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Veröffentlicht am 04.09.2020

Sattes Familienepos

Das Holländerhaus
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Ach, das hat Spaß gemacht - dieses Buch ist ein richtig "sattes" Familienepos. Erzählt wird die Geschichte zweier Geschwister über fünf Jahrzehnte und mehrere Generationen hinweg - ich sage doch, familiär ...

Ach, das hat Spaß gemacht - dieses Buch ist ein richtig "sattes" Familienepos. Erzählt wird die Geschichte zweier Geschwister über fünf Jahrzehnte und mehrere Generationen hinweg - ich sage doch, familiär richtig "satt" ;) Maeve ist zu Beginn elf Jahre alt, ihr jüngerer Bruder Danny sechs. Sie wachsen mit ihrem Vater in einem riesigen, geschichtsträchtigem Gebäude auf, eben jenem Holländerhaus. Die Mutter hat die Familie verlassen - ihr Verschwinden wird über die Jahre immer wieder beherrschendes Thema bei den Geschwistern sein (ebenso wie das Haus).

Ohne Mutter (dafür mit sehr liebevollem und schön gezeichnetem Personal) im Haus hat Maeve schon früh die Rolle der Beschützerin für ihren Bruder übernommen - eine Rolle, die sie im Laufe der Jahrzehnte immer wieder unterschiedlich interpretiert. Danny ist sich seiner Rolle und der seiner Schwester bewusst, und die enge Bindung und Loyalität der Geschwister zueinander stellt sich nicht immer als gänzlich konfliktfrei dar.

Ich habe mich sehr gerne in diesem Setting aufgehalten. Die Geschichte plätschert nett dahin, und ich meine das ausschließlich positiv! Es gibt schon einige Gimmicks: Die Geschichte wird nicht gänzlich linear erzählt sondern springt zeitlich hier und dort, das Märchen-Thema von Hänsel und Gretel ist recht offensichtlich, aber dafür auch sehr charmant umgesetzt, es ist angenehm und interessant, mit Maeve und Danny zu "altern" und das Drama, die vielen tollen emotionalen Momente, können sich durchaus sehen lassen.

Was mich bei diesem Buch letztlich besonders begeistert hat, war, dass es eine TOPP 1A herrlich hassenswerte böse Stiefmutter gibt. Hach, wie lange hatte ich keinen Charakter mehr, den ich so leidenschaftlich, mit so viel Hingabe, verachten und mental ausbuhen konnte. So was muss auch mal sein, und da hat Ann Patchett hier für mich 100% ins Schwarze getroffen.

Veröffentlicht am 04.09.2020

Spannende Themenauswahl, etwas lau umgesetzt

Der Empfänger
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Das Rheinland in den späten 1920er Jahren: Die Brüder Josef und Carl träumen gemeinsam davon, nach Amerika auszuwandern. Kurz vor der Abreise geschieht ein Unfall, der Carls Traum jäh zerplatzen lässt ...

Das Rheinland in den späten 1920er Jahren: Die Brüder Josef und Carl träumen gemeinsam davon, nach Amerika auszuwandern. Kurz vor der Abreise geschieht ein Unfall, der Carls Traum jäh zerplatzen lässt - Josef wandert alleine aus, Carl bleibt in Deutschland zurück. Erst 20 Jahre, eine Diktatur und einen Krieg später treffen sich die Brüder wieder. Der Konflikt ist offensichtlich: Da der eine, der seinen Traum wahr gemacht hat, seinen Bruder aber zurücklassen musste. Da der andere, der bleiben musste und weiß, dass den Bruder eigentlich keine Schild trifft.

Als wäre dieses Dilemma nicht schon groß genug, spielt natürlich auch die Zeit eine tragische Rolle - Joseph, der sich in den USA Joe nennt, gerät als Deutscher ins Visier sowohl von dortigen deutschen Nazis, die möglicherweise interne Unruhen in den Staaten herbei führen wollen, als auch vom FBI, eben weil er mit den Nazis zu sympathisieren scheint. Doch was sind Joes, dessen Leidenschaft Amateurfunken den Plot auf mehreren Ebenen voran treibt, wirkliche Beweggründe für sein Handeln - und kann er darüber eigentlich selbst bestimmen?

Ulla Lenzes Roman hat inhaltlich jede Menge spannende Ansätze zu bieten. Die Geschichte eines deutschen Exilanten in den USA vor und während des 2. Weltkrieges erschien mir inhaltlich frisch, auch die moralischen Aspekte der Brüderbeziehung fand ich vielversprechend. Und das las sich auch alles recht flott weg - dennoch blieb mir das Buch ein wenig, hm, "unnahbar".

Möglicherweise liegt die Crux in der Authentizität: Ulla Lenze hat sich von der Geschichte ihres Großonkels inspirieren lassen, ihre Mutter kommt als Tochter des Bruders in der Erzählung vor. Möglicherweise wäre hier etwas mehr Anlehnung, also mehr Fiktion, die bessere Wahl gewesen. Mir erschien einiges zu uneindeutig, zu wenig "kantig". Mag sein, dass die Geschichte einfach nicht mehr hergegeben hat, mag sein, dass die Autorin ihren Großonkel nicht zu "intim" zeichnen wollte, mag sein, dass nur ich das so empfinde. Aber leider beschlich mich eine gewisse Gleichgültigkeit, auch wenn das Buch durchaus spannende, geradezu fesselnde Momente hatte. Mir blieb zu viel im Unklaren, und zu dem sowieso schon recht gut bestückten Grundideenfundus kamen noch diverse zeitgeschichtliche Themen, die quasi nur im Vorbeigehen angeschaut wurden (z.B. die angebliche Verschwörung über die Schriftrollen von Zion.)

Das Buch hat mich an einigen Stellen an Wintermänner erinnert: Nicht nur wegen der ähnlichen thematischen Ausgangslage (zwei deutsche Brüder, die die Nazizeit und den 2. Weltkrieg getrennt und unterschiedlich erleben), sondern auch wegen der Grundsatzfragen darüber, ob es reicht, sich einfach nur als "guten Menschen" zu deklarieren und zu fühlen, oder ob dazu nicht ein bisschen mehr eigenes Engagement nötig ist. Der große Unterschied zu beiden Büchern ist natürlich die Exilantensichtweise, die Ulla Lenze ihrem titelgebenden Empfänger mit auf den Weg gibt.

Fazit: Spannende Themenauswahl, die mir in der Umsetzung hier und da zu wenig "Fleisch am Knochen" hatte.

Veröffentlicht am 04.09.2020

Die Geschichte des Terrors und seiner Folgen

Der Fetzen
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Philippe Lançon ist Journalist und Überlebender des Attentats auf die Redaktion des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo im Januar 2015. In diesem Buch verarbeitet er seine lange, mühsame Leidengeschichte, ...

Philippe Lançon ist Journalist und Überlebender des Attentats auf die Redaktion des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo im Januar 2015. In diesem Buch verarbeitet er seine lange, mühsame Leidengeschichte, unterteilt sein Leben in das "Davor" und "Danach", schildert den Anschlag, die ersten Momente danach, die zahlreichen Operationen und Krankenhausaufenthalte, das Entschwinden aus der "aktiven" Gesellschaft und schließlich den beschwerlichen Weg zurück ins (neue) Leben.

Man mag sich so eine Qual, physischer und psychischer Natur, überhaupt nicht vorstellen - und man kann es auch nicht. So war es sicher auch ein Hauch Voyeurismus, gepaart mit der Neugier auf Verarbeitungsstrategien des Traumas, die mich zu diesem Werk greifen ließen. Stichwort: "Wie gehe ich mit dem Überleben um, wenn so viele andere gestorben sind - warum ich?" oder auch "Wie kann ich Außenstehenden auch nur im Ansatz begreifbar machen, was passiert ist - und wie ich (nicht) damit umgehen kann?"

Zunächst: Applaus für Philippe Lançon, nicht nur fürs "bloße Überleben", sondern fürs Kämpfen und Abrackern und Festhalten all dieser Umstände - der Autor geht mit allen, sich selbst eingeschlossen, offen und ehrlich um. So gesehen ist dieses Buch sicher eine Art Befreiungsschlag für ihn - es ist schon teils recht schonungslos, wie er Unzulänglichkeiten (eigene, die anderer, des Gesundheitssystems) aufdeckt und beschreibt. Ich fragte mich dann aber irgendwann: Ist das noch Buch oder schon Therapie - und ist das auch wirklich alles für mich und meine Ohren (bzw. Augen) bestimmt? Es ist schon eine besondere Intimität, die der Autor hier zulässt, und die auf die lesende Person überspringt. Das muss man mögen - ist aber natürlich bei der Thematik erwartbar, da sollte eigentlich man schon so halbwegs wissen, worauf man sich einlässt.

Nun zum großen Aber: Auch Lançons Stil muss man mögen, und da musste ich dann doch ziemlich mit kämpfen. Die Sprache ist sehr literarisch, blumig und extrem von Exkursen zu verschiedensten "schönen Künsten" (Literatur, bildende Kunst, Jazz, Philosophie...) geprägt. Augenscheinlich erzählt Lançon seine Geschichte chronologisch - doch das häufige Bewusstseinsstrom-artige Schwadronieren über Hochkultur hat mich immer wieder rausgerissen und dann auch sehr schnell gelangweilt. Ich konnte die vielen derartigen Ausflüge nicht oder nur kaum in Bezug zur eigentlichen Geschichte setzen, so wie es wohl gedacht war.

Und wie immer ist auch hier meine Bewertung daher eine ganz persönliche Sache: So sehr mich die Thematik auch interessierte und so sehr ich auch Lançons Offenheit schätze, um so enttäuschter war ich größtenteils mit der Umsetzung.

Veröffentlicht am 04.09.2020

Pandemien im Wandel der Zeit

Pest und Corona
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Wie bei jedem Thema des "Zeitgeistes" hat der Buchmarkt aktuell auch einiges zu "Corona/Covid-19" zu bieten, und ich frage mich bei diesen Büchern ja immer, wie viel davon Schnellschuss ist und was wirklich ...

Wie bei jedem Thema des "Zeitgeistes" hat der Buchmarkt aktuell auch einiges zu "Corona/Covid-19" zu bieten, und ich frage mich bei diesen Büchern ja immer, wie viel davon Schnellschuss ist und was wirklich halbwegs interessante, hilfreiche oder zumindest nicht vollends verschwurbelte Lektüre zum Thema sein möge. Ist so ein Buch in einer Zeit, in der wöchentlich, wenn nicht täglich eine neue Sachlage neue Reaktionen und Folgen hervorruft, nicht zur Erscheinung schon überholt?

Nun, mit diesem vorliegenden Werk macht man, was diese Überlegungen angeht, nicht viel falsch. Dieses Buch erscheint in der Tat zum "richtigen" Zeitpunkt (oder dem, was einem solchen in diesen Tagen entspricht), denn es fokussiert nicht allein auf die Gegenwart und leitet daraus mögliche spekulative Entwicklungen ab. Es vergleicht vielmehr die aktuelle Pandemie mit vorherigen, analysiert die damaligen Vorgehen und ihre Ergebnisse und versucht, daraus Empfehlungen für die aktuelle Situation abzuleiten.

Natürlich wird auch dieses Buch in absehbarer Zukunft zumindest teilweise überholt sein - was das aktuelle Zahlenmaterial und den aktuellen Forschungsstand (hier: Ende April 2020) betrifft. Zum Zeitpunkt des Lesens fiel das noch nicht so ins Gewicht, abgesehen davon ist der eigentliche Inhalt dann wieder recht zeitlos. Die Autoren sind "alte Hasen" in Sachen Medizin und Medizingeschichte, müssen sich also nicht groß in eine komplett neue Materie einarbeiten. Auch dies erklärt sicher einen Teil der "schnellen" Veröffentlichung.

Grundsätzlich ist die Sprache und Argumentation der Autoren sehr sachlich und verständlich. Sie vergleichen Corona auf verschiedenen Ebenen mit vergangenen, großen Pandemien - von Pest und Cholera über Polio, Malaria und Spanische Grippe bis hin zu Aids - Beispiele gibt es genügend. Wie wurden diese Pandemien entdeckt, eingedämmt, wie wurde ihnen vorgebeugt? Welche Maßnahmen erwiesen sich als hilfreich, welche als unsinnig? Und welche Lehren wurden daraus gezogen? Die Autoren stellen auch durchaus kritische Fragen, aber auch hier: Sachlichkeit first! Das kommt alles sehr seriös und fundiert daher.

Die medizinhistorischen Bereiche haben mir gut gefallen. Da waren einige durchaus spannende, teils erschreckende und auch sehr informative Aspekte dabei. Allerdings gab es dafür auch einige Passagen, die sich teils sehr detailliert mit verschiedenen naturwissenschaftlichen Teilbereichen befasst haben. Da hat mir das Buch etwas zu sehr geschlingert und ich fragte mich (und das nach immerhin gut einem Drittel des Textes), ob ich überhaupt zum Zielpublikum gehöre. War mir persönlich an diesen Stellen eindeutig zu wissenschaftlich. Auch kam mir der "Ausblick-Teil" zu wenig vor, hier hatte ich mir etwas mehr von erhofft.

Veröffentlicht am 04.09.2020

Empfehlenswertes Buch zum Thema

Vom Ende der Klimakrise
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Ein grundsolides, durchaus auch informatives Werk der deutschen Fridays for Future-Aktivistin Luisa Neubauer und des Politökonomen Alexander Repenning. Den "jungen Leuten" werden ja oft mangelnde Kenntnisse, ...

Ein grundsolides, durchaus auch informatives Werk der deutschen Fridays for Future-Aktivistin Luisa Neubauer und des Politökonomen Alexander Repenning. Den "jungen Leuten" werden ja oft mangelnde Kenntnisse, blinder Aktionismus und/oder übereifrige Panikmache vorgeworfen. Mit diesem Buch beweisen sie, dass sie sehr wohl wissen, wovon sie sprechen, warum sie das tun und was sie fordern (und warum).

Es versteht sich dabei fast schon von selbst, dass dies kein Buch ist, das individuelle Tipps zu einem nachhaltigeren Leben auflistet. Das kann es und will es auch gar nicht. Denn natürlich trägt auch dieses Buch die eindeutige Botschaft: Die Taten und Verhaltensweisen jedes Individuums in allen Ehren, solange sie keine größere Bewegung auslösen, muss viel "weiter oben" angesetzt werden - hier sind sich die meisten AutorInnen der Bewegung/Thematik (zumindest die, die ich bisher dazu gelesen habe) ja ziemlich einig.

Die AutorInnen erklären vielmehr ihre allgemeine als auch sehr persönliche Motivation zu ihrem Engagement in der Klimakrise. Sie zeigen die verschiedenen Facetten der Krise auf: Warum sie nicht nur "allgemein scheiße" ist, sondern, warum sie von der globalen Ungerechtigkeit nur noch weiter befeuert wird und sie gleichzeitig vorantreibt, inwiefern der Kapitalismus dem Ganzen Vorschub leistet, wie es mit der "Generationenverantwortung" aussieht und warum es so schwer fällt, gegen all das anzugehen.

Auch die Leidenschaft der AutorInnen sticht hervor - vor allen in den hinteren Kapiteln, die sich hauptsächlich mit der Mobilisierung (von sich selbst und anderen) beschäftigt und motivierende Aufrufe, Tipps und konkrete Vorschläge bietet.

Grundsätzlich kann man also sagen, dass das Buch eine gute Übersicht zur Faktenlage und eine ebensolche Basis für weitere Diskussionen bietet. Allerdings hatte das Werk für mich auch seine Längen - hier und da fand ich es auf der persönlichen Ebene doch zu ausschweifend. Natürlich ist es eine interessante Info, was die AutorInnen persönlich bewegt, und ich verstehe auch, dass sie sich so einiges vielleicht auch einfach mal "von der Seele schreiben" wollten - gerade Luisa Neubauer musste sich ja hier und da so einiges anhören. Mir persönlich wurde es dann an einigen Stellen aber doch zu viel. Nichtsdestotrotz ein empfehlenswertes Buch zum Thema.