Profilbild von Paperboat

Paperboat

Lesejury Star
offline

Paperboat ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Paperboat über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 30.07.2023

Im Nachgang seltsam ungreifbar

All die Liebenden der Nacht
0

Fuyuko ist als als Korrekturleserin in einem Verlag angestellt. Sie hat nicht viele soziale Kontakte, auf der Arbeit wird die Außenseiterin eher gemieden. Als ihre Kollegin Hijiri empfiehlt sich selbstständig ...

Fuyuko ist als als Korrekturleserin in einem Verlag angestellt. Sie hat nicht viele soziale Kontakte, auf der Arbeit wird die Außenseiterin eher gemieden. Als ihre Kollegin Hijiri empfiehlt sich selbstständig zu machen, folgt sie dem Ratschlag, der sie jedoch noch etwas weiter in die soziale Einsamkeit treibt. Nur die gelegentlichen Treffen mit Hijiri bringen die zurückgezogene Fuyuko aus ihrer Wohnung.
Eines Tages besucht sie die Volkshochschule, da sie mit ihrer Freizeit einfach nichts anzufangen weiß. Sie fragt sich, ob sie mit Alkohol etwas gelockerter auf die Menschen zugehen könnte, aber schnell wird aus einem abendlichen Bier eine sie stets begleitende Thermoflasche gefüllt mit Sake. So kommt es, dass sie in einem Moment schlimmster Selbstdemütigung, als sie es mit dem Alkohol übertrieben hat, im Foyer der Volkshochschule auf den Physikdozenten Mitsutsuka trifft. Die beiden sind fasziniert vom Licht, und gelegentlich treffen sie sich auf einen Kaffee, um sich auszutauschen. Bald schon stellt sich Fuyuko die Frage, ob Mitsutsuka die Leere in der Mitte ihres Lebens füllen könnte.

Kawakami knüpft mit "All die Liebenden der Nacht" an ihre Tradition an, ein Bild der japanischen Gesellschaft nachzuzeichnen. Darin liegt ihre Stärke, und doch blieb der Roman im Nachgang seltsam ungreifbar, so als ob Fuyuko geradewegs aus meiner Erinnerung in ihre Nacht spaziert.

Veröffentlicht am 07.06.2023

Wie ein Lufthauch

Der Wind erhebt sich
0

Ein junges Paar entschließt sich, für eine Weile in ein Sanatorium in die Berge zu gehen. Die Frau leidet an einer Lungenkrankheit. Der Ich-Erzähler begleitet seine Verlobte, und ihr Zustand scheint sich ...

Ein junges Paar entschließt sich, für eine Weile in ein Sanatorium in die Berge zu gehen. Die Frau leidet an einer Lungenkrankheit. Der Ich-Erzähler begleitet seine Verlobte, und ihr Zustand scheint sich auch kurzzeitig zu verbessern. Zwischen den Besuchen der Krankenschwestern, Spaziergängen in der abgeschiedenen Bergidylle und zeitweiliger Bettlägerigkeit Setsukos ziehen die Jahreszeiten an dem Paar und auch an uns als Leser:innen vorüber. Der Wechsel der Saisons wird dabei so zart beschrieben wie die Beziehung der beiden Handelnden zueinander - grazil, dabei aber behutsam. Das Paar wirkt in seiner Interaktion platonisch, vielleicht entzieht es sich aber auch lediglich westlichen und/oder neumodischen Maßstäben von Romantik. Ein wenig befremdlich fand ich die verklärte Betrachtung des Ich-Erzählers, der mit voranschreitender Krankheit eine anziehende ästhetische Fragilität in Setsuko sieht und in diesem Zustand noch anziehender findet. Irgendwann verlässt Setsuko für immer längere Perioden das Bett nicht mehr, der Verfall ihrer Lunge lässt es nicht zu. Dem Voranschreiten der vergehenden Zeit sieht die kranke Frau nur durch die Fenster des Zimmers, ohne selbst noch Teil der Welt außerhalb des Krankenzimmers zu sein. Es passiert das Unausweichliche, Setsuko stirbt, und trotz der immer wieder geäußerten aufkeimenden Hoffnung des Ich-Erzählers scheint er zu wissen, dass der Tod seiner Verlobten unausweichlich ist.

Hat mich "Der Wind erhebt sich" berührt? Ich kann es gar nicht genau sagen. Die Kürze der Novelle hat es mir versagt, mich mit den Handelnden emotional zu verbinden. Die Stärke dieses Buches liegt eher in seiner Sprache, die zeitweise filigran wirkt und mich ein bisschen an Haiku erinnert.

Veröffentlicht am 06.05.2023

Ein interessantes Thema wie hier hätte ruhig noch etwas länger sein können!

Der junge Mann
0

Mit Mitte 50 lässt Annie Ernaux sich auf eine Affäre mit einem 30 Jahre jüngeren Mann ein. In diesem sehr kurzen Band gewährt sie einen Einblick in diese Affäre, in der sie sich so geliebt fühlt wie von ...

Mit Mitte 50 lässt Annie Ernaux sich auf eine Affäre mit einem 30 Jahre jüngeren Mann ein. In diesem sehr kurzen Band gewährt sie einen Einblick in diese Affäre, in der sie sich so geliebt fühlt wie von keinem anderen Mann je zuvor. Doch so gut diese Liebe tut, sieht sie sich in der Öffentlichkeit immer diesen Blicken ausgesetzt, die sie dafür verachten, dass sie sich einen solch jungen Geliebten genommen hat. Trotz der Abwertung, dass sie sich erlaubt hat, was für ältere Männer immer selbstverständlich und erstrebenswert war, fühlt sie einen Triumph in sich. Von der früheren Scham, die ihr Leben lange begleitet haben muss, ist hier kaum noch eine Spur. Sie genießt, solange sie kann. Diese Affäre hat aber auch sein Negatives, er z.B. möchte Fotos von ihr sehen wie sie als junge Frau ausgesehen hat - und setzt sie damit in Konkurrenz zu ihrem jüngeren Selbst.

Mir persönlich hätte dieses Buch etwas länger sein können, Ernaux ihr Siegesgefühl über die Moral der Zeit etwas mehr auskosten. Ansonsten war es aber ganz erfrischend.

Veröffentlicht am 23.04.2023

Bisher das schwächste Buch, das ich von Poznanski gelesen habe

Stille blutet
0

Während einer Live-Sendung kündigt Nachrichtensprecherin Nadine Just ihre eigene Ermordung an -ein paar Stunden später liegt sie tot in ihrer eigenen Blutlache. Noch bevor der Hashtag #inkürzetot das Internet ...

Während einer Live-Sendung kündigt Nachrichtensprecherin Nadine Just ihre eigene Ermordung an -ein paar Stunden später liegt sie tot in ihrer eigenen Blutlache. Noch bevor der Hashtag #inkürzetot das Internet zum Explodieren bringt, wird ein kritischer Blogger ebenfalls tot aufgefunden.
Fina Plank ist erst vor kurzem dem Ermittlerteam der Wiener Mordtruppe beigetreten und versucht sich dem überheblichen Chauvinismus ihres Kollegen zu erwehren. Ihre Einheit wird mit der Lösung des Falls beauftragt, denn sofort wird ein Serienkiller hinter den beiden Morden vermutet. Durch die mediale Aufmerksamkeit können Trittbrettfahrer nicht ausgeschlossen werden, und Fina ist vollauf damit beschäftigt, die Sozialen Netzwerke zu überwachen. Die Indizien deuten schnell auf einen Mann, der beide Opfer gekannt hat.

Tibor Glaser, der Ex-Freund der Nachrichtensprecherin, erfährt zeitnah von der Live-Sendung. Seine Sorge führt ihn zum Nachrichtensender, um sich davon zu überzeugen, dass mit seiner Ex alles okay ist. Er ist es, der ihre Leiche in der Garderobe des Nachrichtensenders findet und von der Polizei vernommen wird. Während Tibor seine eigenen Nachforschungen anstellt, findet er furchtbare Dinge über Nadine heraus, die sie in ein noch schlechteres Licht rücken als er bisher von ihr hatte. Immer wieder während der laufenden Ermittlungen kommt die Polizei auf ihn zurück, und schon bald ist Tibor Verdächtiger Nr. 1 - doch er weiß, dass er unschuldig ist.

Ich hab mich ganz gut von Ursula Poznanskis neuem Reihenauftakt unterhalten gefühlt, aber mein Urteil über die Protagonist:innen fällt harsch aus: Fina Plank ist okay, aber Tibor Glaser ging mir mit seinen unüberlegten Handlungen komplett auf den Keks. Kann ein Mensch sich so doof anstellen und ständig die falschen Entscheidungen fällen? Der zweite Band der Reihe knüpft hoffentlich wieder an meine übliche Begeisterung für die Bücher von Poznanski an.

Veröffentlicht am 29.03.2023

Der Anfang dümpelt so dahin, zum Ende hin wird es spannend

Corpus Delicti
0

Mia Holl hat ihren Bruder an ein System namens die METHODE verloren. Ihr Bruder Moritz wurde eines Verbrechens überführt, das er nicht begangen hat. Mia glaubt an die Unschuld ihres Bruders, er hat die ...

Mia Holl hat ihren Bruder an ein System namens die METHODE verloren. Ihr Bruder Moritz wurde eines Verbrechens überführt, das er nicht begangen hat. Mia glaubt an die Unschuld ihres Bruders, er hat die Frau nicht vergewaltigt und getötet. Das belastende Material spricht gegen ihren Bruder, und in einer Gesellschaft, in der jeder von der Unfehlbarkeit der METHODE überzeugt ist, mutet es seltsam an, dass Moritz Holl - weiterhin seine Unschuld beteuernd - sich dem weiteren Zugriff des Systems mit einem Suizid entzogen hat.

Juli Zehs Roman spielt in einem System, in dem jeder die Pflicht zur Gesundheit hat und Krankheit systemgefährdend ist. Gesundheits- und Hygienevorschriften regeln das Leben der Menschen. Mias Trauer um den Verlust ihres Bruders wird als Depression gedeutet und darf nicht ihre Sache allein sein, sondern soll gerichtlich gesteuert werden. Mia möchte einfach nur für eine Weile in Ruhe gelassen werden, um den Schmerz zu verarbeiten. Sie bekommt den Pflichtverteidiger Rosenschneider zur Seite gestellt, der Mia zur Räson bringen soll in ihrem Irrglauben, ihre Trauer sei Privatsache und ihren Glauben an das System wiederherstellen soll. Schon bald mischt sich Kramer ein, eine Führungsperson der METHODE im Namen der Regierung. Rosenschneider gelingt eine bahnbrechende Erkenntnis in dem Fall Moritz Holl, und Mia werden methodenfeindliche Gedanken und Handlungen unterstellt und sie wird zu einer politischen Schachfigur, an der ein Exempel für die METHODE statuiert werden soll.

Ich muss sagen, dass ich mich die meiste Zeit eher unbeteiligt durch das Buch gelesen habe. Erst zum Ende hin, als Rosenschneider eine Wendung herbeizuführen in der Lage ist, wurde mein Interesse richtig geweckt, und die letzten Seiten haben mich sinnierend zurückgelassen.
Es wirkt fern und fremd, dass Gesundheit eine Pflicht und ein Standard ist in einer Welt wie unserer jetzigen, die so weit von diesem eigentlich wünschenswerten Ziel entfernt ist, das von Juli Zeh in diesem Buch so ins Gegenteil verdreht ist. Es regt zum Grübeln darüber an, was staatliche Systeme an Privatsachen noch alles zum Gegenstand öffentlichen Interesses machen könnten.