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Veröffentlicht am 02.09.2019

Wunderbare Geschichte von Freundschaft und vielem mehr

Ein neues Blau
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Berlin, 1985: Schülerin Anja, bei der zurzeit einiges im Argen liegt, wird von ihrem Vertrauenslehrer angehalten, sich bei der alten Dame Lili Kuhn zu melden und sich als deren Gesellschafterin zu bewerben. ...

Berlin, 1985: Schülerin Anja, bei der zurzeit einiges im Argen liegt, wird von ihrem Vertrauenslehrer angehalten, sich bei der alten Dame Lili Kuhn zu melden und sich als deren Gesellschafterin zu bewerben. Die ist einigermaßen überrascht, lässt sich aber darauf ein. Lili erzählt aus ihrem bewegten Leben, ihren jüdischen Wurzeln, weiht Anja in die Geheimnisse der Porzellanherstellung und in die japanische Teezeremonie ein. Die beiden ungleichen Frauen beginnen sich behutsam aneinander anzunähern, und nach anfänglichem Widerwillen werden für
beide die Besuche immer wichtiger und helfen jeder von ihnen, ihren inneren Frieden zu finden.

Lustig, traurig, berührend, packend, erschütternd – es gibt fast keine Emotion, die dieses Buch nicht auslöst. Obwohl der Erzählstil des Autors teilweise eher sachlich und reduziert wirkt und er sich keinerlei überflüssiger Bemerkungen schuldig macht, so trifft er doch immer den richtigen Ton, ohne schwülstig oder verkrampft zu werden. Gekonnt wechselt er die Perspektive und erzählt im Wechsel aus der Sicht Anjas, in der Ich-Form, die Geschehnisse in der Gegenwart und als allwissender Erzähler aus der Sicht Lilis deren Leben von 1919 bis 1932. Dies tut er im Falle der Anja-Perspektive eher flapsig-jugendlich und im Falle der Lili-Perspektive gehoben-literarisch. Der Leser erhält zudem in dem Maße, in dem Anja von Dritten mehr aus Lilis Leben erfährt, ebenfalls weitere Informationen über diese Zeit hinaus. Mitunter meint man geradezu, dass der allwissende Erzähler das Geschehen ironisch kommentiert. Jedenfalls entsteht so nach und nach das Bild einer außergewöhnlichen Frau und ihres ungewöhnlichen Lebens, in welchem Porzellan eine große Rolle spielt und die Farbe Blau sich wie ein roter Faden durchzieht. Es geht jedoch nicht um eine lückenlose Biografie oder eine nüchterne Schilderung von Ereignissen. Es geht um Liebe und Freundschaft, Familienbande, Treue über den Tod hinaus, Mut und Stärke, sein Leben in die Hand zu nehmen und nicht zuletzt um die Auseinandersetzung mit den eigenen Wurzeln und Vergebung.

Obwohl die Geschichte eine der leisen Töne ist und ohne große Action daherkommt, fesselt sie doch ungemein und besticht durch ihre außergewöhnlichen Charaktere. Lili ist eine unglaubliche Persönlichkeit, und ihr Leben und ihre Erlebnisse machen einmal mehr die Schrecken des Nationalsozialismus deutlich. Für eine Frau in jener Zeit macht sie ungewöhnliche Dinge und hat dabei nicht wenige Schicksalsschläge zu ertragen. Dabei steht ihr zu jeder Zeit ein ebenso faszinierender Mensch zur Seite: ihr lebenslanger Beschützer und Vaterersatz Takeshi, von dem man gerne mehr erfahren hätte. Diese absolute Verbundenheit berührt sehr und macht einen Großteil des Reizes dieser wunderbaren Geschichte aus. Mich berührte aber noch mehr, wie Anja sich entwickelt, wie sie nach anfänglichem Missmut immer mehr in die Welt Lilis eintaucht, sich ihrer eigenen Wurzeln bewusst wird, ihre Gegenwart und Verhalten hinterfragt und schließlich lebenswichtige Entscheidungen trifft. Sie wird vom verstörten, sich schuldig fühlenden Kind zur verantwortungsbewussten jungen Frau, die ihren Weg geht.

Fazit: Ein wunderbares Buch und jedem zur Lektüre wärmstens ans Herz gelegt. Berührt einen im tiefsten Innern und hallt lange nach. Wer starke und vielschichtige Frauenfiguren liebt und sich für Bindungen interessiert, wird dieses Buch lieben!

Veröffentlicht am 26.08.2019

Was geschah mit Aurora Jackson?

Bis ihr sie findet
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In einem Waldstück in der Nähe von Southampton findet ein Kind zufällig eine stark verweste Leiche. Der zum Tatort gerufene Ermittler, Jonah Sheens, ist sich sicher: Das ist die vor dreißig Jahren verschwundene ...

In einem Waldstück in der Nähe von Southampton findet ein Kind zufällig eine stark verweste Leiche. Der zum Tatort gerufene Ermittler, Jonah Sheens, ist sich sicher: Das ist die vor dreißig Jahren verschwundene 14jährige Schülerin Aurora Jackson, die dort zu jener Zeit mit einer Gruppe Jugendlicher zelten war. Kann nun endlich dieser lang zurückliegende Fall, der ihn sein ganzes Leben beschäftigt hat, gelöst werden? Sheens stürzt sich mit seinem Team, darunter die neue Kollegin Juliette Hanson, in die Ermittlungen, und bald sind nicht nur die damals Beteiligten verdächtig, sondern auch ein Lehrer und sogar Sheens selber…

Toller, eher klassischer Krimi, der sehr von der Tatsache lebt, dass das eigentliche Verbrechen lange zurückliegt und nicht leicht rekonstruiert werden kann sowie von seinen Dialogen und der Interaktion seiner Figuren. Er kommt dabei wohltuenderweise ohne allzu grausame Action oder blutige Szenen aus und schafft auf hintersinnige Art und Weise Spannung. Die Ermittlungsarbeit besteht zum Großteil aus Befragungen der damals beteiligten Personen, die inzwischen natürlich erwachsen sind und die alle einen Ruf zu verlieren haben. Hieraus und aus der Tatsache, dass auch Chief Sheens die Tote gekannt hat, zieht der Thriller meines Erachtens den Hauptteil seiner Spannung. Die verschiedenen Perspektiven beleuchten die unterschiedlichen Aspekte der Geschehnisse sowie die persönlichen Hintergründe, Motive und Gefühle der einzelnen Beteiligten. Besonders packend sind die Rückblenden in das Jahr der Ereignisse und die daraus resultierenden Abhängigkeiten der Gruppe voneinander. An sich ist der Kreis der Verdächtigen eher klein, doch nach und nach fügen sich all diese Puzzleteile ineinander und enthüllen, was wirklich geschah. Die Lösung war denn auch – wenn auch nicht vollkommen überraschend – so doch fesselnd im Hinblick auf die Manipulationen und psychischen Zwänge des Täters. Einiges hätte für meinen Geschmack auch ruhig noch stärker herausgearbeitet werden können, aber vielleicht wäre das dann auch zu sehr in Richtung Psychothriller abgedriftet, und es war trotz allem durchaus eine kompakte Story und ein komplexer Fall

Die Figuren sind interessant und vielschichtig angelegt, mit sehr eigenen Persönlichkeiten und mitunter auch ein bisschen mysteriös. Die Mitglieder aus Sheens Ermittlerteam scheinen alle ihr Päckchen zu tragen zu haben, ihr Privatleben bleibt aber (noch) vage, denn sie sind eher verschlossen. An Sheens kam ich nicht unmittelbar gleich heran, obwohl ich ihn faszinierend fand. Er ist ein erfahrener Polizist und sowohl mit hoher Intelligenz als auch Intuition gesegnet. Später wurde das aber sehr viel besser, und zwar in dem Maße, in dem intimere Einblicke in seine Gefühlswelt gewährt und seine Zweifel und sein Willen, den Fall endlich aufzuklären, offenkundig wurden. Am meisten fieberte ich aber mit der jungen Juliette Hanson mit, die zwischen Loyalität und dem Wunsch, die Wahrheit herauszufinden, zerrissen ist und auch starke persönliche Probleme wälzt. Über sie hätte ich gerne noch mehr erfahren, hoffe hier aber auf Folgebände!

Fazit: Eher ein Krimi der – vermeintlich – leisen Sorte und nichts für Fans des rasanten oder ausgefeilten (PsychThrillers mit vielen Wendungen. Ich fand ihn aber sehr spannend und war gefesselt von den Charakteren und deren Beziehung zueinander. Der Autorin ist ein starkes Debüt gelungen, das Lust auf weitere Fälle und auf ein Wiedersehen mit den bekannten Figuren macht!

Veröffentlicht am 12.08.2019

Herausragender Thriller – Für alle Thriller-Fans ein absolutes Muss!

Der Kastanienmann
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Naia Thulin ist Ermittlerin bei der Kopenhagener Mordkommission und würde lieber heute als morgen in die neu gegründete Cyber-Crime-Abteilung NC3 wechseln, als sie zu einem grausigen Tatort gerufen wird: ...

Naia Thulin ist Ermittlerin bei der Kopenhagener Mordkommission und würde lieber heute als morgen in die neu gegründete Cyber-Crime-Abteilung NC3 wechseln, als sie zu einem grausigen Tatort gerufen wird: Auf einem Kinderspielplatz wird die grausam misshandelte und verstümmelte Leiche einer jungen Frau gefunden. Am Tatort: Ein Kastanienmännchen mit den Fingerabdrücken der seit einem Jahr verschwundenen Tochter der Sozialministerin Rosa Hartung, die just wieder in ihr Amt zurückgekehrt ist. Thulin bekommt den von Interpol geschassten Ermittler Mark Hess zur Seite gestellt, mehr Verstärkung ist nicht drin. Hess ist ihr zunächst keine große Hilfe, er lässt sich kaum bei den Ermittlungen blicken. Doch dann wird eine zweite Leiche gefunden, genauso misshandelt und verstümmelt, und auch bei ihr wird ein Kastanienmännchen mit denselben Fingerabdrücken gefunden. Thulin und Hess verbeißen sich zunehmend in einen Fall, der nicht nur ein riesiges Medienecho hervorruft, sondern ihnen auch sonst mehr abverlangt als alles, was sie in ihrer Laufbahn bislang erlebt haben…

SUPERMEGAGIGA-spannender Thriller, mehr geht nicht!! Dieses Buch hat alles und viel mehr, was ein herausragender Thriller braucht: eigenwillige Ermittler, einen spannenden Plot, düstere Atmosphäre, einen komplexen Fall mit vielen überraschenden Wendungen und einen faszinierenden Täter. Dazu allesamt vielschichtige Charaktere und einen immens packenden Schreibstil. Dem als Drehbuch-Autor bekannten Verfasser ist ein herausragendes Thriller-Debüt gelungen, das seinesgleichen sucht und sich in die Reihe der erfolgreichen Skandinavien-Thriller nicht nur einreiht, sondern sie in meinen Augen anführt. Über einen Zeitraum von einem Monat im Herbst – ohne den circa dreißig Jahre zuvor spielenden Prolog – hält ein Serienmörder die Kopenhagener Kriminalermittler in Atem, der ihnen immer einen Schritt voraus ist und sie nach Strich und Faden manipuliert. In sehr kleinen Schritten und häppchenweise sammeln Thulin und Hess Puzzleteile, die zunächst kein einheitliches Bild ergeben, und es dauert lange, bis sich der Schleier hebt und einige schreckliche Dinge ans Licht kommen, die in der Vergangenheit liegen und sich lange Zeit ihrer Aufdeckung verweigern.

Obwohl sich die Erzählperspektiven auf Thulin, Hess und auch auf Rosa Hartung konzentrieren, die den meisten Anteil haben, so gibt es doch sehr viele weitere Perspektivwechsel, die die Spannung ungemein erhöhen. Besonders die aus Opfersicht erzählten Passagen gehen unter die Haut, und der Autor spart auch nicht an blutigen Details, bleibt aber immer sachlich. Seine Sprache ist geradezu nüchtern und eher wenig detailverliebt, er lässt dadurch viel Raum für Fantasie und in keinem Moment Langweile aufkommen. Die Geschichte fesselt einfach von der ersten Zeile an und die Spannung steigert sich stetig. Sowohl Motiv als auch Täter bleiben lange Zeit im Dunkeln, und besonders bei letzterem kam für mich die Auflösung sehr überraschend. Der Täter selbst erhält keine Erzählplattform, er ist aber natürlich sehr präsent in seinem Wirken, und dadurch ist die Geschichte eher ein whodunnit-Thriller als ein Psychogramm. Sie lebt sowohl von der herausragenden Intelligenz des Täters als auch von der verbissenen und hartnäckigen Arbeit der beiden ungleichen Ermittler Thulin und Hess.

Thulin, der man in manchen Situationen fast schon autistische Züge bescheinigen könnte, hatte sofort meine Loyalität und Sympathie. Sie ist jung, ehrgeizig, eigenwillig, intelligent, unprätentiös, zurückhaltend. Als alleinerziehende Mutter versucht sie Job und Privatleben mehr schlecht als recht unter einen Hut zu bringen. Sie ist eine Vollblut-Ermittlerin, die die Aufklärung eines Falles über alles stellt. Ich fand sehr wohltuend, dass ihr Privatleben zwar Thema, aber nie überherrschend war. Deshalb kann sie mit Hess auch zunächst nichts anfangen, dieser sammelte durch seine Einstellung auch bei mir keine Sympathiepunkte. Man merkt ihm seine Unlust regelrecht an, er will an sich erst einmal nur seine Zeit absitzen, bis er wieder bei Interpol tätig werden darf. Auch das trägt natürlich zum Spannungsaufbau bei. Wie soll ein solches Ermittlerteam erfolgreich zusammenarbeiten? Nach und nach erweist sich Hess aber nicht nur als Mann mit vielen ungewöhnlichen Talenten und außergewöhnlichen Methoden, der hervorragend um die Ecke denken und sich in Menschen hineinversetzen kann, sondern auch als derjenige, der nicht aufgibt und weswegen auch Thulin letztlich am Ball bleibt.

Fazit: Für mich bis dato der beste Thriller des Jahres. Ein Buch, das einen noch beschäftigt, wenn man grade nicht drin liest, und zu dem man in dem Fall auch schnellstmöglich zurückkehren möchte. Authentische Atmosphäre und Charaktere, jede Figur vielschichtig und in seinem Aufbau und seiner Logik unglaublich durchdacht. Der Schluss setzt noch einen drauf und man fragt sich, ob wirklich alles vorbei ist. ich jedenfalls wünsche mir mehr davon!!!

Veröffentlicht am 29.07.2019

Schwedenthriller mit ungewöhnlicher Struktur - Gelungenes Debüt und Start einer neuen Reihe

Opfer
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Carl Edson, Ermittler bei der Stockholmer Mordkommission, wird zu einem besonders grausigen Tatort gerufen: Ein Mann wurde nackt an die Wand genagelt und brutal gefoltert. Mit Schrecken stellen die Kriminaltechniker ...

Carl Edson, Ermittler bei der Stockholmer Mordkommission, wird zu einem besonders grausigen Tatort gerufen: Ein Mann wurde nackt an die Wand genagelt und brutal gefoltert. Mit Schrecken stellen die Kriminaltechniker und Ermittler fest, dass der Mann noch lebt, doch aussagen kann er nicht mehr, denn er erliegt kurz darauf im Krankenhaus seinen Verletzungen. Der Täter hat keine Spuren hinterlassen, und es dauert nicht lange, da werden noch mehr Opfer gefunden, die alle ähnliche grausame Folterspuren aufweisen. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen den Opfern, bis auf die Tatsache, dass alle aus kriminellen Kreisen kommen. Carl Edson und sein Team stehen vor einem Rätsel und ermitteln auf Hochtouren, und auch Journalistin Alexandra Bengtsson berichtet beinahe in Echtzeit über die Todesfälle…

Brutal, überraschend, anders – tolles Thriller-Debüt des schwedischen Autors und erster Fall für Carl Edson. Ein echter Pageturner und eine neue Ermittler-Reihe, die sich gegenüber ihren großen Brüdern und Schwestern der skandinavischen Erfolgsthriller nicht verstecken muss und Lust auf mehr Fälle des eigenwilligen Ermittlers macht. Über einen Zeitraum von sechs Wochen erstreckt sich die Handlung des Buches, der Leser jedoch folgt atemlos den Ereignissen, und immer wenn man denkt, jetzt ist aber alles klar und logisch, kommt der Autor mit einer überraschenden Wendung um die Ecke. Nicht nur ist der Schreibstil einfach wahnsinnig flüssig und gut zu lesen, man ist sofort in der Geschichte drin und lebt – so ging es mir zumindest – auch gleich mit Carl Edson mit, sondern auch der Aufbau des Thrillers ist in meinen Augen untypisch und erhöht die Spannung ungemein. Teil eins beschreibt zunächst das Auffinden der Opfer und die Ermittlungsarbeit des Polizistenteams. Hierbei spart der Autor auch nicht an blutigen Details. So weit, so klar. Der Perspektivwechsel in Teil zwei ist dann aber insofern ungewöhnlich, als dass dieser Teil komplett aus der Sicht des Täters erzählt wird, hier spielt Carl eine Nebenrolle. Daran musste ich mich erst gewöhnen, denn ich hatte mich auf die Ermittlungsarbeit des Teams eingelesen und erwartete nun die Puzzleteile, die sich nach und nach zusammenfügen. Weit gefehlt, in diesem Teil wird die Identität des Täters und auch sein Motiv bekannt gegeben, aber dennoch ist die komplette Lösung noch in weiter Ferne. Im Nachhinein betrachtet erhöht dies die Spannung beträchtlich, zumal in Teil drei alle Fäden zusammenlaufen und wieder aus Sicht des allwissenden Erzählers berichtet wird. Man erfährt allerdings nicht viel darüber, wie die Ermittler zu ihren Erkenntnissen gelangen, und die Schlusslösung ist vielleicht nicht jedermanns Sache, doch ich fand sie überzeugend und sehr überraschend.

Carl Edson als Ermittler hat es mir besonders angetan. Er ist kein einfacher Charakter und schlägt sich beruflich wie privat mit vielen Zweifeln herum. Er ist überkorrekt, hadert mit Vorgesetzten und fühlt sich von seinem Chef und auch von seiner Familie missverstanden. Dennoch ist er ein vielschichtiger Charakter mit analytischem Verstand und viel Bauchgefühl und durchaus interessanten Methoden. Der Autor fokussiert sich nicht nur auf Carl als Ermittler, es wird deutlich, dass Carl auf die Arbeit seiner Kollegen dringend angewiesen ist. Auch sein Team, besonders Jodie und Simon, und die Mitarbeiter der Kriminaltechnik, der muffelige Chef Wallquist und die Rechtsmedizinerin Cecilia Abrahamsson, sind mehr als Nebenfiguren, sie sind starke Charaktere und haben einen hohen Wiedererkennungswert.

Fazit: Ungewöhnlicher Thriller, der aus der Masse heraussticht und nichts für schwache Nerven ist. Es ist kein klassischer Whodunnit-Krimi, also nichts für Leser, die gerne selbst ein bisschen mit ermitteln und einer stringenten Handlung folgen, sondern eher ein Psychogramm mit originellem Handlungsverlauf und überraschendem Ende. Wer sich darauf einlässt, darf sich auf weitere Fälle von Carl Edson freuen, und ich bin schon sehr gespannt, welche der bekannten Figuren dort wieder eine Rolle spielen werden.

Veröffentlicht am 22.07.2019

Krimi mit faszinierendem Ermittler und syrisches Gesellschaftsportrait

Die geheime Mission des Kardinals
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Kurz vor Ende seiner Pensionierung bekommt Kommissar Barudi aus dem syrischen Damaskus einen brisanten Fall auf den Tisch: Ein Gesandter des Vatikans wurde ermordet in einem Ölfass aufgefunden, das an ...

Kurz vor Ende seiner Pensionierung bekommt Kommissar Barudi aus dem syrischen Damaskus einen brisanten Fall auf den Tisch: Ein Gesandter des Vatikans wurde ermordet in einem Ölfass aufgefunden, das an die italienische Botschaft geliefert wurde. Der katholische Barudi muss aufpassen, denn der syrische Geheimdienst der islamischen Regierung hört und sieht alles. Um die politischen Beziehungen zu Italien nicht zu gefährden, bekommt er einen italienischen Kollegen an die Seite gestellt, Kommissar Mancini. Die beiden Männer verstehen sich auf Anhieb und beginnen gut getarnt in Wespennestern zu stochern…

Schlichtweg großartig. Der Autor versteht es meisterhaft, mit seiner bildhaften, mal poetischen, mal locker-flapsigen Sprache, seinen Dialogen und seinen lebendigen Figuren zu fesseln. Er ist nicht nur ein Sprachkünstler, sondern entwirft zudem einen spannenden Krimiplot in einem für uns exotischen, faszinierenden, für die handelnden Protagonisten jedoch schwierigen Umfeld. Dabei geht dies alles in Hand in Hand, den Figuren werden Sätze in den Mund gelegt, von denen nicht wenige eingerahmt an die Wand gehängt gehören. Die Beschreibungen des Lebens in Syrien und besonders in Damaskus und der Ermittlungsarbeit sind ebenso spannend zu lesen wie der Fall selbst. Fast nebenbei lernt der Leser einiges über die Situation im Land, wie die Menschen trotz Diktatur leben und lieben, immer auf der Hut vor Spitzeln, und wie die verschiedenen religiösen Gruppierungen um die Macht kämpfen. Die Kluft zwischen Stadt- und Landbevölkerung, die oft verarmt und Analphabeten und voller Aberglauben sind, wird überdeutlich. Der Autor beleuchtet politische und religiöse Aspekte, indem er seine Protagonisten Diskurse führen lässt, außerdem wechselt er zwischen Erzählperspektiven. Auf der einen Seite der allwissende Erzähler, auf der anderen Barudis Tagebuch, in welchem Barudi über sein Leben reflektiert, seine Erfahrungen und Gefühle, aber auch seine geheimsten Gedanken zum Fall und zu politischen und religiösen Fragen preis gibt. An sich ein klassischer whodunnit-Krimi, aber auch wieder nicht, denn zwar gibt es auch hier überraschende Wendungen, doch eher auf die leise Art, und das Ende führte bei mir als Leser zu einem lachenden, aber auch zu einem großen weinenden Auge. Der Roman ist vielmehr ein Gesellschaftsportrait und eine Hymne auf den aufrechten, aufgeklärten und liberalen Syrer, eine Geschichte um Freundschaft, Loyalität und Liebe.

Das Hardcover kommt zunächst einmal sehr edel gebunden mit Lesezeichen und einem interessanten Schutzumschlag daher, der mich an die Ornamente einer Moschee erinnert. Unterteilt ist der Roman in 51 Kapitel mit treffenden Überschriften, einige zusätzlich mit dem Hinweis, dass es sich um Barudis Tagebuch handelt. Grundsätzlich verläuft die Handlung chronologisch, auch wenn mitunter bereits geschehene Dinge aus Barudis Perspektive kurz noch einmal erzählt werden, was aber keine Dopplung, sondern eine Ergänzung darstellt. Der Schreibstil ist sehr eingängig, ich als Leser war sofort in der Geschichte gefangen und lebte besonders mit Barudi stark mit. Barudi ist ein vielschichtiger Charakter, eine starke Persönlichkeit und ein vielseitiger Mensch mit vielen faszinierenden Eigenschaften. Er vereint großes Sach- und Fachwissen mit Menschenkenntnis und Intelligenz, ist loyal gegenüber seinen Mitarbeitern, durchaus analytisch, bedient sich aber oft einer orientalisch-blumigen Sprache und reflektiert ungeheuer viel über gesellschaftliche und politische Themen, über das Leben und die Liebe und über seine Mitmenschen. Die Dialoge im Roman sind spritzig und oft lang und behandeln häufig die Themen, die auch Barudi in seinem Tagebuch aufgreift. Manch einer könnte das langatmig finden, ich fand es aufgrund des für mich ungewöhnlichen Plots und des exotischen Umfelds, in dem Barudi ermittelt, faszinierend und spannend. Der Fall selbst gerät auch nie in den Hintergrund, er ist komplex und gestaltet sich schwierig, einfach weil Barudi und sein Kollege Mancini, der zu seinem Freund wird, bei verschiedenen religiösen Gemeinschaften und Gesellschaftsschichten ermitteln. Neben Barudi, der ganz klar die Hauptfigur ist, bei dem die Fäden zusammenlaufen, gab es aber auch bis in die Nebenfiguren hinein interessante Persönlichkeiten, denn keine ist blass oder einseitig gezeichnet, sondern teilweise so vielschichtig (für mich unter anderem Rebellenführer Scharif!), dass man gerne mehr über sie erfahren hätte. Besonders Mancini in Kombination mit Barudi, mit dem er ein erfolgreiches Team bildet, fand ich sehr gelungen, und seine humorvolle Art und unorthodoxen Methoden fand ich recht erfrischend. Hier bildet er einen guten Gegenpol zum überkorrekten, dem System Rechnung tragenden Barudi. Es kommt kein Thema zu kurz, weder der islamistische Terror, noch die Europapolitik, und besonders im Hinblick auf den andauernden Bürgerkrieg in Syrien ist dies zusätzlich erschütternd und hallt lange nach. Der Autor beweist nicht nur große Liebe zu seiner Heimat und ihren Menschen, sondern auch tiefe Einblicke in deren Seele und Traditionen. Er bleibt dabei liebevoll und charmant, und auch wenn er – durch Barudis Mund – klare und auch gefährliche Meinungen äußert, so tut er es doch mit einem Augenzwinkern, und gerade deshalb regt sein Buch zum Nachdenken an und wirkt noch lange nach.

Fazit: Ein toller Roman mit faszinierendem Plot und ebensolchen Charakteren und einer Sprache, die zu Herzen geht. Die Beschäftigung mit Syrien führt dazu, dass man vorgefasste Meinungen (und Vorurteile) überdenkt und einiges in einem anderen Licht sieht. Ein Buch, das man vielen empfehlen kann, nicht jedoch dem klassischen Krimi- und Thrillerleser, die vielleicht eher zerstückelte Leichen und klassische Detektivarbeit erwarten. Für mich jedoch ein erhellendes Buch, das ich nicht mehr aus der Hand legen wollte!