Erhellend
Der 8. Oktober"Bis zum 7. Oktober 2023 glaubte ich, Verbrechen gegen die Menschlichkeit seien die letzten Ereignisse, die abweichende Überzeugungen und Meinungen in einer moralischen Gemeinschaft des Mitgefühls noch ...
"Bis zum 7. Oktober 2023 glaubte ich, Verbrechen gegen die Menschlichkeit seien die letzten Ereignisse, die abweichende Überzeugungen und Meinungen in einer moralischen Gemeinschaft des Mitgefühls noch zusammenbringen könnten."
Die Erschütterung, die Eva Illouz und Jüdinnen/Juden weltweit am 7. Oktober 2023 und vor allem in den Wochen danach - als Menschen weltweit das Massaker nicht nur rechtfertigten, sondern vielmehr bejubelten und feierten (darunter viele, die sich als progressive Linke identifizieren) -, kann ich mir nicht einmal ansatzweise vorstellen.
Eva Illouz nimmt die Mitleidlosigkeit insbesondere der progressiven Linken gegenüber den Opfern des Massakers zum Anlass, nach Gründen für die neue Form des Antisemitismus zu suchen, die sie unter anderem - meiner Meinung nach treffend - als einen "sich tugendhaft gebenden Hass" bezeichnet. Dabei bedient sie sich vor allem soziologischer, historischer und theoriegeschichtlicher Argumente.
Der Essay ist nicht ganz einfach zu lesen, aber ich habe die Ausführungen sehr spannend gefunden und das Buch geradezu verschlungen. Auch dank seiner Kürze hat man den Text schnell gelesen, aber er hallt im besten Sinne nach und ich werde das Büchlein sicher öfter in die Hand nehmen. Ich für meinen Teil hätte gefühlt jeden zweiten Absatz markieren können (würde ich Sätze oder Absätze markieren), um sie zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal auf mich wirken zu lassen.
"Leider haben wir keinen Grund zu der Annahme, die kulturellen und intellektuellen Eliten seien in Bezug auf sich selbst weniger selbstgefällig und blind als die wirtschaftlichen Eliten."
Wie das bei Essays oft der Fall ist, bleibt auch dieser teilweise oberflächlich. Ich hätte mir an einigen Stellen mehr Tiefgang gewünscht. Auch kann ich zwar Eva Illouz' rationalen Ansatz verstehen, sie wird dadurch aber meiner Meinung nach antisemitische Linke (oder generell Antisemiten) leider nicht überzeugen oder zumindest zum mehr Selbstreflexion animieren.
"Der Hass beschädigt und macht unglaubwürdig."
Alles in allem empfehle ich den Text sehr. Trotz der Kürze werden ungemein viele interessante Aspekte angesprochen, so dass ich ihn insgesamt als Bereicherung empfunden habe. Man muss nicht mit allen Schlussfolgerungen einverstanden sein, aber interessiert und offen an Illouz' Ausführungen heranzugehen, erweitert den Horizont allemal.