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Veröffentlicht am 09.01.2022

Degeneratives Verhalten: Agonaler Globalwettbewerb als Anti-Familiengesetz?

Die ausgefallene Generation
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Herwig Birg (Jg. 1939) ist ein sehr renommierter Wissenschaftler aus dem Fachgebiet der Demographie und seine Bücher erfreuen sich seit der Migrationskrise von 2015 eines neu erwachten Interesses. So wichtig ...

Herwig Birg (Jg. 1939) ist ein sehr renommierter Wissenschaftler aus dem Fachgebiet der Demographie und seine Bücher erfreuen sich seit der Migrationskrise von 2015 eines neu erwachten Interesses. So wichtig dieses Fachgebiet aber auch sein mag, so stiefmütterlich scheint es bisher behandelt worden zu sein. In seiner Publikation von 2001 („Zeitenwende“) nennt Birg auch hier beeindruckende Zahlen und Größenvergleiche: „Es gibt in Deutschland Hunderte von Lehrstühlen für Soziologie und VWL, aber (…) nur vier für Demographie.“ (194) Das Fach ist von nominalen Zahlenwerten und relativen Anteilen ohnehin sehr geprägt und Birgs Bücher sind Früchte einer strengen, zuweilen engen Gelehrsamkeit, in der Tabellen, Grafiken und Schaubilder viele Seiten füllen, keine geringe Hürde für interessierte Laien, die sich mit solchen Belegen und Beweisführungen eher schwertun (mich eingeschlossen). Aber der Stachel im Fleisch dessen, was bisher als DEUTSCH gelten konnte, sitzt bei einigen doch sehr tief und lässt viele nicht zur Ruhe kommen, wie wir in den Nachrichten aus der Tagespolitik sehen können. Es sind ja zu allererst die Sinne, die uns das Gefühl einer als bedrohlich empfundenen Überfremdung vermitteln und Aufarbeitungen im Bereich der Rationalität sind ein probates Mittel gegen zu viel hoch kochende Emotionalität. Birg kann nachweisen, dass die Jahrgänge 1950 und 1955 sehr verschiedene Berufschancen hatten, obwohl sie nur ein halbes Jahrzehnt trennt (Birg 2005, S. 83). Wenn der 1955 Geborene 1961 eingeschult wird, 1974 sein Abitur ablegt, 1987 seine Promotion verteidigt und 1999 sein Reihenhaus bezieht, ist die Erdbevölkerung jeweils auf 3, 4, 5 und 6 Mrd. angestiegen (24), ohne dass er mehr davon gemerkt hat als bei der jährlichen Reise der Erde um die Sonne und den dabei zurückgelegten Strecken, die ja auch gewaltig sind. Die dabei auf den Organismus einwirkende Alterung ist aber nun keine nur individuell zu verbuchende Singularität, sie ist zu einer sowohl deutschen wie auch europäischen Besonderheit geworden: fast alle anderen sind jünger. Das Anti-Familiengesetz (57) in einem global-agonalen Hyperwettbewerb hat offenbar besonders diese Regionen am härtesten getroffen und die meisten Frauen dort (und nur dort) zur Entscheidung der Totalabstinenz in Sachen generativem Verhalten geführt. Während Birg einerseits bei den Ökonomen eine „tunnelförmige Sicht“ bei der Frage des „Nutzens von Kindern“ feststellt (81), diskutiert er andererseits unter dem Stichwort der „Opportunitätskosten“ in dem Werk von 2001 („Zeitenwende“) den schon von Friedrich List aus Württemberg gefundenen „Antagonismus von Demographie und Ökonomie“ in seiner ganzen Breite von Adam Smith´ „unsichtbarer Hand“ über Mandevilles „Bienenfabel“ bis zu Schumpeters Aussage über die Lehren der „utilitarian lesson“ - „children cease to be economic assets.“ (60-62) Für Birg sind ganze Generationen ausgefallen („implodiert“, 80) und die Uhr steht „dreißig Jahre nach zwölf“ (149). Das kann man „alarmistisch“ finden, dem Autor aber sicher nicht vorwerfen, dass er uns nicht gewarnt hätte. Wahrscheinlich käme eine solche Warnung ohnehin zu spät. Deutschland
kommt aus einer spätabsolutistischen Staatstradition, die ihren Ursprung in Preußen hat. Dort hatten die Regenten u.a. die Neigung, den Landeskindern dadurch die Sporen zu geben, dass sie ihnen Konkurrenten ins Haus holten, wenn sie die Plangrößen nicht erfüllten. Damals nannte man das eine Politik der Peuplierung. Bleiben wir also bloß einer preußischen Staatstradition treu? Herwig Birg findet eine Analogie aus dem Beherbergungswesen: „ Es ist wie bei einem Hotel, dessen Aufwand an Versorgungsleistungen für seine Gäste man nicht an der Differenz zwischen der Zahl der täglichen An- und Abmeldungen messen kann.“ (103) Ein starker Staat mit einer noch stärkeren Bürokratie ist auf sog. Landeskinder nicht mehr angewiesen. Er kann sie von überall her zuwandern lassen. Sie sollen sich nicht mit dem Gütesiegel der Nationalität zur Ruhe setzen, sondern sich mit dem Furor-Eifer des Zugewanderten den Allerwertesten aufreißen. Wer davon dann am meisten profitiert, nun, das ist eben die Frage und vermutlich reine Ansichtssache: Sind es die Wenigen oder sind es die Vielen?
Michael Karl

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Veröffentlicht am 09.01.2022

Das Gedächtnis ist ein Holzhaus

Das Chalet der Erinnerungen
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Als ein „Historiker der Nachkriegszeit“ legt Tony Judt (1948-2010) in diesem letzten kleinen Werk fünfundzwanzig episodenhafte und fragmentarische Erinnerungssplitter („Feuilletons“, 19) vor, die er in ...

Als ein „Historiker der Nachkriegszeit“ legt Tony Judt (1948-2010) in diesem letzten kleinen Werk fünfundzwanzig episodenhafte und fragmentarische Erinnerungssplitter („Feuilletons“, 19) vor, die er in seinem letzten Lebensjahr der tödlichen Motoneuron-Krankheit (21) A.L.S. in nächtlichen Exerzitien abgerungen hat. Als Gedächtnis- und Speicherort diente Judt ein Holzhaus in „einem unspektakulären Wintersportort im Wallis“ (9), das er im Alter von etwa 10 Jahren im Urlaub mit den Eltern kennen lernte und das er nun beim Einüben ins eigene Sterben als mnemotechnisches Mantra und Depot wieder entdeckte, indem er „Segmente meiner Vergangenheit wie Lego-Steine zusammenfügte.“ (13) Judts Kindheitsjahre (38) stehen unter dem Diktat der Austerity in der Nachkriegszeit. Die Eltern „wohnten direkt über dem Friseurladen, in dem (sie) arbeiteten, während die meisten meiner Freunde in ärmlichen Verhältnissen oder Behelfsquartieren wohnten.“ (34,60) Die Mutter wächst nahe den Docklands „in einem typischen Cockney-Umfeld“ auf und verbarg ihr Jüdischsein „peinlichst“. (42) Die Eltern des Vaters sind aus Polen bzw. aus einem „litauischen Schtetl“ zugewandert. (43) Dem Vater reicht der Sohn das Werkzeug, wenn jener als Autonarr an seinem Citroen herum schraubt (50); mit 17 schafft sich der Sohn einen 2CV an. (54) Die Babyboomer „wuchsen wie selbstverständlich mit Autos und autovernarrten Vätern auf“ (55), wobei die kulturelle Hinterlassenschaft jener Boomgeneration „aber viel dünner (war) als das, was wir übernommen hatten.“ (146) Putney am Flussufer der Themse ist dann 1952-58 sozialtopographisch ein respektabler Rahmen für die bevorstehende Akademikerkarriere (57ff), auch wenn die Mews neben Werkstätten noch immer zwei Gäule für den lokalen Transport beherbergen. Der örtliche Sainsbury ist noch ein kleiner Laden „mit nur einem Schaufenster“. (60) Ab 1958 leben die Judts dann in Kingston Hill, neun Jahre lang, „bis meine Eltern kein Geld mehr hatten.“ (62) 1966 ist Tony dann schon in Cambridge (63, 105ff, 137ff), nach einer „freudlosen“ Schulzeit 1959-65 in „eine(r) viktorianische(n) Anstalt in Battersea, zwischen den beiden Bahnlinien gelegen, die von Clapham Junction nach Süden verlaufen.“ (89) Der fliegende Wechsel ans King´s kam 1966, als die Tradition, an solchen -aus dem Spätmittelalter stammenden- Einrichtungen ein kontemplatives, mönchisches Leben (zu führen)“, bereits zur Fiktion geronnen war, die „postautoritäre Zeit“ aber erst 1972 Mädchen am College zuließ. (109f) Judt jobbt von 1966-70, als Supermärkte „praktisch (noch) unbekannt“ waren, als Kurierfahrer und liefert in Südlondon „Teppiche, Haushaltsartikel und Wäsche aus.“ (132) Ein Jahr als Auslandsstudent in der Rue d´Ulm 1970 konfrontiert ihn mit dem elitären Anspruch, dem „gepaukten Faktenwissen“ und dem Verbalradikalismus der Pariser ENS- und ENA-Studenten sowie deren Parolen: „les murs ont la parole“ oder „ faisons table rase du passé“ (118, wir räumen mit der Vergangenheit auf). Am King´s lebt Judt unter Meritokraten (137ff) und mit akademischen Lehrern, „die sich nicht um Ruhm (und materiellen Reichtum) scherten und denen jedes Zweckdenken fremd war.“ (141) Wissenschaft an der Cam stand für „Esprit, Neugier und vor allem Offenheit“, sodass Judt dort promoviert und sechs Jahre dem Lehrkörper angehört, bevor er 1978 nach Berkeley weiter zieht. (142, 159ff) 1987 (bis zu seinem Tod) lebt und lehrt er in New York. (191ff) „Mit Abstand das Beste an Amerika sind seine Hochschulen.“ (164)
Michael Karl

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Veröffentlicht am 09.01.2022

Alemannisches Lamm mit Schlitzohren

Böse Jahre, gute Jahre
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An Neujahr 2011 schrieb Hans Maier (HM, Jg.1931) das Nachwort zu seinem Buch der Erinnerungen. „Ein Leben 1931ff“, salopp betitelt, beginnt in Freiburg im Breisgau, in dem 1907 erbauten Kaiserhof in der ...

An Neujahr 2011 schrieb Hans Maier (HM, Jg.1931) das Nachwort zu seinem Buch der Erinnerungen. „Ein Leben 1931ff“, salopp betitelt, beginnt in Freiburg im Breisgau, in dem 1907 erbauten Kaiserhof in der Oberau - „an unserer Wohnung floss die Dreisam vorbei.“ (10) Die Verwandtschaft in der Nähe prägen Landwirte und Winzer, in der Ferne gibt es zahlreiche Ausgewanderte in den USA und in Japan. Die Land-Verwandtschaft hält den werdenden Akademiker, den ersten in ihren Reihen, für „nicht mehr als ein(en) Sozialfall, als eine zur Hälfte oder zur Gänze gescheiterte Existenz“ (94), was sich erst ändert, als sich Maiers Habil.schrift auf den Spuren von De la Mares „Traité de la Police“ zu einer „Strukturanalyse der deutschen Territorialstaaten des 16. - 18. Jhts.“ ausgeweitet hatte, wie ihm sogar Gerhard Ritter in einem Brief bescheinigte. (87-93) Bis dahin war es aber ein weiter Weg, denn „ein böses Doppeljahr, von Mitte 1931 zu Mitte 1932“, kostete ihn und seine fürsorgliche Mutter zuerst den älteren Bruder Ernst, der achtjährig in den Treppenschacht stürzt und einen Schädelbruch nicht überlebt, dann den Vater und Ernährer, der mit nur 44 Jahren an einer Sepsis nach Lungenentzündung verstirbt. (14) Die Mutter überwindet den Schock nie und trägt bis zu ihrem Tod 1981 „beide Eheringe, den des verstorbenen Mannes und den eigenen“ und unterschreibt mit Paula Maier Wwe, „wie es die Witwen früher taten.“ (15) Im Raufen ungeübt missfällt dem Volksschüler Hans Maier seine Schule am Messplatz und die Klassen mit Bänken für 40 (männliche) Schüler. (29) Abhilfe schafft das seit 1942 besuchte Gymnasium, denn dort herrschte trotz der finalen Nazi-Zeit und der Hochphase des Weltkrieges „ein freundlicherer Ton als an anderen Schulen.“ (37) „Lehrer am Gymnasium“ nennt HM mit der Formel Fontanes „ein weites Feld“ (38) und beklagt zum 27.11.1944 den „Luftangriff der britischen Royal Air Force, der das schöne Freiburg in Schutt und Asche legte.“ (44) Die Jahre 1946 -1962 hat HM „überwiegend in Freiburg verbracht, als Schüler und Student und später als Assistent und Dozent.“ (49) 1948 sitzt er beim Jobben mit Günter Gaus und Hans Magnus Enzensberger im Funkhaus des SWF in Günterstal am runden Tisch (52) oder lässt sich von Kurt Sontheimer interviewen (55), der ihm auch den Wechsel von dem heiß geliebten, aber problematischen Hauptfach Geschichte zur neuen Politikwissenschaft schmackhaft machte. (79) Während in Basel Karl Barth über das „Jasperle-Theater“ am Ort lästerte, in Frankfurt Adorno über Hindemith herzog, die „Ordinarien alten Stils“ sich mithin „als autoritäre Lehrer mit wenig Fähigkeit zur Selbstkritik“ erwiesen, mussten die Nachwuchskräfte in Freiburg bei Arnold Bergstraesser „nie das Rauchfass der Verehrung schwingen.“ (83) Und auch bei den Ökonomen vor Ort war noch keine Spur von Gary S. Beckers imperial economics zu entdecken: „Sie hatten ein waches Gefühl für die nichtökonomischen Voraussetzungen der Ökonomie.“ (100) Im Laufe des Jahres 1962 erhält HM drei (!) Rufe und entscheidet sich für die LMU in München (115), wo Eric Vögelin seit 1957 das Fach vertrat und einen Kärrner brauchte (127), also gegen Mainz und das abgelegene Berlin, wo es noch ein sog. „Zittergeld“ gab. „Die Studenten waren nur wenige Jahre jünger als ich“ (132), eine Zeitlang war HM sogar „der jüngste Professor an der LMU.“ (120) Parallel ist er mit dem vatikanischen Konzil beschäftigt (138ff) und natürlich mit den 68ern (152ff), hier eher bremsend, dort zuweilen antreibend: Die Universität erscheint HM schon Anfang der 60er Jahre als „das ringsum von Schul- und Berufsbedürfnissen eingekreiste Eiland eines mehr und mehr romantisch werdenden Gelehrtentums.“ (154) Dem Professor im Junioralter gefallen weder „die lärmenden Revolutionsspiele der Bürgerkinder“ noch „der elitäre Erzieher-Hochmut des SDS und seiner Trabanten“ (167), dabei sieht er den Umbruch schon klar als das Ende einer „auf Askese, Disziplin und Leistung gestimmte (Nachkriegs-)Zeit.“ (159) Am 22.11.1970 entscheiden sich dann für HM die nächsten 16 Berufsjahre, die er mit einem „Sinn für Symmetrie“ (241) als bayerischer Kultusminister auf 8 Jahre im Kabinett „Goppel III + IV“ sowie auf zwei Amtszeiten unter Strauß (FJS) verteilte. (175ff) Der „Quer- und Seiteneinsteiger“ aus dem Alemannischen ist ohne Mandat (im Landtag) und ohne Parteibuch (der CSU) in sein Amt gekommen und wird nun jeden Morgen mit dem Dienstauto samt Chauffeur ins Amt oder zu Terminen gefahren - manchmal kommt sogar ein Hubschrauber zum Einsatz, um learning und doing unter einen Hut zu bringen. Neben dem Metier des Kultus galt es die CSU - Vertreter in den Wahlkreisen zu besuchen und deren Wähler auf den Versammlungen und Festen kennen zu lernen, die „Bavarität“. (243) Denn die CSU jener Jahre war noch eine im Volk verankerte Partei, ihre Volksvertreter hatten diesen Namen noch verdient und sie stammten selber noch von diesen kleinen Leuten ab, von denen sie sich nur durch Ehrgeiz und Aufstieg ein wenig abhoben. (189ff) Der Kultusetat betrug rd. 4 Mrd. - „mehr als ein Viertel des bayerischen Staatshaushaltes“ jener Zeit. (196) Als sich dann FJS wieder auf die Landespolitik besann, wurde es in München ungemütlich, wie nicht nur HM (+ seine Frau!) zum Beispiel auf der Seiser Alm in Tirol am 8.10.1976 erfahren sollten. (249) Politik ist ja vor allem Streit und Auseinandersetzung, zumal wenn ein Landesvater (Goppel) von einem Bayernherrscher (Strauß) abgelöst werden sollte und letzterer sein „singuläres Redetalent“ oft nicht mit der notwendigen Selbstbeherrschung zügeln konnte. (250ff) HMs Bilanz: 3 Kabinette Strauß haben „im Land weit weniger bewegt als die vier Kabinette Goppel.“ (259) Kein Wunder also, dass die letzten Jahre 1982-86 mit FJS (Strauß III) „schwierig, oft quälend“ waren (263/285), sodass es, mit Böll gesprochen, zum „Ende einer Dienstfahrt“ kommen musste. Obwohl plötzlich zum „Watschenbaum“ geworden, wird HM von FJS nach gewonnener Wahl dennoch angeboten, „dass ich das Ministerium für Wissenschaft und Kunst übernehme.“ (299) Der Ablehnung folgt der Abgang und ein Übergang auf den vakanten Guardini-Lehrstuhl an der LMU. (303ff) 1988 ist HM also wieder „Kollege unter Kollegen“ (316) wie Frühwald, Boehm, Henrich oder Spaemann. Die Antrittsvorlesung, seine dritte nach Freiburg und München, widmet sich „der - seltsam unbekannten - Geschichte der christlichen Zeitrechnung.“ (322) 1999 wird HM dann emeritiert und zum Abschied aus der Universität spricht er „Von der Schönheit des Christentums.“ (330) Dieses aus meiner Sicht ungemein reich- und werthaltige Buch hat noch viele weitere Facetten, darunter (nicht zuletzt) die Existenz von sechs (!) erwachsenen Töchtern, denen vom eigenen Vater die Frage vorgelegt wurde, was es für sie bedeutet habe, in Zeiten eines KuMI Maier Schülerinnen gewesen zu sein. Die Antworten sind ausführlich dokumentiert. Auf dem Mädchenklo (!) fand sich etwa der die Leserin schockierende Spruch: „Haut dem Maier in die E...!“ (308)
Michael Karl

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Veröffentlicht am 09.01.2022

„Ich weiß noch“: Ist das Imperium aus Worten nur ein Kartenhaus?

Das Leben wortwörtlich
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Martin Walser (MW Jg.1927) teilt das Geburtsjahr mit anderen Koryphäen des geschriebenen und gesprochenen Wortes wie Grass, Marquez, Mulisch oder Luhmann. In seinem 90. Lebensjahr (!) erschien 2017 zuerst ...

Martin Walser (MW Jg.1927) teilt das Geburtsjahr mit anderen Koryphäen des geschriebenen und gesprochenen Wortes wie Grass, Marquez, Mulisch oder Luhmann. In seinem 90. Lebensjahr (!) erschien 2017 zuerst ein Band mit immerhin 39 ausführlichen Interviews aus der zweiten Lebenshälfte ab 1978, darunter auch eines mit Rudolf Augstein vom 2.11.1998 („Erinnerung kann man nicht befehlen“, S.221-247). Beim Titel angefangen („Ich würde heute ungern sterben“) bis zu zahlreichen Bonmots wie „Die Sinne sind meine Philosophen“ (441) oder „Eitelkeit ist eine Daseinsvoraussetzung“ (492) kann man als Leser nur blass werden vor Neid auf so viel Kompetenz in Sachen Zuspitzung, Ausdrucksstärke und Geländemarkierung. Viele Leser bewegen sich in diesem großen Walsertal weniger der Geschichten wegen, sondern wegen dieser markanten Fähigkeit zum Zurückschlagen, zur sprachlichen Durchschlagskraft (die ja auch Politiker auszeichnen sollte). Manche Walser-Leser sind auch erschrocken über die Neigung zu Grobheit („jeder Depp“), Zügellosigkeit, Blasphemie, Flüchen oder Verbalinjurien („Heilandzack“; „Herrgottsakra“), wenn er als Doktor Walser wieder einmal lauter falsche Leben im richtigen diagnostizieren muss, und zwar nicht nur in Philippsburg. Manchmal genügt bei MW ja ein falsch gewähltes Wort zum Ausrasten, zum Blitzangriff auf die Palme, zum Jähzorn (!). Verhasst sind ihm, der das Soziale selber so wichtig nimmt, die „Operationswörter“ (57) und die sprachlichen Hülsenfrüchte der Soziologen. Verhasst sind ihm Leute mit einem Zuviel an Abstand wie Thomas Mann oder Teddie Wiesengrund. Argwohn wecken Verallgemeinerungen, die meist zu Verschwommenheit führten, was nur MW so begründen kann: „Man steht vor einem Grabstein auch mit weniger Schrecken als vor einer Leiche, nicht wahr.“ (75) Ist daraus die Idee geboren worden, diese Kraftnatur, einen feinsinnigen Berserker vom Bodensee, zu einem Gespräch zwischen den Generationen einzuladen, bei welchem die Fragen vom eigenen Sohn (Jg. 1967) gestellt wurden, auch wenn (oder gerade weil) dieser in einem anderen Haushalt als dem eigenen aufgewachsen ist? Wenn ja, dann hat die Sache ziemlich hingehauen. Der Publizist und Spiegel-Erbe Jakob jedenfalls macht seine Sache vorzüglich, bleibt beim Nachfragen oft konsequent und der Vater zeigt meist eine Bereitschaft zu Konzilianz und Nachsicht, die gewiss noch nicht von „Altersmilde“ zeugt -„Bitte nimm das zurück!“ (38,61) oder „Bitte frag mich etwas anderes!“ (73) Damit muss MW keine „zweite Blechtrommel“ schreiben, wie es Grass auf seine alten Tage tatsächlich getan hat, sondern er begleitet seinen Sohn zu den markanten Wahrzeichen des Walserlandes, einem Imperium aus Worten. Eine Kindheit im dörflichen Wasserburg am Bodensee, eine Gastwirtschaft in der Ferienprovinz als Existenzgrundlage („Geschäft“), ein Parteieintritt der Mutter (Augusta) ausschließlich zur Pleitenprophylaxe (Vergantung), unterfüttert mit existenzieller Angst, die heute nur noch wenige so kennen, Rudersport in der Marine HJ mit einer denkwürdigen Zugfahrt 1944 vorbei an Ruinenlandschaften bis zur Insel Dänholm: „Ich bin tatsächlich Reichsmeister (im Signalwinken!) geworden.“ (65) „Hat das Spaß gemacht?“ „Und wie!“ Der kleine Martin „war ein großer Leser“ (67), musste aber mit kaum 15 Jahren „von der Schule wegbleiben und 400 Zentner (!) Brikett rausschaufeln.“ (51) Übrigens eine körperliche Arbeit, vor der sich offenbar sowohl der eigene Vater wie der ältere Bruder eher drückten. Mit 16 meldet er sich kriegsfreiwillig zu den Gebirgsjägern, weil er schon Skifahren, aber nicht gut sehen kann, sonst wäre er, wie der mit 19 gefallene Bruder Josef, zu den „Panzern“ gegangen. Mit 18 kommt es zu einer Braut und Jakobs Frage nach dem Wie und Warum wird in einem Abschnitt von vierzehn Zeilen beschrieben, um der Verkürzung der Frage aus dem Weg zu gehen; Käthe J. ist die ausgebombte Tochter einer Friedrichshafener Hoteliersfamilie, die in Wasserburg die Pacht für das Walserhotel übernehmen, als Augusta keine Kraft mehr für die Beherbergung von Gästen hatte. (74) Das kann nur noch Martin Walser, er würde sagen, das sei „erfahrungsgesättigt“, also das Gegenteil von theoretisch. Wenn die heute den Globus Beherrschenden so nah an den Leuten wären, wie MW es meistens war, hätten Parteien wie die AfD vermutlich weniger Zulauf. 1958 ist er zum ersten Mal in den USA, drei Monate bei Kissinger in Harvard (121,263). 1963 betreut er eine Aufführung eines seiner Theaterstücke in Edinburgh, wo es wie bei einem „fringe festival“ recht „lustig“ zugeht - Stichworte sind chicken farm, puffin, rabbit race oder Cees Nooteboom (162ff). Es gibt also viel Stoff aus der reality zum Verarbeiten in Roma-nen und weiteren Theaterstücken. Der künstlerische Reifungsprozess hält bis Ende der 70er Jahre an, als MW mit dem „Fliehenden Pferd“ endlich aus dem Gröbsten raus ist und der ehemalige Radio-Reporter viele Interviewanfragen aus Solidarität mit der Zunft und ihren oft prekären Arbeitsverträgen einfach nicht ablehnen kann. Romane sind für MW Erinnerungsdenkmale, es gibt geradezu eine „Erinnerungspflicht“; sie sollen „etwas zeigen. Nicht erklären.“ (265 u.ö.) Überhaupt sind sie ´Sachbücher der Seele´, der Autor ist „wirklichkeitsgesättigt“, denn „Ich hatte den Realismus.“ (121) Der Verriss eines FAZ-Kritikers zum Roman von 1960 war allzu respektlos und arrogant überschrieben mit dem Titel: „Toter Elefant auf einem Handkarren.“ (127) Das führte zu weiterer Narbenbildung, denn MW fühlt sich seit seiner Dorfkindheit den Mächtigen ausgeliefert. Und Macht lauert schon an der nächsten Straßenecke. Sogar Freundschaften unterliegen einem agonalen Wettbewerbs- und Mangelprinzip, an dem auch heutige Ökonomen wie Gary S. Becker ihre helle Freude hätten. Der alemannische Kafka wird gebraucht - von Peter Hamm, von Unseld gegen die Lektoren, von Uwe Johnson, nicht selten zum Streiten, von der eigenen Mutter zum Überleben, vom Muschelesser Koeppen zur Unterhaltung. (11,105,177 u.ö.).Mangelerfahrung und Narbenbildung sind nicht ohne Tagebuch zu ertragen und der regelmäßige Blick in den Spiegel stärkt den eigenen Rücken, das durch Wortimperien allein kaum herstellbare Selbstbewusstsein. Was Jakob kaum glauben mag. Denn er kann beides, Spiegel und Tagebuch, durchaus entbehren, vermutet eine Neigung zu Inszenierung und Stilisierung und pocht auf die wahren Zusammenhänge und Kausalitäten: „Das glaube ich dir nicht.“ (157,199,221,273) Das hält das Gespräch über 330 Seiten am Leben. Das Buch trägt dadurch mitunter Züge einer Generalbeichte coram publico, woher die Absolution kommen soll, ist aber eine offene Frage - aus der Öffentlichkeit, aus dem Publikum, von den Mitmenschen (welchen Alters?), von den Zeitgenossen? Über die Generationengrenzen (1927/1967) hinweg? Mithin gesamtdeutsch? Tout comprendre c´est tout pardonner? Vermutlich liegt sie allein in dem Kraftakt, der der Verbalisierung zugrunde liegt, zumal MW den Verben mehr vertraut als den Begriffen und Jakob Augstein sehr viel gelesen haben muss, um die Geschichte seiner Herkunft überhaupt bewältigen zu können: „Warum müssen die Kinder hinter den Eltern aufräumen?“ (327) Wie auch immer, die weiblichen Romanfiguren tragen bei MW so anfechtbare Vornamen wie Silvi, Orli, Beate, Anna, Birga oder Elsa. Und auch eine Nelly Pergament (275) ist nur scheinbar eine Ausnahme. Wie bei der Bachmann sind diese weiblichen Geschöpfe unter der Haube bzw. Trockenhaube und meistens haben nur die Männer richtige Nachnamen, also das Sagen, die Position, die Macht und das Geld. Die eigene Gattin, jene Käthe J., ist übrigens „eine von Innigkeit unerschöpfliche Frau.“ (169) Wer so kompromisslos und realitätsversessen nach dem „wahren Jakob“ sucht, liefert sich, wie MW schon am Anfang der Gespräche vermutet, Spott und Schadenfreude aus: „Jeder Depp kann sich auf uns stürzen.“ (11) Könnte das absichtlich verdreht zitierte „Fiat vita pereat veritas“ (101) am Ende gar noch eine Stammtischparole sein? Könnte MWs immenses Schreibwerk aus einer Nähe zum Volk, zu dörflichen Redensarten, Dialekten und Stammtischparolen emporgewachsen sein, aus einer „Schule des Lebens“? „Ich weiß noch…“ (257 u.ö.) Also zusammengefasst: Nazizeit und Idylle (plus Mohrle)? Am besten ist es wohl abschließend, wenn sich jeder Leser selber ein Bild macht und sich schnellstens dieses tolle Buch besorgt, in dem auch ein „Franziskanerpater mit einer Flügelspannweite von mehreren Metern“ (303) vorkommt.
Michael Karl

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Veröffentlicht am 05.01.2022

Über die Tatsachengläubigkeit des Fachmenschen (38)

Erziehung zur Mündigkeit
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Adorno (1903-69) kommt aus einer anderen Welt, die noch nach der Autonomie des Menschen gefragt hat. Wir leben heute in einer Welt, zumal in deutschen Landen, die lieber nach der Autonomie von Fahrzeugen ...

Adorno (1903-69) kommt aus einer anderen Welt, die noch nach der Autonomie des Menschen gefragt hat. Wir leben heute in einer Welt, zumal in deutschen Landen, die lieber nach der Autonomie von Fahrzeugen („autonomes Fahren“) fragt und die bereit ist, Unsummen in solche (und andere technische) Entwicklungen zu investieren. 50 Jahre nach Adorno könnte der Abstand zwischen ihm und uns nicht größer sein. Es sollte deshalb nicht wundern, dass alte Adorno-Bändchen von Suhrkamp im Antiquariat entweder ausverkauft oder sündhaft teuer sind. Den vorliegenden kleinen Band kann man also getrost neu kaufen, denn man bekommt acht Texte und zahlt für jeden nur einen Euro. Es handelt sich um vier Vorträge und vier Gespräche aus den 1960er Jahren zum Thema Bildung. Wer nach der Autonomie von Menschen statt von Fahrzeugen fragt, muss wohl ein anderes Verständnis von Bildung haben als wir heute mit unseren kompetenzorientierten G8 - Gymnasien. Der zweite Text („Philosophie und Lehrer“) stammt aus dem Jahr 1962 und reflektiert die Erfahrungen des Hochschullehrers mit Lehramtsprüfungen, in denen hessische Examenskandidaten jener Zeit unabhängig von ihrem Studien- und späteren Unterrichtsfach ein sog. Philosophicum (33) ablegen mussten und dabei auf Adorno treffen konnten - nicht immer zu ihrer Freude (29-49). Der vierte Text („Tabus über dem Lehrberuf“) geht der Frage nach den historischen und sozialen Wurzeln einer „Abneigung gegen den Lehrberuf“ (70) nach (70-88), die v.a. im Deutschen (Pauker, Steißtrommler) oder Englischen (schoolmarm) zu greifen sei (73) und im Kontrast stehe zu einer geradezu „magische(n) Verehrung“ von Lehrkräften in China oder im Judentum. (75) Lehrer waren hierzulande „zwar Akademiker, aber nicht eigentlich gesellschaftsfähig.“ (72) Adorno sieht sie im 4. Text als „Erbe der Scriba“ (73) oder „Erbe der Mönche“ (75), die ihren „Anspruch des Geistes auf Status und Herrschaft“ (72) noch nicht durchsetzen konnten. In der „Ontologie des Lehrers“ (77) sieht er eine gesellschaftlich eher beargwöhnte Neigung zu potentieller unfairness, die sich aus einer Lizenz zum Redenschwingen vor Minderjährigen und dem „Vorsprung des Wissens vor dem seiner Schüler“ (76), also einer ins Schulsystem eingebauten Asymmetrie verdankt, die „wirkliche Macht nur parodiert“ (75). Adorno erhofft sich 1965, dass „aus der Versachlichung des Lehrberufs (…) ein gewisser Umschwung“ eintritt, der auch die Hochschullehrer nicht unberührt lässt und bei diesen allerdings dazu führen könne, dass sie „allmählich (…) zum Verkäufer von Kenntnissen“ würden, „ein wenig bemitleidet, weil er jene Kenntnisse nicht besser für sein eigenes materielles Interesse zu verwerten vermag.“ (76) Der Hürde des Philosophicum stellten sich die meisten hessischen Lehramtsanwärter jener Zeit jedenfalls mit einem eher mulmigen Gefühl, „deren Ängste wir uns gut vorstellen können.“ (30) „Philosophie belastet die zukünftigen Lehrer“ (35), weil sie über den Tellerrand der eigenen Fächer hinaussehen sollen, sich aber lieber an die Sekurität des eigenen Fachwissens und des eigenen Fachmenschentums, den Adorno mit dem Vorwurf der Verdinglichung belegt, festklammern. „Wir möchten also in dieser Prüfung sehen, ob diejenigen, die als Lehrer an Höheren Schulen mit einem schweren Maß an Verantwortung für die geistige und reale Entwicklung Deutschlands belastet sind, Intellektuelle sind, oder, wie Ibsen vor nun schon achzig Jahren es nannte, bloße (!) Fachmenschen.“ (32) Die Nähe zur Einseitigkeit und Unbedingheit des Fachidiotentums ist nicht zu übersehen und „Ausdruck der Verdinglichung des Geistes, die dieser mit der zunehmend verdinglichten Tauschgesellschaft erfuhr.“ (33) Als Leser von Adornos Text darf man mit den damaligen Examenskandidaten gerne mitschwitzen, denn wer könnte heute in einer solchen Prüfungen „den Mangel an dynamischen Kategorien in der Cartesianischen Konzeption von der Natur“ (37) noch richtig einschätzen, den Zusammenhang von Bergsons Philosophie mit dem Impressionismus (40) noch zutreffend bestimmen oder in Zeiten von Donald Trump und Boris Johnson „vom Unterschied der Sprache als einem Mittel der Kommunikation und der als einem des präzisen Ausdrucks der Sache“ (41) noch verständnisvoll sprechen? Eine Entlastung durch Popmusik ließ der gestrenge Lehrer übrigens nicht durchgehen: „Mit Barbarei meine ich nicht die Beatles, obwohl ihr Kult dazu gehört.“ (86)
Michael Karl

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