auf Milos gewesen und hatte ihr beim Tanzen zugesehen, er war neunzehn. ...

David

David hat Luisa nach vielen Jahren wiedergesehen und sich im Gegensatz zu ihr an sie erinnert. Damals war er mit seinen Eltern auf Milos gewesen und hatte ihr beim Tanzen zugesehen, er war neunzehn. Jetzt war sie in der Halle aufgetaucht, in denen er mit zwei Freunden Schiffe restauriert. Er kann kaum glauben, dass sie eine zehnjährige Tochter hat.

Der Plastikbecher mit seinem Sperma war nicht richtig verschlossen. Die Probe hat sich unter seiner Jeans verbreitet und ist wertlos. Im Aufzug der Kinderwunschklinik vor ihm stehen zwei Frauen Hand in Hand, verträumt lächelnd. Bei ihnen scheint es geklappt zu haben. Zuerst konnte er sich in der Praxis nicht gehen lassen. Statt sich selbst zu erregen, fuhr er Kopfkino. Die Rezeptionsmitarbeiterin gab ihm einen Becher, damit er ihn zuhause, in entspannter Atmosphäre füllen könnte. Dann würden sie zur erneuten Insemination kommen, alles kein Problem. Jetzt fühlt er sich schlecht und weiß nicht, wie er Luisa das erklären soll. Sie wird ihn für einen Versager halten und er kann es ihr nicht verdenken. Es war schließlich seine Idee. Sie wäre zufrieden gewesen mit ihrer Situation, sie hatte ja schon Ronya geboren. Er vermisst die ersten Jahre des Heranwachsens, sehnt sich nach einer richtigen Bande, einer festen, intensiven Vater-Kind-Beziehung. Er bräuchte einfach nur seinen Part zu leisten. Was war das schon im Gegensatz zu Luisa, die hormonell behandelt wird, die Stimmungsschwankungen in Kauf nimmt und sich seine aufbereiteten Zellen einpflanzen lässt. Er sieht schon die Spur der Enttäuschung in ihrem Gesicht, die sie versucht vor ihm zu verbergen.

Luisa

Er hat sie angerufen und ihr von seinem Malheur erzählt. Natürlich ist sie enttäuscht, wird aber versuchen, sich nichts anmerken zu lassen. Sie hilft Ronya, sich als Robin Hood zu verkleiden, wirft ihr die grüne Strumpfhose zu. Als sie die Haustüre zufallen hört, dreht sie sich um und sieht David gebeugt im Flur stehen. Sie ignoriert seine Haltung, will ihn jetzt nicht auffangen. Sie setzt sich auf den Balkon, während David zu Ronya ins Zimmer geht. Dort wird er Stunden bleiben, um sich nicht mit ihr auseinandersetzen zu müssen, sie kennt das. Also fährt sie in ihre Küche, um das Event für morgen vorzubereiten.

Fazit: Hannes Köhler zeigt ein Paar, das sich füreinander entschieden hat. Wie sie sich kennengelernt haben. Was für Luise mit dem Vater ihrer Tochter nicht gestimmt hat und wie sie Davids Verlässlichkeit schätzt. Sie meistern gemeinsam alltägliche Hürden und bringen sich zu gleichen Teilen in die Beziehung ein. Beide hegen ihre Zweifel am anderen und an sich selbst, raufen sich aber immer wieder zusammen. Davids Kinderwunsch und die damit verbundenen Strapazen sind eine große Herausforderung für das Paar. Der Autor erzählt mit großem Einfühlungsvermögen, lotet beide Seiten aus, lässt beiden genug Raum, sich zu zeigen. Beide Charaktere sind in ihrem Handeln und Denken so wundervoll normal. Es ist erstaunlich, wie sehr wir unsere eigenen Erwartungen an uns selbst auf unsere Partner*innen projizieren und uns damit boykottieren. Hannes Köhler lässt seine Protagonisten ein Beziehungsmodell finden, das sich nicht am Außen orientiert, sondern am Ende für sie beide passt. Eine gleichberechtigte Liebe mit beiderseitigen Entwicklungsmöglichkeiten ohne gängige Klischees. Und eine Geschichte zweier kluger Menschen, denen ich sehr gerne zugeschaut habe.

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Veröffentlicht am 27.03.2025

So feinfühlig wie eindringlich

sterben üben
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Die Schmerzen, der alte Körper, Sachertorte, Medikamente, Inkontinenz, Sauna.

Die Großma hat nicht geschlafen, in der Nacht, aber trotzdem die Fenster geputzt. Die Enkelin ist das Schatzilein und gerade ...

Die Schmerzen, der alte Körper, Sachertorte, Medikamente, Inkontinenz, Sauna.

Die Großma hat nicht geschlafen, in der Nacht, aber trotzdem die Fenster geputzt. Die Enkelin ist das Schatzilein und gerade zu Besuch. Sie sieht, wie die Großma gebeugt über dem Rollator steht. Die Beine sind angelaufen, dick geschwollene Gelenke und Waden mit Dellen. Die Venen schlingern sich über die weiße, schuppige Haut. Der Träger ihres Hemdchens ist heruntergerutscht. Schatzilein folgt der Großma in die Küche, packt die Einkaufstasche aus, räumt den Inhalt in die Schränke und schneidet die Zutaten für das Mittagessen.

Großma erzählt von ihrem ersten Mann, der mit zweiunddreißig an Nierenversagen starb. Da war Schatzileins Mutter gerade ein Jahr. Sie versteht sich nicht gut mit der Großma, immer herrscht eine Spannung zwischen den beiden. Danach kam Horsterle, ihr zweiter Mann, der hat sich um alles gekümmert. Sie berichtet über all die lieben Erlebnisse mit der Nachbarin von unten. Die ist jetzt in ein Heim gekommen, das ging nicht mehr allein in der Wohnung. Die hatte so ein schönes Pflegebett und die Großma überlegt jetzt, ob sie es den Kindern abkaufen soll. Lange hat sie ja nicht darin gelegen, es ist noch fast neu.

Die anderen Großeltern haben Schlafmittel genommen, wollten gemeinsam gehen. Die Großmutter konnte aber wiederbelebt werden und hat danach keinem mehr in die Augen geschaut. Schatzilein fragt sich, warum jemand die Pflege ablehnt.

Fazit: Katharina Feist-Merhaut hat sieben Jahre an ihrem Debüt geschrieben. Sie verfolgt das Altern ihrer Großmutter sehr gewissenhaft. Während sie sich zunehmend um die alternde Frau kümmert, seziert sie mit ihrer Hilfe alle Fragen rund um den letzten Gang. Sie macht sich Notizen und Sprachaufnahmen und sichtet alte Dias. Der Text, in Prosa geschrieben, liest sich teils wie ein Tagebuch, teils wie ein Einkaufszettel. Sie spricht auch über den zunehmenden Druck der Verantwortung, die auf ihr lastet, weil sie die einzige ist, die in direkter Nähe der Großmutter lebt. Wenn die Großmutter nicht ans Telefon geht, setzt Panik ein, alles muss stehen und liegen gelassen werden. Sie sprechen offen über die Möglichkeit, in ein Heim zu ziehen, das eine Rundumbetreuung gewährleisten würde. Doch der Großmutter wäre es lieber, die Enkelin würde das übernehmen. Die Autorin hat eine einnehmende, authentische Geschichte geschrieben, in der sie auch die intimen Segmente der Pflege umkreist und das nötige Vertrauen durchleuchtet. Ein eindringliches, feinfühliges Buch.

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