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Veröffentlicht am 07.01.2025

Ein kluges Buch zum Thema gesellschaftliche Spaltung

Heult leise, Habibis
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Sineb El Masrar erklärt, wie Ignoranz und Dauerempörung unsere Gesellschaft spalten.

Wir erfahren in den Medien zum Beispiel von bewaffneten und kriegerischen Konflikten in der Sahelzone und fühlen uns ...

Sineb El Masrar erklärt, wie Ignoranz und Dauerempörung unsere Gesellschaft spalten.

Wir erfahren in den Medien zum Beispiel von bewaffneten und kriegerischen Konflikten in der Sahelzone und fühlen uns anhand der Bilder von Menschen, die die Region um den Niger verlassen, überfremdet. Große Uran- und Goldreserven liegen im Focus Russlands, um neue Einflusszonen zu sichern und Frankreichs, um seinen Status quo aufrechtzuerhalten.

Nicht alle wollen begreifen, wie stark unser Wohlstand mit dem Zugang zu chemischen und metallenen Bodenschätzen verwoben ist. Auch unsere Energie- und Gesundheitsversorgung sind von bestimmten Regionen abhängig. S. 8

In den Netzwerken entfachen darüber Revierkämpfe wie in der Schule oder in Cliquen. Die Autorin denkt, dieses Verhalten liege an unreflektierten Komplexen und der Ich-Bezogenheit, getrieben von nicht verarbeiteten Kränkungen. Sie glaubt, dass die Gesellschaft zu viel Rücksicht auf die Marktschreier nimmt, die ungefragt Fake News und ihre Meinung verbreiten.

Tatsächlich jedoch gäbe es in unserer Gesellschaft eine Vielzahl von Menschen, die mit schmerzhaften Erfahrungen wie Rassismus, Missbrauch, Gewalt, Verlust, Krankheit, Sexismus etc. konfrontiert sind und trotzdem auf überzogene Empörung verzichten.

Die Autorin erklärt den Unterschied zwischen den dauerempörten Extrovertierten und den stillen Introvertierten.

Auch die Plattformen der Socialmedia-Maschinerie fördern die Aufregung mit belohnenden und sabotierenden Algorithmen. Je mehr Aktivitäten und Follower die Apps generieren, desto mehr Investments und Kapital durch Werbetreibende wird investiert und lässt die Aktienkurse steigen.

Fazit: Sineb El Masrar hat ein umfassendes und kluges Buch über die Mechanismen der gesellschaftlichen Spaltung und die Gefahr für unsere Demokratie geschrieben. Allerdings halte ich die Idee, die Leisen müssten lauter werden für eine Illusion. Es ist nervenaufreibend, sich mit geltungssüchtigen Menschen auseinanderzusetzen, deren vorrangiges Ziel zu sein scheint, sich die Langeweile zu vertreiben. Dennoch habe ich in den Ansichten der Autorin meine eigenen gefunden und das tat gut. Ich wünsche dem Buch haufenweise Leser*innen.

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Veröffentlicht am 06.01.2025

Für alle Leser*innen abwechslungsreicher Großstadtromanzen

Cleopatra und Frankenstein
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Cleo Mitte zwanzig hat ein Kunststipendium an einer New Yorker Uni ergattert. In der Silvesternacht trifft sie den Mittvierziger Frank im Treppenhaus einer Partylocation, die sie gerade verlassen will. ...

Cleo Mitte zwanzig hat ein Kunststipendium an einer New Yorker Uni ergattert. In der Silvesternacht trifft sie den Mittvierziger Frank im Treppenhaus einer Partylocation, die sie gerade verlassen will. Sie kommen in ein Gespräch, das sie beide fasziniert. Frank kauft ihr Zigaretten und etwas zu essen und begleitet sie in das heruntergekommene Haus, in dem sie ein WG-Zimmer bewohnt. Obwohl sie seine Idee noch mit reinzukommen ablehnt, kommt Frank ihr im Treppenhaus sehr nah.

Cleos Visum läuft ab, sie wird wahrscheinlich nach England zurückgehen müssen. Frank löst das Problem, indem er ihr einen Heiratsantrag macht. Sie trauen sich ganz allein. Cleo in hellblauem Seidenkleid, Frank im Smoking. Der Hotdog Verkäufer um die Ecke ist schnell überredet, die Trauung zu bezeugen und weint die ganze Zeit.

Nach der Zeremonie treffen sie ihre Freunde in Santiagos Restaurant. Der Starkoch, auf dessen Können Frank schwört, bewirtet sie. Noch denkt Cleo sich nichts bei den Mengen Alkohol, die Frank in sich hineinschüttet.

Der Werbespot, den Frank für seine Firma an Land gezogen hat, ist versaut. Während der Feierlichkeiten ließ der Kameramann einen Halbnackten durchs Setting latschen. Frank ist verkatert und schlecht drauf. Jetzt muss er länger und härter arbeiten, dabei dachte er, es in der Werbebranche weit genug gebracht zu haben. Er trinkt mehr und kommt jeden Abend später nach Hause. Cleos unglückliche Miene setzt ihm ebenfalls zu.

Fazit: Coco Mellors Debüt liest sich wie ein Film, der am ehesten „Sex and the City“ gleicht. Sie erzählt in Monaten und beginnt mit dem Kennenlernen ihrer Protagonisten. Zu Anfang fand ich die Geschichte eher flach und konnte den Hype, den das Buch erfahren hat, nicht nachvollziehen. Die Story wird aber mit zunehmendem Voranschreiten dichter. Älterer erfolgreicher Mann, der sich aus eigener Kraft hochgearbeitet hat, trifft junge, schöne Frau. Beide wurden in ihren Herkunftsfamilien emotional vernachlässigt. Sie stürzen sich spontan in eine Liebesbeziehung, in der Hoffnung, das zu bekommen, was sie entbehren mussten. Jeder kompensiert seine Bedürftigkeit auf andere Weise. Die Erwartungen an die Beziehung, an den anderen finden keine Erfüllung. Cinderella tanzt nicht mehr. Am Ende wird alles gut, nein besser. Meine Empfehlung für alle Leser*innen, die unterhaltsame, abwechslungsreiche Großstadtromanzen mögen.

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Veröffentlicht am 02.01.2025

Blick in andere Lebenswelten

Belohnungssystem
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Julia bekommt den Job im Cascine, dem angesagten Szenelokal mit der gehobenen Küche. Sie soll die stellvertretende Küchenchefin Lena ersetzen. Eigentlich ist Julia eher als Heulsuse und Jasagerin bekannt, ...

Julia bekommt den Job im Cascine, dem angesagten Szenelokal mit der gehobenen Küche. Sie soll die stellvertretende Küchenchefin Lena ersetzen. Eigentlich ist Julia eher als Heulsuse und Jasagerin bekannt, das darf jetzt allerdings niemand merken, sonst geht sie in dem rauen Ton unter. Nach drei Probeschichten hat sie das Team überzeugt. Es dauert gar nicht lange, da hat der andere stellvertretende Küchenchef Nathan Julia romantisch im Auge. Julia allerdings konzentriert sich darauf, dem Küchenchef und Pächter Ellery näher zu kommen. Ellery geht auf ihre Avancen ein und sie werden ein Paar. Sie tingeln durch die angesagte Gastronomie Londons und es dauert nicht lang, bis Julia pleite ist. Ellery hat ein Drogenproblem und eine Tochter, beides erfährt Julia eher am Rande. Als Julias Vorreiterin Lena ihr eine Mail schickt: Ellery der Psycho solle sie endlich in Ruhe lassen!“, möchte Julia darüber nicht weiter nachdenken, doch Lenas hingeworfene Worte beginnen ein Eigenleben in ihrem Kopf.

Auf Tedds Party taucht Nick eher unerwartet auf. Er hofft, dass seine Ex Julia auch anwesend ist und wird enttäuscht. Im Laufe des Abends hat er sich so zugedröhnt, dass er kaum den Weg nach Hause findet. Auch Nicks Ausgaben haben sein Einkommen bei weitem überstiegen, deshalb zieht er wieder zu seinen Eltern. Er fasst den Entschluss, sich gründlich zu fangen und sein Leben zu ordnen, dazu gehört auch die Abstinenz.

In dem Büro, in dem Nick als Texter arbeitet, ist der Überschuss an alten Männern hoch. Jeder surft während der Arbeitszeit im Internet und geht seinen eigenen Bedürfnissen an Unterhaltung nach. Klamotten, Pornos, Dating-Apps und Social Media. Niemand weiß, dass eigens für die Überwachung der Internettätigkeiten ein Mitarbeiter einberufen wurde, aber bald werden es einige erfahren.

Fazit: Jem Calder hat in seinem ersten Buch einige Lebenswirklichkeiten geschaffen, die in kürzeren Geschichten, die lose miteinander verbunden sind, erzählt werden. Es geht um Bedürfnisse, wie der Wunsch nach Liebe und Partnerschaft, Dazugehören wollen und Freundschaft. Allen Darsteller*innen scheint etwas zu fehlen, das vor allem die männlichen durch Drogen, Alkohol und Sex zu kompensieren versuchen. Mehr oder weniger gescheiterte Existenzen, die durch die übernatürliche Zufuhr von Dopaminanregenden Substanzen ihr Leben zu bestreiten suchen. Der Autor hat die Unzulänglichkeiten mit feinem Gespür und Humor in Szene gesetzt und mich überlegen den Kopf schütteln und laut auflachen lassen. Ein interessanter Blick in andere Lebenswelten.

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Veröffentlicht am 30.12.2024

Absolute Leseempfehlung zum Thema Feminismus

Das ewige Ungenügend
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Saralisa Volm will sich die Deutungshoheit ihres Körpers zurückerobern und nimmt die Leserinnen mit in ihr Erleben und ihre Wut.

Schon während ihrer Pubertät galten die Maße 90-60-90 als Schönheitsideal. ...

Saralisa Volm will sich die Deutungshoheit ihres Körpers zurückerobern und nimmt die Leserinnen mit in ihr Erleben und ihre Wut.

Schon während ihrer Pubertät galten die Maße 90-60-90 als Schönheitsideal. Die Rubensmädchen hatten längst ausgedient und Barbie hielt Einzug. Obwohl Saralisa gerne aß, war sie dünn, dennoch machte sie Diäten und blieb unzufrieden mit ihrem Körper. Sie entdeckte das Kotzen als Methode ihrer Essenslust zu frönen und dabei gertenschlank zu werden. Bis zum ersten Kreislaufzusammenbruch dauerte es ein paar Jahre und da beherrschte die Bulimie auch schon ihr gesamtes Leben. Sie pendelte zwischen Vertuschung und Beherrschung und quälte sich durch Kontrollverluste, gleichzeitig gab ihr ihr Verhalten das Gefühl von Kontrolle und eine wohltuende Befriedigung. Nach jahrelangem On Off der Bulimie-Beziehung voller Leidenschaft und Hass hörte sie damit auf. Zähne, Haare und Magen hatten so gelitten, dass es ihr nicht mehr gelang, nach außen zu glänzen. Die Schönheitsindustrie feuerte weiter:

Nichts schmeckt so gut, wie es sich anfühlt, dünn zu sein. Kate Moss S. 43

Die Autorin zeigt, wie gerade Frauen zum Spielball zwischen milliardenschwerer Schönheitsindustrie und milliardenschwerer Genussmittelindustrie werden. Ein Kreislauf an dessen Ende Diätkonzerne, Pharmaindustrien und Ärzte stehen.

Schönheit ist ein System, das nur dann funktioniert, wenn es viele ausschließt. Elisabeth Lachner S. 48

Was viele, von dieser Selbstoptimierung Betroffene nicht verstehen ist, dass Selbstwert eben nicht käuflich ist.

Unterstützung findet das System des Schönheitswahns auch durch Creator
innen. Je mehr Followerinnen, desto größer die Sicht auf lukrative Zusammenarbeit mit Firmen.

Frauen werden weltweit unterdrückt, wenn sie nicht ihrer augenscheinlichen Bestimmung folgen nett, angenehm und sozial verträglich zu sein. Es folgen Ausgrenzung, Mobbing, Cybermobbing und Femizide. 2020 wurden in Deutschland 359 Fälle häuslicher Gewalt aktenkundig, fast jeden Tag traf es eine.

Die Autorin führt uns in die frauenfeindliche Welt der Schauspielkunst ein und zeigt anhand der eigenen Karriere, wie frustrierend diese Arbeit sein kann.

Sie zeigt, dass das Ziel der Gleichberechtigung nur entspannte weibliche Mittelmäßigkeit sein kann.

Fazit: Saralisa Volm hat sich in diesem Buch mit ihrer eigenen Weiblichkeit auseinandergesetzt und viele kluge Gedanken zu Papier gebracht. Das Buch liest sich so erhellend wie frustrierend, weil der geneigten Leser
in auffällt, welche Wegstrecke zu echter Gleichberechtigung noch vor uns liegt. Sicher ist es ratsam, unseren Töchtern zu erklären, „dass jede*r ihre Grenzen achten muss, dass ein Nein bedeutet, dass man aufhören muss und dass Sex nicht eingefordert werden darf“. Allerdings fände ich es ebenso hilfreich, wenn wir das unseren Söhnen klar machen würden. Die Autorin macht ihre Gedanken anhand vieler Beispiele aus dem eigenen Leben gut lesbar und verständlich. Sie schreibt sowohl mit einem lachenden als auch einem weinenden Auge und damit keineswegs pessimistisch. Von mir definitiv eine absolute Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 27.12.2024

Besondere Unterhaltung auf hohem humoristischem Niveau

Täuschend echt
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Ihr Vokabular richtet sich gegen ihn. Er sei von A wie altmodisch bis Z wie zickig unerträglich und auch dazwischen fand sie nichts Gutes. Sie dagegen switchte durch die sozialen Medien, denen er sich ...

Ihr Vokabular richtet sich gegen ihn. Er sei von A wie altmodisch bis Z wie zickig unerträglich und auch dazwischen fand sie nichts Gutes. Sie dagegen switchte durch die sozialen Medien, denen er sich vorenthält, fraß Reality Shows und behauptete, dass sie das nur auf der Metaebene betrachte, als kulturelles Phänomen.

Forscher in den USA haben festgestellt: Wenn sie ihre Scheiße kulturelles Phänomen nennen, stinkt sie nicht mehr. S. 13

Sie vergaß ihr Handy in einem Coffee Shop an der Bar, an der auch er saß. Dann rief sie sich selbst an, mit einem Handy, das ihr jemand geliehen hatte. Er war so dumm ranzugehen und es ihr dann zu einer ultrawichtigen Wohnungsbesichtigung für ein WG-Zimmer, das sie doch nicht bekam, zu bringen. Sie drückte ein paar Tränchen die Wangen hinunter, weil sie nicht wußte, wo sie schlafen sollte und er bot ihr seine Couch an. Dann blieb sie doch, bis sie was Eigenes finden würde und fand nichts. Zum Schluss sagte sie ihm: „Leute wie er würden beruflich bald so überflüssig sein, wie er es privat schon immer war.“

Und dann wollte er ihr das Gegenteil beweisen, hat das Wort Frühstücksmüsli eingegeben und die KI rangelassen. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Sein Todesurteil als Werbetexter! Und dann hat Andenberg ihn rausgeschmissen, fristlos, nicht wegen der KI, sondern weil er zu viel Arbeitszeit mit persönlichen Belangen verbracht hat. Und danach oder kurz zuvor ist seine Kreditkarte verschwunden und auf Bali aufgetaucht.

Fazit: Dieses ist mein erstes Buch von Charles Levinsky und ich bin voll überzeugt von seiner Schreibkunst. Mit leidenschaftlichem Biss schickt er seinen Protagonisten in sein Unglück. Lässt ihn erkennen, dass seine Geliebte ihn belogen und betrogen hat. Lässt ihn den langweiligen Job und das sichere Einkommen verlieren und konfrontiert ihn mit künstlicher Intelligenz und ChatGPT. Die Sprache ist voller Selbstironie und insgesamt so situationskomisch, dass ich mich köstlich amüsiert habe. Sehr gelungen fand ich auch den Ansatz, die kreativen Möglichkeiten einer Technologie, die im Allgemeinen einzig verteufelt wird, wie mittelalterliche Phänomene, spielerisch erlebbar zu machen. Der Autor jammert und polemisiert nicht, sondern schafft eine sehr moderne, gut durchdachte, kreative Story. Alle Eindrücke, die er in seinem Buch aus Wikipedia und KI generierten Texten verwendet, hat er kursiv dargestellt. Das war besondere Unterhaltung auf hohem humoristischem Niveau. Chapeau!

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