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Veröffentlicht am 18.02.2023

Düsteres Familienporträt

Männer sterben bei uns nicht
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Ein Anwesen am See und 8 Frauen, die dort leben. Über allem thront die namenlose Großmutter, eine elegante, aber manchmal auch grausame Frau, um deren Zuneigung alle buhlen: die Töchter Ingrid und Marianna, ...

Ein Anwesen am See und 8 Frauen, die dort leben. Über allem thront die namenlose Großmutter, eine elegante, aber manchmal auch grausame Frau, um deren Zuneigung alle buhlen: die Töchter Ingrid und Marianna, die Enkelinnen Leni, Luuise und Olga und – etwas abseits – Hausangestellte Justyna. Und die Männer? „Männer starben bei uns nie, Männer kamen und gingen.“ (S. 1) Nach dem Tod der Großmutter, fällt das ganze familiäre Konstrukt in sich zusammen.

„Männer sterben bei uns nicht“, aus der Feder von Schriftstellerin und Aktivistin Annika Reich, wird aus der Sicht der Protagonistin Luise in der Ich- und Vergangenheitsform erzählt. Ausgehend von der Beerdigung der Großmutter in der Gegenwart, blickt sie immer wieder in die Vergangenheit zurück, indem sie assoziativ Verbindungen herstellt, zum Beispiel durch ein getragenes Schmuckstück oder einen umher flatternden Schmetterling.

Im Zentrum steht die Großmutter; wer nach ihren Vorstellungen lebt, den überschüttet sie mit Geschenken und Lob. Zum Liebling hat sie sich Luise auserkoren, die so zur Außenseiterin wird. Generell gelingt es der alten Dame, Schwestern und Cousinen gegeneinander auszuspielen und somit alle Beziehungen zu vergiften. Als Luises Schwester Leni als Teenager „rebelliert“, wird sie ins Internat geschickt. Lenis andere Großmutter Vera darf zwar auf dem Anwesen leben, ist dafür aber täglichen Demütigungen ausgesetzt.

Männer gibt es in der gesamten Geschichte keine. Der Großvater lebte von der Familie getrennt, dennoch musste die Illusion der Ehe erhalten werden. Luises und Lenis Vater machte sich nach Australien davon, mehr wissen wir nicht. Überhaupt wird im Roman vieles angedeutet, so zum Beispiel die Rolle der Familie im Dritten Reich. Die Großmutter verkörpert das, was als männlich verstanden wird: Macht, Reichtum, Gefühllosigkeit, doch auch sie ist in diesem Spiel aus vererbten Traumata und Schuld gefangen und hält alle anderen mit sich im Unglück fest.

Während ihre Mutter sofort nach dem Tod der Großmutter aus dem Anwesen auszieht, fällt es Luise schwer, loszulassen. Im Gegensatz zu allen anderen verbindet sie auch positive Erinnerungen mit dieser schwierigen Frau. Vieles will sie sagen, tut es dann aber doch nicht und das immer wieder im Verlauf des Romans. Doch am Ende muss sie sich positionieren, eine Haltung einnehmen und entscheiden, ob sie das Erbe ihrer Großmutter annehmen will.

Ein düsterer, aber auch allzu wahrer Roman über das, was Frauen einander antun, anstatt solidarisch zu sein.

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Veröffentlicht am 23.01.2023

Sehr persönliche Sammlung

Nachthimmel mit Austrittswunden
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Ocean Vuong begeisterte schon mit seinem 2019 erschienenen Debütroman „Auf Erden sind wir kurz grandios“. In seiner ersten Gedichtsammlung „Nachthimmel mit Austrittswunden“ knüpft er sowohl thematisch ...

Ocean Vuong begeisterte schon mit seinem 2019 erschienenen Debütroman „Auf Erden sind wir kurz grandios“. In seiner ersten Gedichtsammlung „Nachthimmel mit Austrittswunden“ knüpft er sowohl thematisch als auch emotional an seinen Erstling an. Die Sammlung von insgesamt 35 Gedichten ist zweisprachig: auf der linken Seite finden wir den englischen Originaltext, auf der rechten die deutsche Übersetzung von Anne-Kristin Mittag. Wie schon bei seinem Roman leistet sie großartige Arbeit, in dem sie die englischen Sätze mit teils mehrdeutigen Bezügen gekonnt ins Deutsche überträgt.

Vuong sprengt die Grenzen zwischen Prosa und Lyrik, probierte verschiedene Formen aus, so zum Beispiel das japanische Haibun, die Briefform oder ein Gedicht, das nur aus Fußnoten besteht. Er nimmt Bezug auf reale Ereignisse: 1975 spielte der Rundfunk der Streitkräfte „White Christmas“ als Startsignal der Operation „Frequent Wind“, welche die Evakuierung Saigons in der Endphase des Vietnamskriegs einleitete. Vuong kontrapunktiert Zeilen des Liedes mit Beschreibungen der realen Ereignisse. In einem anderen Gedicht nimmt er Bezug auf einen im Jahr 2011 verübten Doppelmord an einem schwulen Ehepaar in Texas.

Ocean Vuong verarbeitet auch Autobiografisches. 1988 im damaligen Saigon geboren, kam er mit 2 Jahren in die USA. Auf dem Cover der Sammlung sehen wir ihn, zwischen Mutter und Tante, in einem philippinischen Flüchtlingslager. Der Vater, der wegen häuslicher Gewalt im Gefängnis saß, verließ die Familie – eine Abwesenheit, die den Autor zeit seines Lebens beschäftigt. In seinem Gedichten erdenkt er sich das, was vom Vater fehlt, hält Zwiesprache mit ihm oder nimmt seine Position ein. Einmal vergleicht er sich selbst mit Telemach, dem Sohn des Odysseus, der ebenfalls von diesem als Kind verlassen wurde.

Im Gegensatz zum Vater ist seine Mutter in Vuongs Texten präsent. Als Analphabetin brachte sie den Sohn mit ihrer Arbeit in einem Nagelstudio durch, was nicht immer einfach war. Und auch nach der Einwanderung bleiben Ocean und seine Familie in den USA oft einsam, gehören nicht dazu. Besonders der Autor fragt sich, wo er als junger, homosexueller Vietnamese seinen Platz im „American Dream“ finden soll. Im emotionalen Gedicht „Someday I‘ll love Ocean Vuong“ richtet er das Wort an sich selbst:

„Don‘t be afraid, the gunfire
is only the sound of people
trying to live a little longer
& failing. Ocean. Ocean -
get up. The most beautiful part of your body
is where it‘s headed. & remember
loneliness is still time spent
with the world.“ (Seite 158/160)

Was für eine wundervolle Sammlung!

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Veröffentlicht am 22.01.2023

Mehr Dark Academia als Thriller

Das College
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Zehn Jahre ist es her, seit Hannah die Leiche ihrer besten Freundin April in der gemeinsamen Wohnung fand. Die beiden hatten sich an ihrem ersten Tag als Studentinnen in Oxford kennengelernt und aus Mitbewohnerinnen ...

Zehn Jahre ist es her, seit Hannah die Leiche ihrer besten Freundin April in der gemeinsamen Wohnung fand. Die beiden hatten sich an ihrem ersten Tag als Studentinnen in Oxford kennengelernt und aus Mitbewohnerinnen waren Freundinnen geworden. Inzwischen ist Hannah verheiratet, erwartetet ihr erstes Kind und eigentlich könnte alles wunderbar sein. Doch dann stirbt Aprils mutmaßlicher Mörder im Gefängnis und ein Journalist beginnt, den Fall wieder aufzurollen. Er bringt Hannah ins Grübeln: Hat sie wirklich einen Unschuldigen hinter Gitter gebracht?

„Das College“ ist bereits der 7. Thriller aus der Feder der britischen Schriftstellerin Ruth Ware, für mich war es jedoch der erste. Erzählt wird die Handlung ausschließlich aus Hannahs Perspektive, was dazu führt, dass wir als Leser*innen immer nur so viel wissen, wie die Protagonistin selbst. Zusätzlich wechseln die Kapitel stets von „davor“ zu „danach“ - bezogen auf Aprils Tod – bis die Geschichte wieder in der Gegenwart angekommen ist. So ergibt sich nach und nach aus kleinen Mosaikteilchen ein großes Ganzes.

Die Handlung baut sich nur langsam auf und hat, bis zu einem gewissen Punkt, nur wenige Thrillerelemente. Mir persönlich gefiel das sehr gut, da ich zum einem gemäßigte Thriller sehr mag und zum anderen so der Fokus auf Oxford und der damaligen Clique lag. Diese bestand aus drei Frauen (April, Emily und Hannah) und drei Männern (Hugh, Ryan und Will), zwischen denen es immer wieder zu Spannungen und Eifersüchteleien kam. Doch auch der mutmaßliche Täter, Pförtner Neville, legt ein gruseliges Verhalten an den Tag, ebenso wie Tutor und Frauenheld Dr. Myers. Im Prinzip handelt es sich also eher um einen typischen Dark Academia-Roman mit leichten Thrilleranteilen.

Für mich kam das Ende des Buches durchaus überraschend, wobei ich nicht sagen kann, ob das möglicherweise daran lag, dass „Das College“ mein erster Ruth Ware-Thriller war. Das Miträtseln fand ich jedenfalls unheimlich spannend und im Verlauf habe ich auch immer wieder meine Hauptverdächtigen gewechselt. Für echte Thrillerfans gibt es hier aber wohl zu wenig Action.

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Veröffentlicht am 05.01.2023

Absolut eindrucksvolles Romandebüt

Liebewesen
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Biologin Lio lernt über eine Dating-App Max kennen, einen Radiomoderator. Doch von Anfang an scheint die Beziehung nicht rund zu laufen; das zeigt sich beim Sex, aber auch in fortwährenden Streitereien. ...

Biologin Lio lernt über eine Dating-App Max kennen, einen Radiomoderator. Doch von Anfang an scheint die Beziehung nicht rund zu laufen; das zeigt sich beim Sex, aber auch in fortwährenden Streitereien. Auch dass Lio irgendwann aus ihrer WG mit ihrer besten Freundin Mariam aus- und mit Max zusammenzieht, bringt nicht unbedingt eine Besserung – eher das Gegenteil. Als sie dann eines Tages auch noch ungeplant schwanger wird, scheint alles um Lio herum zusammenzubrechen.

„Liebewesen“ ist das Romandebüt der Journalistin und Autorin Caroline Schmitt. Die Handlung wird aus der Sicht der Protagonistin Lio in der Ich- und Vergangenheitsform erzählt. Gerade das macht den Roman so eindrucksvoll, denn wir erleben hautnah mit, wie es in Lio aussieht und wie eine Beziehung unter all dem, was wir so als seelisches Gepäck mit uns herumtragen, zerdrückt werden kann.

Wir erleben hier keinen Liebesroman, in dem es zwar Probleme gibt, diese sich dann aber aus lauter Liebe wieder ins Nichts auflösen. Nein, wir lesen von einem Paar, das sich streitet, das im Bett nicht kompatibel zu sein scheint, das sich gegenseitig bis zur Unerträglichkeit nervt – und das ist, auch wenn das individuelle Schicksal der beiden durchaus traurig ist, herrlich erfrischend. So ist es uns doch allen schon einmal gegangen, vielen geht es vielleicht immer noch so; warum das nicht auch offen aussprechen und zu Papier bringen? Lio und Max sind echt, sie sind wie wir.

Die Autorin schneidet in ihrem Roman einige wichtige Themen an. Lio lebt aufgrund von körperlichem und seelischem Missbrauch (in und außerhalb der Familie) im Krieg mit ihrem eigenen Körper. Max möchte Verständnis zeigen, versinkt aber selbst in seiner Depression, trinkt zu viel und lässt seine Therapie schleifen. Kurz gefasst: Die beiden tun einander nicht gut. In diese Situation bricht Lios ungewollte Schwangerschaft hinein, doch wenn die eigene Mutter einem die Worte „Ich wünschte, ich hätte dich nie geboren“ an den Kopf wirft, kann man dann überhaupt eine gute Mutter sein? Absolut eindrucksvoll und unheimlich wichtig!

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Veröffentlicht am 22.12.2022

Gelungener Mix aus Liebesgeschichte, Humor und ernsten Themen

Zimmer gesucht, Liebe gefunden
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Emma und ihr Freund sind DAS Traumpaar auf Instagram, doch dann lässt Leon sie von einem Tag auf den anderen sitzen – und das, obwohl die beiden gerade zusammenziehen wollten. Es muss also eine neue Wohnung ...

Emma und ihr Freund sind DAS Traumpaar auf Instagram, doch dann lässt Leon sie von einem Tag auf den anderen sitzen – und das, obwohl die beiden gerade zusammenziehen wollten. Es muss also eine neue Wohnung her und mit der Hilfe ihrer besten Freundin Pepper findet Emma in der WG von Dirk Unterschlupf. Der bastelt eigentlich lieber an seinen Robotern, als sich mit Menschen zu beschäftigen und auch die Neuigkeiten, dass Leon nun mit Influencerin Larissa zusammen ist, verbessern nicht unbedingt Emmas Laune.

Von Caroline Brinkmann kannte ich bisher nur ihren Fantasyroman „Die Clans von Tokito“, mit „Zimmer gesucht, Liebe gefunden“ beweist sie nun, dass sie auch andere Genres beherrscht. Die Handlung wird von Protagonistin Emma in der Ich- und Gegenwartsform erzählt, so dass wir uns immer mitten im Geschehen befinden. Darüber hinaus teilt diese auch Einträge ihres „Disaster-Diary“, denn neben ihrem Zimmerpflanzentick - den wir auch in den hübsch gestalteten Kapitelanfängen wiederfinden - ist das Schreiben Emmas größte Leidenschaft.

Zentral für die Handlung sind sicherlich die sympathischen Figuren. Sei es Emma selbst, die eigentlich nur so geliebt werden möchte, wie sie wirklich ist, Dirk, der unter seiner brummeligen Schale einen sehr weichen Kern hat, Pepper, die wohl coolste beste Freundin mit eigener Privatdetektei oder Rick, ihr Angestellter, der hinter seiner Aufreisserfassade ein loyales, ehrliches Herz verbirgt. Doch auch die „negativen“ Charaktere bekommen im Verlauf der Handlung mehr Profil, so dass ihre Motivation etwas verständlicher wird.

„Zimmer gesucht, Liebe gefunden“ ist ein wirklich gelungener Mix aus Liebesgeschichte, humorvollen Szenen, die alles ein wenig auflockern und durchaus wichtigen Themen. Es geht nämlich auch darum, was in Beziehungen wichtig ist, dass Social Media Fluch und Segen zugleich ist, um ganz unterschiedliche Arten von Liebe und Sexualität, um Freundschaft, Familie und große Lebensträume. Ich bin wirklich gespannt, was wir als nächstes Neues von Caroline Brinkmann lesen werden – würde mich aber auch über die eine oder andere Fortsetzung freuen.

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