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Veröffentlicht am 11.02.2025

Spannendes, aber auch ernstes Sachbuch

Fatale Flora. Von giftigen Pflanzen und gemeinen Menschen
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Der Garten von Alnwick Castle in Northumberland im Norden Englands ist ein ganz besonderer Ort. Dort existiert seit 2005 der „Poison Garden“, der über 100 Gift- und narkotische Pflanzen beherbergt und ...

Der Garten von Alnwick Castle in Northumberland im Norden Englands ist ein ganz besonderer Ort. Dort existiert seit 2005 der „Poison Garden“, der über 100 Gift- und narkotische Pflanzen beherbergt und nur im Rahmen einer Führung besucht werden darf. Das tat auch die Journalistin Noemi Harnickell und verfasste daraufhin ihr zweites Sachbuch „Fatale Flora“. In diesem widmet sie sich 12 verschiedenen Giftpflanzen, beschreibt sie und ihre Wirkung, berichtet aus der Forschung und erzählt von historischen Fällen. Darüber hinaus webt sie auch immer wieder Szenen aus der Führung durch Alnwick Garden ein.

Der Schweizer Arzt und Philosoph Paracelsus prägte im 16. Jahrhundert die Feststellung, dass es die Dosis sei, die ein Gift ausmache. Pflanzen ernähren uns, liefern uns Kleidung und heilen uns, sie können uns aber auch schaden. So wird beispielsweise der giftige Fingerhut zur Herstellung von Digitalis, einem Herzmedikament verwendet. Auch die Droge Heroin aus der Gruppe der Opiate diente zunächst als Schmerz- und Hustenmittel. Diese Zusammenhänge stellt die Autorin sehr übersichtlich und gut verständlich dar.

Obwohl „Fatale Flora“ eine kurzweilige und unterhaltsame Lektüre ist, spricht das Buch auch sehr ernste Themen an, worauf die Autorin auch in ihrem Vorwort hinweist. Gifte dienten historisch immer wieder als furchtbare Waffen, sei es Zyanid in den Händen der Nationalsozialisten oder des Sektenführers Jim Jones, Nowitschok, das in den Anschlägen auf Alexei Nawalny sowie Sergei und Yulia Skripal verwendet wurde oder Rizin, das in der Spitze eines Regenschirms Georgi Markow das Leben kostete. Auch bekannte Serienmörder, wie der Lambeth Poisoner Thomas Neill Cream oder der berüchtigte Dr. Crippen werden erwähnt. In einem separaten Kapitel widmet sich die Autorin auch der Frage, warum weibliche Serienmörderinnen, wie bspw. Mary Ann Cotton (tötete mehr Menschen als Jack the Ripper), lieber übersehen werden.

Die meisten Gifte in Noemi Harnickells Buch sind solche, die man erwarten würde: Tollkirsche, Stechapfel, Brechnuss, Engelstrompete – eines überrascht jedoch und eigentlich auch wieder nicht, der Tabak. Allein in Deutschland sterben jährlich 143.000 Menschen an den Folgen des Konsums. Alkohol, wie die Autorin im Nachwort erwähnt, ist ein noch stärker akzeptiertes Gift. Ein spannendes, unterhaltsames Sachbuch, das auch zum Nachdenken anregt.

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Veröffentlicht am 05.02.2025

Interessante Sozialstudie mit hart arbeitender Heldin

Frau Hempels Tochter. Roman
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Laura lebt mit ihren Eltern in einem Berliner Mietshaus. Ihr Vater ist Schuster, die Mutter Portiersfrau (= Hausmeisterin) des Gebäudes. Beide arbeiten hart, damit ihre Tochter aufsteigen und ein besseres ...

Laura lebt mit ihren Eltern in einem Berliner Mietshaus. Ihr Vater ist Schuster, die Mutter Portiersfrau (= Hausmeisterin) des Gebäudes. Beide arbeiten hart, damit ihre Tochter aufsteigen und ein besseres Leben führen kann. Vor allem Frau Hempel nimmt stets zusätzliche Aufgaben an und knüpft wichtige Kontakte, um Laura zu unterstützen. Als diese als Kindermädchen in den Haushalt eines Bankdirektors eintritt, beginnt sie von einem Leben in Wohlstand zu träumen. Doch dann fällt ihr im Fenster gegenüber ein junger Mann auf.

„Frau Hempels Tochter“ von Alice Berend erschien erstmals im Jahr 1913. Als jüdische Schriftstellerin geriet sie ab 1933 in den Fokus der Nationalsozialisten, ihre Werke wurden verboten und sie musste in die Schweiz und später nach Italien auswandern. Die Handlung wird von einem auktorialen Erzähler vermittelt, der uns einen Blick in die Köpfe der Figuren, aber auch auf das große Ganze werfen lässt. Im Mittelpunkt stehen Mutter und Tochter Hempel, was der Titel bereits ausdrückt. Laura ist zwar die Protagonistin, wird hier aber nur in ihrer Beziehung zu ihrer Mutter benannt.

Frau Hempel ist das, was wir heute eine „Macherin“ nennen würden. Sie arbeitet viel und spart eisern – die Zukunft ihrer Tochter hat für sie höchste Priorität. Als sie das verlockende Angebot erhält, eine Badeanstalt zu kaufen, greift sie zu und spannt Mann und Tochter mit in das neue Familienunternehmen ein. Laura hingegen gibt sich hauptsächlich ihren Träumen hin und folgt den Vorschlägen ihrer Mutter, ohne selbst nachzudenken. Als sie sich in einen verarmten Grafen verliebt, scheint die Beziehung keine Zukunft zu haben, denn beide Parteien wünschen sich gesellschaftlichen Aufstieg und benötigen somit eigentlich eine „gute Partie“.

Frau Hempel ist für mich die heimliche(?) Protagonistin und eine bemerkenswerte Frau, die genau versteht, wie Klasse funktioniert und wie man sich von ihren Fesseln befreit. Interessant ist hierbei, dass auch sie sich gelegentlich den Dünkel erlaubt, den sie an Höhergestellten unerträglich findet – eine spannende Sozialstudie mit einer hart arbeitenden Heldin.

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Veröffentlicht am 03.02.2025

Gute Idee mit mäßiger Umsetzung

Shanghai Story
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Es ist das Jahr 2040 und das Ehepaar Leo und Eko Yang hat es in Shanghai zu Wohlstand gebracht. Doch die Beziehung der beiden ist belastet, denn beide träumen davon, anderswo, mit einem anderen Menschen ...

Es ist das Jahr 2040 und das Ehepaar Leo und Eko Yang hat es in Shanghai zu Wohlstand gebracht. Doch die Beziehung der beiden ist belastet, denn beide träumen davon, anderswo, mit einem anderen Menschen neu anzufangen. Auch die drei Töchter Yumi, Yoko und Kiko haben ihre ganz eigenen Probleme. Yumi ist egoistisch und macht sich ständig über ihre jüngere Schwester Yoko lustig. Die ist eher zurückhaltend und beschäftigt sich lieber mit Zahlen als mit Menschen. Yukiko, das Nesthäkchen, von allen nur „Baby Kiko“ genannt, will ein Star werden und dafür ist ihr jedes Mittel recht. Doch wie konnte es soweit kommen? Wie sind die Yangs als Familie an diesen Punkt gelangt?

In „Shanghai Story“ (deutsche Übersetzung von Jan Schönherr) erzählt Juli Min die Geschichte der Familie Yang von der Ehe der Eltern bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Interessant dabei ist, dass nicht chronologisch, sondern rückwärts berichtet wird. Wir starten also im Jahr 2040 mit einer zerrütteten Familie und bewegen uns rückwärts auf den Juli 2014 zu, in welchem Leo und Eko geheiratet haben. Durch diese besondere Art des Erzählens erfahren wir oft nicht, was aus bestimmten Ereignissen oder Figuren geworden ist, einiges erhält jedoch nach und nach einen Sinn, wenn wir z.B. zunächst von der Wirkung einer Angelegenheit lesen und später erst die Ursache in der Vergangenheit finden.

Die Mitglieder der Familie Yang bleiben, vielleicht aufgrund der Art zu Erzählen, den gesamten Roman hindurch nur schwer greifbar. Sie alle sind nicht sonderlich sympathisch und miteinander bilden sie eher eine Zweckgemeinschaft, als eine echte Familie. Sie sprechen nicht über Probleme, gehen einander aus dem Weg, halten nach außen hin aber die Fassade einer perfekten reichen Familie aufrecht. Einblicke in das Leben ihrer Angestellten, wie des Fahrers oder des Kindermädchens, ergänzen das Bild.

Grundsätzlich folgt „Shanghai Story“ einer guten Idee, die Umsetzung ist aber wenig gelungen. Das Rückwärts-Erzählen bringt keinerlei Gewinn und verkompliziert die Geschichte nur. Auch die Botschaft am Ende des Romans bleibt leider unklar.

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Veröffentlicht am 29.01.2025

Geschichte über eine komplizierte Mutter-Tochter-Beziehung

Die Gabe
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Eine Schriftstellerin ist todkrank und will noch ein allerletztes Gedicht schreiben. Dazu zieht sie vom Krankenhaus in die kleine Wohnung ihrer Tochter in Tokios Rotlichtviertel. Die versucht, ihre Arbeit ...

Eine Schriftstellerin ist todkrank und will noch ein allerletztes Gedicht schreiben. Dazu zieht sie vom Krankenhaus in die kleine Wohnung ihrer Tochter in Tokios Rotlichtviertel. Die versucht, ihre Arbeit als Hostess vor der Mutter zu verbergen, aber es ist ein komplizierter Tanz der beiden um die Wahrheit und die Beziehung zwischen ihnen bereits belastet. Kann die Mutter das Leben der Tochter akzeptieren? Oder sind sich beide vielleicht ähnlicher, als sie denken?

„Die Gabe“ ist der Debütroman der japanischen Soziologin und Kolumnistin Suzumi Suzuki und wurde von Katja Busson ins Deutsche übersetzt. Die Handlung wird ausschließlich aus der Perspektive der Tochter in der Ich- und Vergangenheitsform erzählt – hier wäre der Blickwinkel der Mutter sicherlich auch interessant gewesen, doch diesen erhalten wir nur an einer Stelle gegen Ende des Romans, durch eine andere Figur.

Die Beziehung zwischen Mutter und Tochter ist kompliziert. Schon zu Beginn erfahren wir, dass die Tochter mehrere Narben am Körper trägt, für welche die Mutter verantwortlich ist. Nach und nach kommen weitere Puzzleteile hinzu, bis wir am Ende die Situation kennen, die zu dieser Verletzung geführt hat – dennoch bleibt vieles unklar. Auf der einen Seite steht eine Mutter, deren Erfolg als Schriftstellerin ausblieb und die ihr Kind allein großzog. Auf der anderen Seite ist eine Tochter, die stets ihre Grenzen ausgetestet hat, die sich aber auch mit Schuldgefühlen herumschlägt. Erst der nahende Tod der Mutter ermöglicht einen Dialog zwischen beiden.

„Die Gabe“ ist ein stiller, kleiner Roman, in welchem die Protagonistinnen namenlos bleiben und in welchem, objektiv betrachtet, nicht viel geschieht. Dennoch entwickelt der Text eine ungeheure Kraft und schafft es, die Komplexität familiärer Beziehungen darzustellen. Darüber hinaus wird hier auch ein realistischer Blick auf die Arbeit im Rotlichtviertel geworfen. Die Tochter hat alle ihre Freundinnen und Kontakte dort, man unterstützt sich gegenseitig. Allerdings hat sich auch kürzlich eine dieser Freundinnen das Leben genommen. Ein wirklich lesenswerter Roman!

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Veröffentlicht am 27.01.2025

Ein wichtiges, aber schwer zu ertragendes Buch

Und ich werde dich nie wieder Papa nennen
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Es ist der 1.11.2020 und, ohne dass sie es weiß, der letzte Tag in Caroline Darians altem Leben. Sie ist 42 Jahre alt, glücklich in ihrem Beruf und mit Ehemann Pierre und Sohn Tom – doch am nächsten Tag, ...

Es ist der 1.11.2020 und, ohne dass sie es weiß, der letzte Tag in Caroline Darians altem Leben. Sie ist 42 Jahre alt, glücklich in ihrem Beruf und mit Ehemann Pierre und Sohn Tom – doch am nächsten Tag, genau um 20.25 Uhr, erhält sie einen Anruf ihrer Mutter, Gisèle Pelicot. Ihr Vater Dominique wurde verhaftet, weil er ihre Mutter über etwa 10 Jahre hinweg betäubt, anderen Männern zum Missbrauch angeboten und die Taten ins Internet gestellt hat. Im Laufe der Ermittlungen soll sich herausstellen, dass auch sie auf Fotos ihres Vater zu sehen ist, ebenso wie ihre beiden Schwägerinnen.

„Und ich werde dich nie wieder Papa nennen“ wurde von Michaela Meßner und Grit Weirauch ins Deutsche übersetzt und enthält Caroline Darians tagebuchartige Aufzeichnungen vom 1.11.2020 bis zum 28.11.2021. Der Prozess gegen ihren Vater ist also nicht Bestandteil des Buches, wird aber im Vorwort kurz angesprochen. In der Ich-Form versucht die Autorin, das Geschehene zu verarbeiten; vor allem der Gedanke, Tochter des Opfers und des Täters gleichzeitig zu sein, beschäftigt sie. Immer wieder lässt sie in kursiver Schrift Erinnerungen an den Vater einfließen, gute und schlechte, und spricht ihn direkt an.

„Warum habe ich nichts von all dem geahnt?“, das fragen sich Caroline und ihre Familie, dabei gab es durchaus Anzeichen. Gisèle Pelicot hatte häufig Erinnerungslücken und gynäkologische Probleme. Der Vater geriet ständig in finanzielle Schwierigkeiten und das Ehepaar war bereits einmal geschieden, heiratete dann aber wieder. Gefasst wurde Dominique Pelicot nur, weil er drei Frauen unter den Rock fotografiert hatte und diese ihn anzeigten – eine mutige Tat, die seiner Ehefrau vermutlich das Leben rettete. Mutter und Tochter reagieren sehr unterschiedlich auf die Geschehnisse: Gisèle versucht, einzelne Dinge zu leugnen und bringt ihrem Peiniger sogar warme Kleidung ins Gefängnis; Caroline wütet und rechnet mit dem Verbrecher ab, der nicht länger ihr Vater ist. Dieser schreibt währenddessen Bittbriefe aus dem Gefängnis, inszeniert sich als Opfer und spricht von seiner Frau ironischerweise als der „Liebe meines Lebens“.

Dieses Buch ist nicht einfach zu lesen, aber es ist ein enorm wichtiges. „Die Schuld muss die Seite wechseln“, das sagt die Autorin in ihrem Text und aus diesem Grund wollte ihre Mutter auch, dass der Prozess in der Öffentlichkeit stattfindet. Caroline hat inzwischen einen Verein gegründet, um sich für die Opfer der so genannten „chemischen Unterwerfung“ einzusetzen – die in Deutschland übrigens keinen eigenen Straftatbestand darstellt!

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