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Veröffentlicht am 18.03.2024

Wichtige Neuerzählung

James
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Der Sklave James, genannt Jim, soll verkauft werden, was die Trennung von Frau Sadie und Tochter Lizzie bedeuten würde. So beschließt er, zu fliehen und sich zunächst auf einer kleinen Insel im Mississippi ...

Der Sklave James, genannt Jim, soll verkauft werden, was die Trennung von Frau Sadie und Tochter Lizzie bedeuten würde. So beschließt er, zu fliehen und sich zunächst auf einer kleinen Insel im Mississippi zu verstecken. Dort trifft er auf den jungen Huckleberry Finn, der seinen eigenen Tod vorgetäuscht hat, um seinem gewalttätigen Vater zu entkommen. Jim ist sofort klar: man wird ihn verdächtigen, den Jungen ermordet zu haben und so beginnt eine abenteuerliche Reise, die die beiden in mehrere Staaten führen wird.

In „James“ erzählt Percival Everett die Geschichte des Sklaven aus Mark Twains „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ neu und lässt ihn dabei selbst in der Ich-Form zu Wort kommen. Jim und die anderen Sklaven sprechen dabei einen Südstaaten-Slang, den sie nur im Beisein von Weißen verwenden. Dieser soll ihre eigene Intelligenz verbergen und ihre Besitzer in Sicherheit wiegen. Erst gegen Ende des Romans wird Jim bewusst mit dieser Regel brechen. Die Szene ist ungemein beeindruckend, auch wenn in der deutschen Übersetzung diese Sprechweise nicht einfach umzusetzen war - was der Übersetzer in einem Nachwort zur Sprache bringt.

Egal, wohin er und Huck fliehen, die Situation bleibt für Jim doch immer dieselbe – auch wenn sie gerade die Grenze zu einem angeblich „freien“ Staat überschritten haben. Er gerät immer wieder an Menschen, die in irgendeiner Art seine Arbeitskraft ausnutzen wollen. Das Beste, was er dabei erwarten kann, ist keine Gewalt zu erfahren und am Ende des Tages sein Leben zu behalten. In Huck erleben wir den Widerstreit zwischen einem kindlichen Ungerechtigkeitsgefühl und dem Gedanken, dass Jim eben doch anders ist, als er selbst. Dabei wird gerade dieser Junge einer der loyalsten Fürsprecher sein, die Jim unterwegs hat.

Der Roman ist in mehrere Teile gegliedert und ich muss gestehen, dass gerade der erste sich für mich etwas zog und Handlungselemente sich stets wiederholten. Spätestens als Jim sich einer Minstrel Show anschließt, die absurder Weise nur aus weißen Männer besteht, die ihr Gesicht schwärzen, entwickelt der Roman einen gewaltigen Sog. Unbedingt lesen!

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Veröffentlicht am 14.03.2024

Bedeutsamer Roman über die Erwartungen an Mütter

Liebesmühe
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Es ist Anfang August und die namenlose Protagonistin hat gerade ihren Sohn zur Welt gebracht. Sie sollte glücklich sein, wie alle anderen Mütter auch (?), doch sie fühlt sich zunehmend überfordert. Von ...

Es ist Anfang August und die namenlose Protagonistin hat gerade ihren Sohn zur Welt gebracht. Sie sollte glücklich sein, wie alle anderen Mütter auch (?), doch sie fühlt sich zunehmend überfordert. Von all den Menschen um sie herum, die ständig etwas von ihr wollen, von der riesigen Veränderung in ihrem Leben und vor allem von ihrem eigenen Kind. Eines Tages hält sie es nicht mehr aus und bricht zusammen. Diagnose: Postpartale Depression.

„Liebesmühe“ ist das neuste Werk aus der Feder der Historikerin und Kulturwissenschaftlerin Christina Wessely. Die Handlung wird von der Protagonistin selbst in der dritten Person dokumentiert, denn ohne diese bewusste Distanzierung könnte sie nicht in Worte fassen, was sie denkt und fühlt. Empfindungen, die so gar nicht zu Konzepten wie „bedingungsloser Mutterliebe“ passen wollen. Auf der anderen Seite ist da aber auch die Wissenschaftlerin in ihr, die gnadenlos analysiert: die Erwartungen, die die Gesellschaft an Mütter stellt, die verschiedensten Erziehungsmethoden, die das Leben mit Kind nur noch zu erschweren scheinen und vieles mehr.

Der Blick, den die Protagonistin aus ihrer Depression heraus auf ihr neues Leben mit Kind wirft, ist ebenso beängstigend wie wichtig. In ihrem Unglück hat sie das Glück, dass sie schnell eine passende Therapeutin findet und Familie und Partner sie unterstützen, dennoch liegt ein langer und dunkler Weg vor ihr. Auf diesem findet sie irgendwann auch eine neue Freundin, die noch tiefer in die Depression versunken zu sein scheint, wie sie selbst und die Schuld dafür beim eigenen Kind sucht. Wer selbst gerade mit ähnlichen Gedanken zu kämpfen hat oder es in der Vergangenheit tat, sollte hier auf sich achten, denn die Beschreibungen sind schonungslos.

Christina Wessely hat einen bedrückenden, aber wichtigen Roman darüber geschrieben, mit welchen Erwartungen die Gesellschaft Müttern gegenübertritt. Dabei vermittelt sie auch die bedeutsame Botschaft, dass nach einer Geburt eben nicht immer alles eitel Sonnenschein ist und es völlig in Ordnung ist, sich Hilfe zu suchen. Ich hoffe, dass sie damit viele (werdende) Mütter erreicht.

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Veröffentlicht am 13.03.2024

Roman über Verlust mit feinem Humor

Noto
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Vor einigen Jahren haben Konrad und sein Partner Adriano sich auf Sizilien zusammen mit Freunden ein Grundstück gekauft, um darauf ihre Traumhäuser zu bauen. Nun ist das Haus der beiden endlich fertiggestellt, ...

Vor einigen Jahren haben Konrad und sein Partner Adriano sich auf Sizilien zusammen mit Freunden ein Grundstück gekauft, um darauf ihre Traumhäuser zu bauen. Nun ist das Haus der beiden endlich fertiggestellt, doch Adriano ist fort. Er starb bei einem ebenso unnötigen wie tragischen Unfall und Konrad macht sich nun mit Mischlingshund Jack auf den Weg nach Noto. Dort will er sich nicht nur darüber im Klaren werden, was er nun mit dem Haus voller Erinnerungen anfangen soll, sondern auch einen Teil von Adrianos Asche verstreuen, die er in einer Blechdose mit sich trägt.

„Noto“ ist der erste Roman des Journalisten und Autors Adriano Sack. Die Handlung wird aus der Sicht des Protagonisten Konrad in der Ich- und Gegenwartsform erzählt; wir begleiten ihn also hautnah in seiner Trauer und dem Versuch, dem Leben ohne Adriano wieder eine Richtung zu geben. Neben Konrad mischt sich auch immer wieder Adriano selbst ein und kommentiert die Ereignisse. Konrads Therapeutin findet das ganz normal und ein Zeichen der Verbundenheit zwischen den beiden; seltsam werde es erst, wenn Konrad auch antworte. Für mich war das eine schöne Gelegenheit, Adriano als Charakter zu erleben, auch wenn er zu Beginn des Romans schon verstorben ist.

Konrad wird in seiner Trauer von seiner besten Freundin Jenny unterstützt, die mit Ehemann Johannes und den Kindern Loki und Skadi das zweite Ferienhaus auf dem Grundstück besitzt. Sie selbst hat allerdings auch gerade mit Eheproblemen zu kämpfen und Konrad fühlt sich abwechselnd überfordert und angenehm vom eigenen Schmerz abgelenkt. Zu allem Überfluss reist dann auch noch Adrianos Mitbewohner Santi nach Noto und verursacht Chaos in Konrads (Gefühls-)Leben.

Was wie ein schwerer Roman über Tod und Trauer klingt, ist viel mehr als das. Adriano Sack besitzt einen sehr feinen, wenig plakativen Humor, den er in Figurenzeichnungen, Beschreibungen oder Einschüben verstreut. So macht er sich beispielsweise über die hippen deutschen Auswanderer lustig, die sich massenweise durchgestylte Häuser auf Sizilien zulegen und auch Gwyneth Paltrow hat einen Auftritt im Bärenkostüm – herrlich!

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Veröffentlicht am 05.03.2024

Ein wichtiges Sachbuch

Beklaute Frauen
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Es ist nichts Neues, dass Errungenschaften von Frauen in der Geschichte systematisch unsichtbar gemacht und ihre Rollen auf die einer Ehefrau, Tochter, Assistentin oder Muse reduziert wurden. Wie umfassend ...

Es ist nichts Neues, dass Errungenschaften von Frauen in der Geschichte systematisch unsichtbar gemacht und ihre Rollen auf die einer Ehefrau, Tochter, Assistentin oder Muse reduziert wurden. Wie umfassend dies war und in wie vielen Bereichen Männer Beifall für Leistungen erhielten, die sie nicht selbst – oder zumindest nicht ohne Unterstützung von Frauen – erbracht haben, zeigt Leonie Schöler in ihrem kürzlich erschienenen Sachbuch „Beklaute Frauen“.

Nach einer kurzen Einleitung setzt sich die Autorin als erstes mit Frauen in der verschiedensten Revolutionen auseinander, zum Beispiel der Französischen, der Revolution von 1848/49 oder dem Kampf der Suffragetten. Sie kämpften ganz allgemein für Menschenrechte, aber auch für so konkrete Dinge wie den Brotpreis oder das Frauenwahlrecht. Denn bereits sie mussten feststellen: Das Vorbild, an dem alles gemessen und verhandelt wird, ist der weiße Mann.

Im zweiten Kapitel des Buches geht es dann um die Ehe und was diese für Frauen bedeutet. Zusammengefasst werden kann das im so genannten Matilda-Effekt, der besagt, dass je mehr Frauen arbeiten, desto stärker profitieren Männer um sie herum und desto weniger Anerkennung erhalten sie selbst. Ein bekanntes Beispiel? Mileva Marić (Ehefrau von Albert Einstein), deren Anteil an der Relativitätstheorie ihres Mannes als beträchtlich eingeschätzt wird. Von der Wissenschaft lässt sich dieses Phänomen auch auf die Kunst übertragen, was im nächsten Kapitel zum Thema wird. Hier geht es vor allem darum, wie Männer wie Marx, Brecht oder Picasso ihr weibliches Umfeld gezielt ausnutzten.

Kapitel vier befasst sich mit Frauen, denen der Nobelpreis verwehrt blieb (z.B. Rosalind Franklin für die Entschlüsselung der DNA), aber auch mit dem Sport. Denn immer dort, wo Frauen in gemischten Wettkämpfen über Männer siegten, wurde auf einmal die Trennung nach Geschlechtern beschlossen. Auch Leistungen in Kriegen, wie die der Mujeres Libres unter Franco oder der Soldatinnen in der Roten Armee, wurden zu Friedenszeiten vergessen und die Frauen sogar dafür beleidigt. Das letzte Kapitel beschäftigt sich schließlich u.a. mit Frauen, die männliche Pseudonyme verwendeten.

Leonie Schöler ist ein wichtiges, informatives Sachbuch gelungen, das zugleich wütend macht. Schön fand ich, dass sie dabei auch persönliche Geschichten teilt. Ihr Fazit kann ich nur unterstreichen: Es ist beunruhigend und beschämend, dass Frauenrechte im Moment wieder überall beschnitten werden und Aktivismus als unnötig bezeichnet wird.

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Veröffentlicht am 19.02.2024

Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte

Sund
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Die namenlose Protagonistin wartet am dänischen Sund auf ihre Geliebte. Als die sie jedoch immer wieder vertröstet, beschließt die Erzählerin, ihre Recherche zur Rolle des Urgroßvaters im Dritten Reich ...

Die namenlose Protagonistin wartet am dänischen Sund auf ihre Geliebte. Als die sie jedoch immer wieder vertröstet, beschließt die Erzählerin, ihre Recherche zur Rolle des Urgroßvaters im Dritten Reich zu pausieren und auf die Insel Lykke überzusetzen. Dort werden sie und eine weitere neu Angekommene mit Misstrauen begrüßt und bleiben Außenseiterinnen. Doch dann entdeckt die Erzählerin Hinweise, die bestätigen, dass auf der Insel während des Nationalsozialismus Zwangssterilisationen durchgeführt wurden und plötzlich ist der Bezug zur eigenen Familie wieder ganz frisch.

„Sund“ ist bereits der zweite Roman der Autorin Laura Lichtblau. Erzählt wird aus der Perspektive der Protagonistin in der Ich- und Gegenwartsform. Dies und ein Sprachstil mit vielen kurzen Sätzen und beschreibenden Vergleichen (vor allem Naturbilder) vermitteln den Eindruck, die Handlung unmittelbar durch die Figur mitzuerleben und ihre Emotionen zu teilen. Der Text in der Gesamtheit ist jedoch eine gekonnte Mischung aus Romanszenen und Sachinformationen, denn wenn in der Mitte des Buches die Erzählerin über ihren Urgroßvater spricht, tut sie dies im Stil einer detaillierten biografischen Aufzeichnung, die sie aus den unterschiedlichsten Quellen zusammengetragen hat.

Wie mit der eigenen Familiengeschichte umgehen? Das ist die Frage, die Laura Lichtblau sich in diesem kurzen, aber gehaltvollen Roman stellt. Ein Gericht stufte den Urgroßvater als „Mitläufer“ ein, aber kann und darf seine Urenkelin zu dem selben Schluss kommen? Die Fakten sind zusammengestellt und nun müssen wir uns als Leser*innen abschließend selbst ein Urteil bilden. Die umrahmende Romanhandlung hingegen scheint sich der Realität zu entziehen. Die Protagonistin ist oft unsicher, ob sie ihrer Wahrnehmung trauen kann; einzelne Szenen lassen sich nicht klar als Wahn oder Wahrheit einordnen Was am Ende bleibt, ist nur der Titel gebende Sund.

„Dann verwandelt sich der Sund wieder in eine Fläche, auf der sich alles ablegen lässt. Er gleißt auf. Und mit einem festen Ruck verschluckt er jede Geschichte, alle Beweise, und alles, was stört.“ (S. 130)

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