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Veröffentlicht am 04.09.2020

Eindringliches Buch, das anprangert

Das Mädchen
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"Das Mädchen" ist eine brutale, erschütternde Geschichte über ein Land, in dem der Terror wütet, und über die, die am meisten darunter leiden. Im Mittelpunkt steht das Mädchen Maryam, das eines Tages gewaltsam ...

"Das Mädchen" ist eine brutale, erschütternde Geschichte über ein Land, in dem der Terror wütet, und über die, die am meisten darunter leiden. Im Mittelpunkt steht das Mädchen Maryam, das eines Tages gewaltsam mit ihren Klassenkameradinnen von den Mitglieder von Boko Haram entführt wird. Leider keine Seltenheit, denn im ländlichen Nigeria des Romans ist kaum jemand von der Terrorgruppe sicher. Ganze Dörfer werden verwüstet, die meisten Einheimischen getötet, nur den Kindern droht ein ganz "besonderes" Schicksal. Beide Geschlechter werden mittels Gehirnwäsche und Gewalt gefügig gemacht: Die Jungs so zu Kämpfern gegen das eigene Volk "erzogen", die Mädchen zu (Sex)sklavinnen entmündigt. Maryam bekommt diesen Terror mit voller Wucht zu spüren: Ihrer Welt entrissen, emotional und körperlich auf übelste Weise missbraucht, als Dienerin zu niederen Arbeiten gezwungen und schließlich zwangsverheiratet und geschwängert - leider bringt sie aber nur ein weiteres Mädchen zur Welt, statt eines ersehnten zukünftigen "Soldaten".

Das Buch ist, wie bereits erwähnt, brutal und schockierend. Was mich besonders bewegt hat, war, dass Maryams Alptraum nach ihrer schließlich geglückten Flucht noch nicht vorbei ist. Eindringlich schildert Edna O'Brien, wie abschätzig das verschleppte und wieder entflohene Mädchen behandelt wird. Ihre eigene Familie scheint ihr entrückt, sie wird, aufgrund des ihr aufgezwungenen Schicksals, als "Buschfrau" verunglimpft und gemieden - und das Baby, das aus dieser Gefangenschaft entstanden ist und zu dem Maryam selbst nur schwer einen Zugang finden kann, soll am besten ganz verschwinden. Offizielle Behörden halten Maryam anfangs gar für eine Attentäterin und auch im Dorf sind entflohene Mädchen aus Angst vor möglichen Repressalien seitens der Terrorgruppe unerwünscht. All dies zeigt einmal mehr die perfide "Taktik" von Boko Haram und wie sie die Menschlichkeit an so vielen Stellen negativ beeinflusst.

"Das Mädchen" liest sich schnell weg, die Dramatik der Grundgeschichte mit ihren vielen kaum vorstellbaren Inhalten treibt die Leserschaft vorwärts. Trotzdem konnte mich die Erzählung - obwohl mich diese vielen schlimmen Ereignisse natürlich ziemlich schockiert haben - nicht vollständig packen. "Maryam" selbst ist ein kumulierter Charakter, in dem die Autorin die Schicksale mehrerer betroffener Mädchen, mit denen sie während ihrer Recherchereise nach Nigeria gesprochen hat, vereint hat. Im Buch kommen weitere betroffene Stimmen zu Wort, aus verschiedenen Regionen und Schichten des Landes, doch die Art, wie diese Vielstimmigkeit hier präsentiert wird, hat mich nicht immer gut gefallen. Die Erzählperspektiven schwenken teils recht unmotiviert hin und her, etwa durch das Einfügen längerer kursiver Absätze, die dann im Kontrast zu Maryams eigentlicher Erzählung stehen und mich unnötig aus der Unmittelbarkeit der Erzählung herausgerissen haben. Ebenso wie die Zeitenwechsel, die hier und dort scheinbar willkürlich, teils innerhalb eines nacherzählten Dialogs, auftauchten, und für mich keinen Sinn ergaben.

Nichtsdestotrotz ein eindringliches Buch, das anprangert und auf die schlimmen Schicksale dieser Mädchen aufmerksam macht, sie wieder mehr in den Fokus rückt und, besonders wichtig, sie dabei alles andere als "ausschlachtet": Denn trotz dieser unfassbaren Misshandlungen werden die Mädchen hier nicht als gesichts- und hilflose Opfer, sondern sehr respektvoll, empathisch und mit ihren eigenen Stärken dargestellt.

Veröffentlicht am 04.09.2020

Interessante Alternative zur Ilias

So sprach Achill
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Was für ein spannendes literarisches Experiment: Alessandro Baricco legt hier eine Art schönheitsoperierter Version der Ilias vor (wobei Schönheit, wie so oft, im Auge des/der Betrachtenden liegt): Ein ...

Was für ein spannendes literarisches Experiment: Alessandro Baricco legt hier eine Art schönheitsoperierter Version der Ilias vor (wobei Schönheit, wie so oft, im Auge des/der Betrachtenden liegt): Ein bisschen hier gestrafft, ein wenig da abgesaugt, und dort noch ein bisschen untergespritzt. Das Ergebnis konnte sich für mich durchaus sehen lassen.

Die Grundidee war folgende (der Autor erläutert das recht ausführlich in seinem Vorwort): Baricco wollte eine Art "alltagstauglichere" Version der Ilias, die von der Länge her für eine Radioübertragung umsetzbar war. Also würde hier mächtig gekürzt, unter anderem spielen die Auftritte der Gottheiten überhaupt keine Rolle. Auch wurde die Erzählweise komplett geändert: Statt choraler Verse gibt es hier Berichte in der Ich-Person aus wechselnden Erzählstimmen. Neben den bekannten Hauptcharakteren (Achilles, Odysseus, Helena usw.) der Erzählung kommen auch Nebenfiguren zu Wort. Selbst der Fluss bekommt ein Kapitel, um sich darüber zu beklagen, dass sich sein Wasser mehr und mehr vom Blut der Kriegswütigen getränkt wird. An einigen wenigen Stellen hat Barrico außerdem noch eigene Zeilen eingefügt (stets gekennzeichnet), die für mich ebenfalls gut ins Bild passten.

Trotz dieser gestrafften und anders ausgerichteten Art der Erzählung bliebt die Brutalität der ursprünglichen Geschichte erhalten - dies ist keine weichgespülte Version. Die detaillierten Beschreibungen der Kampfszenen sind häufig und immer wieder erschreckend: Seitenlange Erzählungen, wer wem welche Lanze wohin sticht, wo sie wieder rauskommt, welche Organe dabei zerfleischt bzw. mit herausgerissen werden usw. - wohl keine Lektüre für den Frühstückstisch.

Ich kann mir durchaus vorstellen, dass dieses Buch bei Hardcore-Ilias-Fans ein Stirnrunzeln oder mehr hervorruft. Für Leute wie mich, die die Grundzüge der Ilias kennen, sich bisher aber nicht dazu motivieren konnten, das Original zu lesen, bietet dieses Buch eine gute Alternative.

Veröffentlicht am 04.09.2020

Respektvolle Annäherung ans Alter

Dankbarkeiten
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In diesem Buch offeriert Delphine de Vigan eine Erzählperspektive, die, angesichts ihrer realen Häufigkeit in der Gesellschaft, viel zu wenig zu Gehör kommt: Die einer alten Frau, die den Verfall ihres ...

In diesem Buch offeriert Delphine de Vigan eine Erzählperspektive, die, angesichts ihrer realen Häufigkeit in der Gesellschaft, viel zu wenig zu Gehör kommt: Die einer alten Frau, die den Verfall ihres Körpers und Geistes bemerkt und das nahende Ende spürt. Es ist Michka, die aufgrund dieser sie immer mehr beeinträchtigenden Alterserscheinungen in ein Pflegeheim zieht. Sie weiß, ihr Ende ist nah, aber vor ihrem Tod will sie noch ihre Dankbarkeit zum Ausdruck bringen, gegenüber jener Familie, die sie als Kind einst vor den Nazis versteckte. Neben Michka spielen noch zwei jüngere Charaktere eine Rolle: Da ist zum einen Marie, die einst von ihrer Nachbarin Michka quasi aufgezogen wurde und die sich nun in einer Art Umkehr der Rollen um ihre alte Freundin kümmert. Außerdem kommt noch Jérôme zu Wort, der sich als Logopäde in dem Heim um mehr als nur Michkas Sprachverlust kümmert.

Das Buch ist dicht geschrieben und beleuchtet auf berührende Weise das Thema Altern und die damit einhergehenden Verluste. Da waren schon eins, zwei Passagen dabei, die mich schlucken ließen, denn trotz der schönen Sprache ist der Inhalt sehr berührend:

"Alt werden heißt verlieren lernen. [...] Eines Tages nicht mehr laufen, gehen, sich beugen, sich bücken, etwas aufheben, spannen oder falten können [...] Das Gedächtnis verlieren, seine Fixpunkte verlieren und seine Wörter verlieren."

Das ist ein Schicksal das - so nichts dazwischen kommt - vermutlich den meisten von uns bevorsteht. Gleichzeitig ist es das Schicksal, das möglicherweise jemand, den wir kennen (und lieben) vielleicht gerade durchmacht. Grund genug also, sich auch literarisch mal damit zu beschäftigen - und dafür ist dieses Buch eine durchaus gute Wahl. Denn Delphine de Vigan behandelt ihre Charaktere respektvoll und einfühlsam - bis hin zum Thema Tod/Sterben.

Doris Heinemann übersetzt wie gewohnt stimmig und einfach "passend" - wobei sie in diesem Buch durch Michkas immer stärker verschwindendes Sprachvermögen und die dadurch benutzten falschen Wörter bzw. Wortneuschöpfungen vor eine besondere Herausforderung gestellt wurde, die sie mit Bravour gemeistert hat.

Die Geschichte um Michka empfand ich stimmig und rund erzählt, allerdings blieben mir die beiden Nebencharaktere etwas zu blass. Bei beiden wurde eine Art Hintergrundgeschichte eingeführt, die ihrerseits auch wieder mit der von Michka verknüpft wurde - aber da empfand ich die Verteilung der Pespektiven nicht ganz stimmig. Entweder hätte ich gerne mehr sowohl von Marie als auch von Jérôme erfahren - oder jeweils weniger, denn Michka hätte die Geschichte auch alleine getragen. Trotzdem: Ein Buch, das es verdient, gelesen zu werden!

Veröffentlicht am 04.09.2020

Leichtes, spaßiges Sommerbuch mit Botschaft.

Fleishman steckt in Schwierigkeiten
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Das war ein ziemlicher Lesespaß - genau die Art, die vor allem unterhält, aber dennoch mit einer Botschaft aufwartet. Ein Roman, der sowohl lustig als auch melancholisch ist, der sowohl Augenrollen als ...

Das war ein ziemlicher Lesespaß - genau die Art, die vor allem unterhält, aber dennoch mit einer Botschaft aufwartet. Ein Roman, der sowohl lustig als auch melancholisch ist, der sowohl Augenrollen als auch Mitgefühl hervorruft.

Der Fleishman, auf den sich schon der Titel bezieht, ist Toby (nur: ist er das wirlkich?), ein Ü40-Vater von zwei Kindern, frisch getrennt von seiner Gattin - jetzt ist er bereit, das Leben als Single in einer Welt voller Dating-Apps und unverfänglichem Sex zu erkunden. Aber gerade, als Toby seine kleine Midlifekrise voll auskosten will, verschwindet seine Noch-Gattin und überlasst ihm die elterlichen Pflichten... mal wieder.

Eigentlich geht es hier also um first world problems "de luxe" - die Story spielt nicht nur im New York der Reichen, sondern der Superreichen und Ultrareichen. Als Arzt, der "gerade mal" 280.000 Dollar pro Jahr mit nach Hause bringt (herrje...) steht Toby in dieser extrem priveligierten Hackordnung ziemlich weit unten. Seine Bald-Ex Rachel, die sich aus eigener Kraft ganz nach oben gearbeitet hat und eine berühmte Promiagentin wurde (und die auf dem Weg dorthin ihre Familie augenscheinlich vernachlässigt hat, herrje, herrje...), verdient locker das Fünfzehnfache - und selbst das sind noch Peanuts im Vergleich zu dem Wohlstand der Familien, zu denen Rachel so gerne dazugehören möchte.

Warum sollte man so ein Buch über Luxuprobleme lesen, die auf der Midlifekrise eines Mannes basiert, der sich in seiner Rolle als jammernder Vater mit zu viel "Familienpflichten" vielleicht auch ganz wohl fühlt - kann er doch weiter jammern und Mitleid erhaschen?

Zwei Gründe: Zum einen macht Taffy Brodesser-Akner's Schreibe richtig Spaß. Zweitens: Die ganze Geschichte wird, auf der coole und pfiffige Weise, von einem trojanischen Pferd infiltriert. Erzählerin der Geschichte ist nämlich Libby, eine alte Studienfreundin von Toby. Sie ist - das Alter Ego der Autorin lässt grüßen - eine Magazonjournalistin, bekannt für ihre Porträts über Männer, die ihr eigentlich dazu dienen, über Frauen zu schreiben:

"They [the men] said all the things I wasn't allowed to say aloud without fear of appearing grandiose or self-centered or conceited or naricissistic. I imposed my narrative onto theirs [...]. I wrote about my problems through them."

Also - wessen Geschichte lesen wir hier, und wie (ver)ändert das die Eindrücke der Lesenden? Genau diese Frage macht, abgesehen von einigen äußerst unterhaltsamen Nebenplots (wie die Geschichten der Frauen, die Toby trifft oder die Probleme seiner Kinder), dieses Buch durchaus lesenswert. Es regt zum Nachdenken an, öffnet Raum für Diskussionen, beginnend bei den Charakteren und ob sie liebenswert sind - ich bin da zu keiner abschließenden Meinung gekommen ;) Dafür weiß ich dies: Mit gefällt dieser Roman, so, wie er ist: Ein leichtes, spaßiges Sommerbuch mit Botschaft.

Veröffentlicht am 04.09.2020

Komprimierte, bedrückende Parabel

Die Parade
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"Die Parade" ist eine novellenartige, gut und schnell lesbare Parabel zum Thema Entwicklungshilfe, frei nach dem Motto: Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht (zumindest nicht immer für alle Beteiligten). ...

"Die Parade" ist eine novellenartige, gut und schnell lesbare Parabel zum Thema Entwicklungshilfe, frei nach dem Motto: Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht (zumindest nicht immer für alle Beteiligten). Vier und Neun,zwei namenlose Facharbeiter, helfen beim Aufbau der Infrastruktur eines vom Bürgerkrieg zerrütteten Landes. Mit Hilfe einer komplexen und modernen Maschine asphaltieren sie innerhalb weniger Tage eine Straße, die den wohlhabenderen Teil des Landes mit dem ärmlicheren verbinden und so auch diesen Gebieten medizinische Versorgung und vieles mehr bringen soll. Die titelgebende Parade ist für den Abschluss der Bauarbeiten geplant.

Was nach einem ziemlich klaren Auftrag klingt, gestaltet sich von Beginn an kompliziert, vor allem für Vier, der den überkorrekten, verlässlichen Arbeiter symbolisiert. Er will nur seine Arbeit machen, sich dabei strikt an die Anweisungen halten und den Job wie viele andere zuvor möglichst schnell und ohne Kontakt zur Außenwelt - den Regeln entsprechend - hinter sich bringen. Ganz anders Neun, der die Nähe der Menschen vor Ort sucht. Er will nicht nur eine Straße bauen, sondern gerne auch auf andere Art helfen - was den Regeln der Firma, in dessen Auftrag die Straße gebaut wird, widerspricht und vor allem auch Viers Unmut nach sich zieht.

Dass Vier und Neun quasi auf engsten Raum unterschiedliche Ansätze der Entwicklungshilfe westlicher Industrienationen und den daraus resultierenden Folgen symbolisieren, könnte kaum offensichtlicher sein. Doch trotz dieser fast schon zu einfachen Symbolik lebt das kurze Werk von dem wachsenden Konflikt zwischen Vier und Neun und der daraus enstehenden Spannung. Denn schon nach kurzer Zeit zeichnet sich ab, dass Neuns Interaktionen mit den Einheimischen Konsequenzen haben, die die Fertigstellung der Straße gefährden könnten. Und so muss Vier Entscheidungen treffen, mit denen er sich im Laufe seiner bis dato glänzenden Karriere noch nicht befassen musste...

Nichts allzu viel Neues und dazu ziemlich offensichtlich - dennoch ist "Die Parade" empfehlenswert, denn Eggers erzählt gut und spannend. Man kann den heißen Asphalt fast riechen, die Hilflosigkeit der Einheimischen und ihre Hoffnung auf die Straße fast spüren. Die Kürze von knapp unter 200 Seiten bietet eine komprimierte Geschichte mit einem Ende, das fast schon unausweichlich schien.