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Veröffentlicht am 14.08.2019

Erschreckende Dystopie mit wichtiger Botschaft, aber auch Schwächen

Dry
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Achtung! Die Rezension enthält Spoiler, vor denen aber im Text noch einmal gewarnt wird!


Inhalt

Es ist so weit, die Katastrophe ist eingetreten: Aus Alyssas Wasserhahn kommt kein Tropfen Wasser mehr. ...

Achtung! Die Rezension enthält Spoiler, vor denen aber im Text noch einmal gewarnt wird!


Inhalt

Es ist so weit, die Katastrophe ist eingetreten: Aus Alyssas Wasserhahn kommt kein Tropfen Wasser mehr. Die Behörden bitten die Bewohner Kaliforniens, ruhig zu bleiben und versprechen baldige Hilfe. Doch diese kommt nicht. Schon am ersten Tag beginnt die dünne Schicht der Zivilisation zu bröckeln, als die Leute im Supermarkt um die letzten Wasserflaschen streiten, bereits am dritten Tag eskaliert die Lage. Es ist erschreckend, wie schnell das geht. Jeder scheint sich selbst der Nächste zu sein. Bald wird um jeden Schluck Wasser erbarmungslos gekämpft…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: FISCHER Sauerländer
Seitenzahl: 448
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens
Perspektive: mehrere weibliche und männliche Perspektiven
Kapitellänge: kurz bis mittel
Tiere im Buch: +/- Angeblich tötet eine der Figuren mit einem Luftdruckgewehr Tiere (hier ist nicht sicher, ob das den Tatsachen entspricht), Kelton redet zudem gerne über die Jagd und ist ein überzeugter Jäger. Dutzende Fische sterben, weil jemand ein Aquarium zerstört, die überlebenden haben auch keine guten Chancen; es werden Witze auf Kosten der toten Tiere gemacht, ein Hund wird bei der Flucht trotz Platz im Auto zurückgelassen, jemand trägt eine Kaninchenpfote als Glücksbringer am Schlüsselbund mit sich. Andererseits gibt die Familie auch dem Hund Wasser, als dieses knapp wird und behandelt ihn sehr gut. Es werden keine Tiere von den Hauptfiguren gequält oder getötet.

Warum dieses Buch?

Ich liebe Endzeitszenarien, verfolge besorgt die Auswirkungen des Klimawandels und mochte auch die „Scythe“-Reihe von Neal Shusterman gern. Das alles, das Thema der Geschichte und die Tatsache, dass der Autor das Buch gemeinsam mit seinem Sohn geschrieben hat, haben mich sofort neugierig gemacht!

Meine Meinung

Einstieg (♥)

"Der Wasserhahn in der Küche gibt sehr bizarre Geräusche von sich. Er keucht und hustet, als hätte er einen Asthmaanfall. Er gurgelt wie ein Ertrinkender, spuckt einmal und verstummt dann ganz." E-Book, Position 41

Ich hatte keinerlei Probleme, ins Buch zu finden. Im Gegenteil, die Geschichte beginnt im genau richtigen Tempo, lässt uns Zeit, die Protagonistin und ihre Familie kennenzulernen, und kommt dann immer mehr ins Rollen, als das Unglück seinen Lauf nimmt, und die Welt im Chaos versinkt. Sehr gelungener Anfang!

Schreibstil (+)

Der anschauliche Schreibstil des Vater-Sohn-Gespanns konnte mich auch dieses Mal überzeugen. Neal und Jarrod Shusterman schreiben sehr flüssig, einfach und angenehm, sodass das Buch nicht nur für das jugendliche Zielpublikum, sondern auch für Lesemuffel gut geeignet ist. Dabei kann das Buch sowohl in spannenden als auch in eher stillen, emotionalen Momenten glänzen, auch wenn einen die Sätze meist ästhetisch nicht umhauen und manchmal etwas unmotiviert aneinandergereiht wirken. Ich bin insgesamt zufrieden!

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)

„Irgendwas fühlt sich komisch an. Ich weiß nicht genau, was es ist, aber es hängt in der Luft wie ein Geruch. Es ist die Ungeduld der Menschen vor den Kassen. Fast wie mit einem Rammbock bahnen sich die Leute mit ihren Einkaufswagen einen Weg durch die Schlangen. Es herrscht eine Art primitive Ur-Feindlichkeit, nur verdeckt von einer dünnen Schicht aus vorstädtischer Höflichkeit, die langsam fadenscheinig wird.“ E-Book, Position 148

Den Aufbau des Buches und das Worldbuilding fand ich sehr gut gelungen. Neben Kapiteln aus vier verschiedenen Perspektiven gibt es zwischendurch immer wieder so genannte „Snapshots“, die kurz das Leben einer anderen Person beleuchten. Auf diese Weise erfahren wir wie Nachrichten-Moderatorinnen, LKW-Fahrer, die Wasser liefern, und die verweifelten Menschen in den Versorgungszentren die Katastrophe erleben und damit umgehen. So erhalten wir ein recht umfassendes Bild von der schrecklichen Lage, was ich sehr gelungen fand. Die vielen Perspektivwechsel haben mich nicht gestört – im Gegenteil, sie haben Tempo in die Geschichte gebracht. Positiv fand ich auch, dass dieses Mal keine kitschige Liebesgeschichte die Hauptstory in den Hintergrund gedrängt hat – denn das hatte ich zwischenzeitlich schon fast befürchtet.

Mit „Dry“ haben die beiden Autoren mit Sicherheit eine wendungsreiche, glaubwürdige Dystopie geschaffen, die diesen Namen verdient hat. Am erschreckendsten an der Katastrophe ist mit Sicherheit die Tatsache, dass diese gar nicht allzu weit hergeholt ist. Schon jetzt spüren wir die Folgen des Klimawandels, schon jetzt gibt es immer schlimmere Waldbrände, Dürren, Überschwemmungen und Wirbelstürme. Und noch immer verschwenden wir Wasser, leben, als hätten wir es unbegrenzt zur Verfügung. Wasserknappheit wird noch Konflikte und Kriege auslösen, prophezeien Experten. In der Geschichte ist der Tap-Out bereits geschehen – und die Folgen sind verheerend. Denn ohne Nahrung kann der menschliche Körper immerhin mehrere Wochen leben, ohne Flüssigkeit jedoch nur ein paar Tage. Schnell bricht Panik aus, die Lage eskaliert, durch verunreinigtes Trinkwasser kommt es zu Infektionen und Krankheiten. Wertgegenstände werden in Autos und Häusern zurückgelassen, weil nur mehr eines zählt und sich schnell zum wertvollsten Gut überhaupt entwickelt: Wasser.

Die Botschaft der Geschichte scheint klar: Schluss mit der Wasserverschwendung! Und: Wir müssen endlich aufhören, den Klimawandel und seine schrecklichen Folgen zu verharmlosen und zu verdrängen! Wir müssen die Notbremse ziehen, bevor es zu spät ist! Und schaden kann es sicher nicht, wenn wir uns auf Ernstfälle (egal welcher Art) vorbereiten und genug Konserven und Wasser für einige Wochen einlagern. Immer wieder gibt es im Buch auch Situationen, in denen moralisch schwierige Entscheidungen getroffen werden müssen. Unweigerlich fragt man sich irgendwann: Was hätte ich getan? Wie hätte ich gehandelt?

Nicht überzeugen konnte mich neben der immer wieder fehlenden Tiefe und einigen Logiklöchern, auf die ich gleich noch näher eingehen werde, das Ende.

Achtung: Spoiler!

Wie auch schon andere RezensentInnen geschrieben haben, ist das Ende nicht nur „Friede, Freude, Eierkuchen“, sondern da ist sogar noch Zuckerguss obendrauf. Ich fand das besonders bei einer Dystopie zu unrealistisch; mir war das eindeutig zu viel.

Spoiler: Ende!

ProtagonistInnen (+/-)

„‘Sie sagen, wir sollen ruhig bleiben‘, betont Alyssa.
‚Ja, das haben sie auch zu den Leuten auf der Titanic gesagt, als sie schon wussten, dass sie sinken wird.‘
Und er hat recht. Vom Standpunkt der Behörden aus sind ruhiggestellte Menschen, die still und leise sterben, viel einfacher zu händeln als wütende Menschen, die um ihr Leben kämpfen.“ E-Book, Position 1226

Man merkt, dass sich die Autoren Mühe gegeben haben, ihre Figuren eine Entwicklung durchmachen zu lassen. Alle Charaktere haben ihre Stärken und Schwächen und handeln moralisch nicht immer vollkommen einwandfrei – etwas anderes wäre in einer solchen Situation auch unrealistisch. Besonders ihr Verhalten in Ausnahmesituationen – wenn es um Leben und Tod ging – war für mich sehr spannend zu beobachten. Trotzdem hat mir auch hier oft Tiefe und Einzigartigkeit gefehlt; vielleicht fiel es mir deswegen stellenweise schwer, mit ihnen mitzufühlen und mitzufiebern. Zudem fand ich ihr Handeln leider nicht immer logisch und glaubwürdig. Ein Beispiel: Die Familie findet heraus, dass aus den Leitungen kein Wasser mehr kommt und weiß, dass es nun wichtig und schlau wäre, sich mit Wasser- und Essensvorräten einzudecken. Aber aus irgendeinem Grund beschließen sie, erst Stunden später einkaufen zu fahren und müssen dann um die letzten Flaschen kämpfen – obwohl es überhaupt keinen Grund gab, so lange zu warten!

Einige Figuren waren mir auch sehr unsympathisch, besonders der egoistische, feige Henry. Aber auch der Waffenfreak Kelton, der vor Ehrfurcht feuchte Augen bekommt, weil seine Waffe so schön glänzt, hat bei mir immer wieder Augenrollen und Gefühle der Hassliebe ausgelöst.

Figuren (+)

Die anderen Personen fand ich sehr gut gelungen, auch wenn sie nur kurze Auftritte im Buch hatten. Für Nebenfiguren waren sie wirklich erstaunlich gut ausgearbeitet und durften viele Facetten von sich zeigen. Das hat mir gefallen!

Spannung & Atmosphäre (+/-)

„Für eine Wasserkrise gibt es keine Radarbilder. Keine Sturmfluten, keine Trümmerfelder. Der Tap-Out ist so lautlos wie Krebs.“ E-Book, Position 319

Das Buch überzeugt mit einem sehr starken Beginn. Es lässt uns miterleben, wie unscheinbar alles beginnt, wie schnell die Lage aber immer weiter eskaliert. Leider kann die Geschichte ihr hohes Spannungslevel nicht bis zum Schluss halten, im Mittelteil gibt es einige Passagen, in denen der Spannungsbogen einbricht. Jedoch gelingt es den Autoren immer wieder, Spannung neu aufzubauen und die Neugier der LeserInnen mit vielen unerwarteten Wendungen, einer unvorhersehbaren Geschichte und so manchem geschickt platzierten Cliffhanger neu zu entfachen.

Wirklich begeistern konnte mich hingegen die Atmosphäre im Buch. Leere Wohnsiedlungen, aufgebrachte Menschenmengen, geplünderte Häuser - das Chaos, von dem die Welt heimgesucht wird, ist auf jeder Seite spürbar. Die vielen „Snapshots“ geben kurze Einblicke in die Welt verschiedener Figuren und vermitteln ein erschreckendes Gesamtbild. Das ist wirklich eine Dystopie, die sich so nennen darf! Beim Lesen stellt sich seitenweise ein großer Durst ein, man beginnt, Regen, Flüsse und Wasserflaschen mit anderen Augen zu sehen. Nie war es schöner, den Wasserhahn aufzudrehen und ein paar Schlucke Wasser zu trinken!

Feministischer Blickwinkel (+/-)

Hier gibt es einige Dinge, die mich gestört haben. Wütend und traurig hat mich beispielsweise gemacht, dass schon einem kleinen Jungen Genderstereotype eingetrichtert werden. Ihm wird eingeredet, dass ihm die Klempnerarbeit mehr im Blut liege als zum Beispiel seiner Schwester, weil er ja ein Mann ist. Es ist nämlich sehr wichtig, dass wir schon bei Kindern daran arbeiten, dass sie ein starres Männlichkeitsbild entwickeln – denn wo kämen wir sonst hin? In eine gleichberechtigte Welt, in der niemand in Schubladen gezwängt wird, sondern jede/r sein darf wie er ist? Pff, das wäre ja noch schöner!

Nach dem Tap-Out wird es durch den Ausnahmezustand viel besser, aber davor sprüht die Geschichte nur so vor veralteten, traditionellen Geschlechterrollen: die Mütter kochen, die Männer schrauben an den Autos herum, sind fürs Reparieren und Renovieren zuständig (auch wenn sie es nicht wirklich gut können), Kinder zeigen bereits erste Anfänge von „Machogehabe“, es gibt „Stutenbissigkeit“ unter Mädchen, Mütter neigen zu „Frustputzen“, die „Eroberung“ eines Mädchens wird mit der Jagd auf ein Reh verglichen, die Väter sind natürlich die, die alles bestimmen und „Machtwörter“ sprechen. Einmal werden sogar „männliche Geräusche“ in der Garage produziert. Wie die wohl klingen? Auch gegenderte Beschimpfungen gab es, allerdings nur wenige: Tussi und Hu+++sohn. Dennoch würde ich mir wünschen, dass solche Wörter keinen Einzug in Jugendbücher finden! Hier sehe ich eindeutig noch Verbesserungsbedarf. Besonders AutorInnen von Kinder- und Jugendliteratur müssen endlich lernen, sensibler mit Geschlechterrollen und -klischees umzugehen und auch die eigene Sozialisation zu hinterfragen!

Aber es gibt natürlich auch Aspekte, die man loben kann. Die Mutter von Alyssa ist Psychologin, die sportliche Alyssa spielt im Fußballteam der Schule und ihre Eltern sind überzeugt, dass sie einmal Anwältin wird. Beide Protagonistinnen sind stark, Jacqui bricht sicherlich mit Geschlechterklischees und auch Jungs dürfen weinen.

„‘Warum muss ich das machen?‘, zetert er.
‚Weil wir uns abwechseln‘, erinnere ich ihn, dann appelliere ich an sein männliches Ego. ‚Außerdem bist du ein Mann. Dir liegt Klempnerarbeit einfach mehr.‘“ E-Book, Position 784

Mein Fazit

Mit „Dry“ haben Neal und Jarrod Shusterman eine Dystopie geschrieben, die diesen Namen verdient hat. Die Autoren skizzieren in ihrem Buch ein leider gar nicht so weit hergeholtes, aber absolut erschreckendes Endzeitszenario: Eskalation, Kämpfe um jeden Schluck Wasser, durch verunreinigtes Wasser ausgelöste Infektionen, ausgestorbene Siedlungen und geplünderte Häuser. Die Botschaft ist klar: Schluss mit der Wasserverschwendung, Schluss mit der Verharmlosung des Klimawandels! Und: Schaden kann es sicher nicht, wenn wir uns auf Ernstfälle (egal welcher Art) vorbereiten und genug Konserven und Wasser einlagern. Eindrucksvoll beschäftigt sich die Geschichte mit dem Überleben, den Opfern, die wir bereit sind, dafür zu bringen, und mit der Frage nach moralisch richtigem Verhalten in Ausnahmesituationen. Trotzdem gibt es leider auch einige Logiklöcher und immer wieder fehlte mir Tiefe. Auch wenn der Schreibstil ästhetisch nicht umwerfend ist, so ist er doch flüssig und angenehm lesbar und somit perfekt für die jugendliche Zielgruppe und auch Lesemuffel geeignet. Mein Verhältnis zu den Figuren ist hingegen zwiegespalten: Teilweise sind sie gut ausgearbeitet und entwickeln sich weiter, teilweise sind sie aber auch sehr unsympathisch; insgesamt fehlten mir auch hier Tiefe und Einzigartigkeit. Vielleicht konnte ich deshalb nicht immer mit ihnen mitfühlen und mitfiebern? Nicht überzeugen konnten mich zudem das übertriebene, unrealistische Ende und die oft starren Geschlechterrollen, die in diesem Buch vermittelt werden. AutorInnen von Kinder- und Jugendliteratur müssen endlich lernen, sensibler mit diesem Thema umzugehen! Das Buch beginnt sehr stark, kann sein hohes Spannungslevel aber leider nicht durchgehend halten. Regelmäßig bricht der Spannungsbogen ein, kann jedoch durch gezielt gesetzte Cliffhanger und eine wendungsreiche Geschichte auch immer wieder neu aufgebaut werden. Wirklich begeistern konnte mich hingegen die Atmosphäre - das Chaos, von dem die Welt heimgesucht wird, ist auf jeder Seite spürbar. Beim Lesen stellt sich seitenweise ein großer Durst ein, man beginnt, Regen, Flüsse und Wasserflaschen mit anderen Augen zu sehen. Nie war man dankbarer, den Wasserhahn aufdrehen und ein paar Schlucke trinken zu können.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 3,5 Sterne
Worldbuilding: 4,5 Sterne
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 4 Sterne
ProtagonistInnen: 3 Sterne
Figuren: 4 Sterne
Spannung: 3 Sterne
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Ende / Auflösung: 2 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3,5 Sterne
Feministischer Blickwinkel: +/-

Insgesamt:

❀❀❀,5 Lilien

Dieses Buch bekommt von mir insgesamt dreieinhalb Lilien!

Veröffentlicht am 12.08.2019

Märchenhafte, herzerwärmende, berührende Geschichte, die ein warmes Gefühl im Bauch hinterlässt

Die wundersame Mission des Harry Crane
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Spoilerfreie Kurzrezension!


Inhalt

Harry Crane arbeitet bei der Forstbehörde; er hat einen langweiligen Bürojob, den er sich ganz anders vorgestellt hat und der ihn unglücklich macht. Aber er hat ...

Spoilerfreie Kurzrezension!


Inhalt

Harry Crane arbeitet bei der Forstbehörde; er hat einen langweiligen Bürojob, den er sich ganz anders vorgestellt hat und der ihn unglücklich macht. Aber er hat große Träume. Um sich diese erfüllen, spielt er jede Woche Lotto. Auch an jenem schicksalhaften Tag, der sein Leben auf den Kopf stellen wird, besteht er darauf, vor dem Kinobesuch mit seiner Frau noch einen Lottoschein zu kaufen. Im Nachhinein gibt es wohl keine Entscheidung in seinem Leben, die er mehr bereut. Während seine geliebte Ehefrau, Beth, leicht genervt auf ihn wartet, weil der Film bald beginnt, kommt es zu einem furchtbaren Unfall, an dem sie verstirbt. Harry ist am Boden zerstört und wird von heftigen Schuldgefühlen geplagt. Ohne seine Frau fühlt sich sein Leben so leer an, er sieht keinen Sinn mehr darin. Also beschließt er, inmitten seiner geliebten Bäume, aus dem Leben zu verschwinden. Jedoch macht ihm Oriana, ein kleines Mädchen, das ihren Vater verloren hat und ebenfalls trauert, einen Strich durch die Rechnung. Können Harry und Oriana sich gegenseitig helfen, ihren Verlust zu verarbeiten? Eine märchenhafte Geschichte beginnt…

Meine Meinung

„Die wundersame Mission des Harry Crane“ ist auf jeden Fall ein Buch, auf das man sich voll und ganz einlassen muss, um es genießen zu können. Man muss es im richtigen Moment lesen, um es zu lieben. Bei mir war dieser richtige Zeitpunkt leider nicht da, als ich die Geschichte gelesen habe; ich hatte viel um die Ohren, konnte nicht so richtig in die Geschichte eintauchen, weswegen ich dieses Buch mit Sicherheit noch einmal lesen und meine Rezension eventuell noch nach oben korrigieren werde.

Der Einstieg fiel mir, obwohl ich die Leseprobe doch gelesen und für sehr vielversprechend befunden hatte, wirklich schwer. Die Geschichte kommt nur langsam ins Rollen, enthält zu Beginn wenige Dialoge und auch mit den Figuren muss man erst warm werden. Ich habe lange mit dem Buch gekämpft, wollte es zwischendurch schon abbrechen, weswegen die Rezension auch so lange gedauert hat. Jedoch breche ich Bücher nur absolut ungern ab und so habe ich mich durchgekämpft – das hat sich auch gelohnt, denn irgendwann hat mich die Geschichte erreicht und ich kam in einen angenehmen Lesefluss.

Lediglich etwas mehr Spannung hätte es sein dürfen, da es immer wieder einmal Passagen gab, die mir fast etwas langatmig erschienen. Hier hätte ich mir gewünscht, dass die Geschichte am Anfang etwas schneller ins Rollen kommt und dass auch der Mittelteil etwas gestrafft worden wäre.

Den Schreibstil fand ich trotzdem von Beginn an wunderschön, er ist sehr angenehm, verträumt und verspielt und mit kleinen Weisheiten gespickt. Das hat mir sehr gut gefallen. Die Figuren, besonders natürlich Harry und Oriana, sind mir mit jeder Seite mehr ans Herz gewachsen. Ihre Gefühle konnte ich sehr gut nachvollziehen, die Kapitel aus verschiedenen Perspektiven haben es mir einfach gemacht, mitzufühlen und – vor allem – mitzuleiden. Jeder, der schon einmal jemanden verloren hat, wird diese Gefühle von Verlust und Verzweiflung sehr gut kennen – auch dieses Loch, in das man erst einmal fällt, und aus dem man sich nur aus eigener Kraft befreien kann.

Trotz seines traurigen Beginns ist das Buch keineswegs deprimierend – im Gegenteil, zwischen Harry und Oriana entsteht eine zarte Freundschaft, die beiden hilft, mit ihren Gefühlen umzugehen. Außerdem fühlt Harry nach einer Weile zum ersten Mal wieder ein ganz und gar kraftvolles und tröstliches Gefühl: Hoffnung. Die Liebe des Protagonisten zu seinen Bäumen, die eine heilende Wirkung auf ihn zu haben scheinen, ist in jeder seiner interessanten Informationen, die er mit den LeserInnen teilt, durchgehend spürbar und hat beim Lesen sogar auf mich abgefärbt. Nun sehe ich Bäume mit anderen – faszinierteren, staunenderen – Augen. Jon Cohen kreiert in seinem Roman eine zauberhafte, märchenhafte, berührende und ganz und gar herzerwärmende Geschichte, die ein warmes Gefühl im Bauch hinterlässt, wenn man das Buch am Ende schließt.

Mein Fazit

„Die wundersame Mission des Harry Crane“ ist ein Buch, mit dem ich sehr lange gekämpft habe, weil es mir einfach nicht gelingen wollte, in die Geschichte zu finden und vollkommen einzutauchen. Um dieses eher ruhige Buch zu lieben, muss man es nämlich im richtigen Moment lesen, der bei mir leider nicht da war. Es lag bestimmt auch daran, dass die Geschichte besonders am Beginn nur langsam ins Rollen kommt und daran, dass mir stellenweise im Mittelteil die Spannung fehlte. Der lange Atem hat sich jedoch gelohnt: Jon Cohen kann mit seinem angenehmen, verträumten und mit Weisheiten gespickten Schreibstil ebenso punkten wie mit seinen liebevoll ausgearbeiteten Figuren, mit denen ich sehr gut mitfühlen und mitleiden konnte. So wurde ich mit einer märchenhaften, berührenden und herzerwärmenden Geschichte über Verlust, Trauer, Schuldgefühle, aber auch Freundschaft, Liebe und Hoffnung belohnt, die mich mit einem warmen Gefühl im Bauch zurückgelassen hat, als ich sie beendet habe.

Bewertung

❀❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir insgesamt vier zufriedene Lilien!

Veröffentlicht am 11.08.2019

Unterhaltsamer, humorvoller, tiefgründiger Jugendroman, aber leider schwächer als das Debüt

Liebe ist so scheißkompliziert
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Nele fällt mit ihrer großen Körpergröße negativ auf, ansonsten ist sie an ihrer Schule aber eher unsichtbar. Außer ihrem besten Freund Tom hat sie keine Freunde, Jungs ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Nele fällt mit ihrer großen Körpergröße negativ auf, ansonsten ist sie an ihrer Schule aber eher unsichtbar. Außer ihrem besten Freund Tom hat sie keine Freunde, Jungs interessieren sich nicht für sie, weil sie sich von ihrer Größe eingeschüchtert fühlen. Eines Tages trifft Nele allerdings auf den Basketballstar der Schule: Jerome. Zum ersten Mal muss sie nicht nach unten schauen, wenn sie sich mit jemandem unterhält. Auf einer Party nimmt Nele unwissentlich Drogen zu sich und stürzt mit Jerome ab. Am nächsten Morgen ist er jedoch verschwunden und ein Video ist im Netz aufgetaucht, das Nele teilweise nackt zeigt. Hat Jerome es gemacht?

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: FISCHER Kinder- und Jugendtaschenbuch
Seitenzahl: 400
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens
Perspektive: weibliche Perspektive (Nele)
Kapitellänge: kurz bis mittel
Tiere im Buch: + Es wird zwar Fleisch im Buch gegessen, Nele selbst ist allerdings überzeugte Vegetarierin! Dafür ein ♥!

Warum dieses Buch?

In Sabine Schoders Debüt „Liebe ist was für Idioten. Wie mich“ habe ich mich damals schockartig verliebt. Ich rechnete mit einem lockeren, oberflächlichen Jugendbuch und bekam ein tiefgründiges Meisterwerk, das mich aus den Socken gehauen hat! Dementsprechend musste ich auch dieses Buch wieder lesen (der zweite Teil von „Liebe ist was für Idioten. Wie mich“ steht natürlich auch noch auf der Wunschliste!) – und die Erwartungen waren sehr hoch. Da es im Vorfeld viel Kritik für den ursprünglichen Klappentext gab (der das schwierige Thema verharmloste) war ich natürlich doppelt so neugierig, wie die Autorin das Thema tatsächlich in der Geschichte behandelt.

Meine Meinung

Einstieg (♥)

Normalerweise dauert das bei mir länger, aber: Schon nach wenigen Seiten war ich in der Geschichte angekommen. Das liegt bestimmt am lockeren, großartigen Schreibstil!

Schreibstil (♥)

„Babs Vorfreude fällt in sich zusammen wie ein Kuchen, den man zu früh aus dem Ofen geholt hat.“ E-Book, Position 804

Wenn ich ein Buch von Sabine Schoder lese, denke ich immer: „Das könnte ich auch schaffen! Auch ich könnte eine Autorin sein.“ Aber nicht, weil der Schreibstil so schlecht wäre, dass man sich sicher ist: „Das kann ich besser!“, sondern weil die Autorin das Geschichtenschreiben so einfach erscheinen lässt. Der Schreibstil ist unheimlich angenehm und flüssig zu lesen und kommt so locker-flockig daher, dass die Lektüre richtig Spaß macht. Scheinbar mühelos baut die Autorin dann noch ihren unvergleichlichen Humor (♥), lebendige Dialoge und unzählige gelungene Vergleiche und Metaphern ein, sodass das Lesen zum Genuss wird. Für Jugendliche (auch für Lesemuffel!) ist die Sprache perfekt geeignet, weil sich Sabine Schoder altersadäquat, ehrlich, einfühlsam und verständlich mit relevanten Themen beschäftigt und sowohl in emotionalen als auch in spannenden Szenen glänzen kann. Für mich gilt jedenfalls mittlerweile: Wer zu einem Buch von Sabine Schoder greift, kann eigentlich nichts falsch machen.

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)

„All die Kommentare auf seiner Seite, die danach fragten, ob er es [das Video] ihnen per WhatsApp zusenden könnte, waren allerdings noch da. Wie Unkraut, das man ausreißt, nur damit es an anderer Stelle wieder emporschießt. Das Internet mag verletzbar sein, aber töten kann man es nicht.“ E-Book, Position 2476

Am Beginn des Buches kann man die Autorin, die übrigens (und das finde ich als Österreicherin wunderbar) aus Österreich kommt, in einem ausführlichen Interview, das interessante Einblicke gibt, besser kennenlernen. Das hat mir schon einmal gut gefallen.

Wie auch schon beim letzten Buch hat mich auch hier wieder die feinfühlige, altersadäquate Ehrlichkeit der Autorin begeistert. Sie scheut sich nicht davor, schwierige Themen wie Drogen, Sexualität, Sexismus, psychische Krankheiten und Suizid aufzugreifen und sie sehr tiefgründig und urteilsfrei zu behandeln. Die Autorin bevormundet ihr Zielpublikum nicht, sondern nimmt es ernst und traut ihm zu, sich selbst eine Meinung zu bilden. Das finde ich besonders als angehende Lehrerin immer wieder sehr erfrischend und angenehm!

Im Vorfeld gab es in einigen Rezensionen Kritik, dass Sabine Schoder mit ihrem Buch die falsche Botschaft sende, weil sie es verharmlose, dass ein Mädchen nackt gefilmt und das Video im Netz verbreitet wird. Ich persönlich finde nicht, dass die Kritik berechtigt ist. Meiner Meinung nach kann man nämlich an Neles Beispiel sehr gut erkennen, welche schwerwiegenden Folgen das Auftauchen eines solchen Videos für das Opfer hat. Das finde ich sehr wichtig. Nicht so gut gefallen hat mich hingegen, das Nele nicht „richtig“ handelt (und somit kein Vorbild für Betroffene sein kann), also nicht mit Erwachsenen redet und eine Anzeige erstattet. Einmal sagt sie sogar, dass sie das Video einfach nur vergessen will und keine weiteren Schritte einleiten möchte, was ich vollkommen unverständlich und unglaubwürdig fand. Denn das Internet vergisst schließlich nie! Daher sollte man alle rechtlich möglichen Schritte unternehmen, um dieses Video einer Minderjährigen aus dem Netz zu entfernen. Mir kommt es leider so vor, dass hier aus Plot-Gründen die Logik geopfert wurde. Das ist schade.

Ebenfalls etwas problematisch finde ich, dass Nele eine Ohrfeige von ihrer Mutter bekommt und dass diese Gewalt in der Erziehung nicht thematisiert und kritisiert, sondern schnell abgehandelt und wieder vergessen wird. Das ist kritisch zu sehen, weil auch heute noch unzählige Kinder unter körperlichen Züchtigungen leiden – und das obwohl das inzwischen seit vielen Jahren gesetzlich verboten ist. Daher mein Appell an euch: Schaut nicht weg! Egal ob es Gewalt in der Erziehung, Sexismus oder sexualisierte Gewalt / Belästigung betrifft, egal ob eure Nachbarn, Freunde oder Familienmitglieder betroffen sind – und vor allem: egal ob sie Opfer oder Täter sind. Lasst nicht zu, dass so etwas in eurem Umfeld passiert!

Obwohl Sabine Schoder uns auch dieses Mal eine wendungsreiche Geschichte voller Geheimnisse präsentiert, die sehr gut unterhält und niemals langweilig wird, hat mir (neben meinen schon genannten Kritikpunkten) doch das gewisse Etwas gefehlt, das dieses Buch nicht nur gut, sondern großartig macht. Diese intensiven Emotionen, die mich bei ihrem Debüt geradezu überrollt haben, fehlten mir. Das Ende fand ich rund und gelungen, auch wenn es mir nicht für immer im Gedächtnis bleiben wird.

Protagonistin (+)

Mit Nele wurde wieder eine sympathische Protagonistin geschaffen, mit der sich Jugendliche wohl sehr gut identifizieren können, da sie wie viele Teenager von großen Selbstzweifeln geplagt wird, besonders was ihren Körper betrifft. Andererseits ist sie in anderen Momenten auch wieder sehr stark, schlagfertig und selbstbewusst und kämpft für ihre Werte und Ideale. Trotzdem macht sie auch Fehler und ist nicht perfekt. Eine gelungene Mischung! Besonders toll finde ich, dass Nele sich als überzeugte Feministin sieht. Das ist wundervoll, denn genau diese Art von Protagonistinnen (die sich ganz selbstverständlich als Feministinnen begreifen) brauchen wir in Jugendbüchern! Trotz allem konnte mich Nele nicht ganz so verzaubern wie damals Viki, die einfach großartig war. Mir war Nele etwas zu fixiert auf ihre Größe; zudem ist sie nicht so erinnerungswürdig und einmalig wie Viki, die ich auch nach Jahren immer noch im Kopf habe.

Figuren (+)

Auch die anderen Figuren sind wieder sehr gut, liebevoll und glaubwürdig ausgearbeitet und überzeugen durch die Bank und bis in die Nebenrollen. Trotzdem war dieses Mal leider kein Jay dabei!

Liebesgeschichte (♥)

Die herrlich authentische, unperfekte Liebesgeschichte konnte mich übrigens wieder vollkommen überzeugen. Ich weiß nicht, wie sie es macht, aber die Autorin schafft es immer, dass ich mich auch ein bisschen in die Person verliebe und dass ich beim Lesen dieses Kribbeln und Knistern spüre! Und das liebe ich!

Humor (♥)

Der oft schwarze Humor und die Situationskomik waren erneut ein Genuss! Großartig, alleine dafür würde es sich eigentlich schon lohnen, zu Büchern der Autorin zu greifen!

Spannung & Atmosphäre (+)

Obwohl dieses Buch vielleicht keine atemlose Spannung enthält, fliegt man aufgrund des lockeren Schreibstils nur so durch die Seiten. Es gibt auch dieses Mal wieder viele Geheimnisse und unerwartete Wendungen, die entdeckt werden wollen – und wieder macht das Lesen großen Spaß!

Feministischer Blickwinkel (+)

Vieles, was diesen Aspekt betrifft, finde ich sehr gelungen: Nele ist eine Feministin, kritisiert immer wieder Sexismus, Stereotype und zieht traditionelle Rollenbilder ins Lächerliche. Zudem arbeiten beide Eltern Vollzeit. Andererseits kocht fast immer die Mutter (die übrigens zum Geburtstag ein Waffeleisen bekommt, damit sie alle noch besser bekochen kann) und es gibt wenige Szenen, in denen gegenderte Beschimpfungen wie Schlam**, Miststück und Zicke auftauchen. Irgendwo wird zudem angedeutet, dass Mädchen, die im Drogenrausch ausgenutzt werden, selbst schuld wären, was ich nicht in Ordnung finde. Insgesamt, überwiegen die positiven Aspekte dennoch bei weitem die negativen, weswegen ich insgesamt zufrieden bin.

„Keine Ahnung, woran Leute denken, wenn sie die gute alte Zeit in den Himmel loben. An Frauen jedenfalls nicht.“ E-Book, Position 425

Mein Fazit

Auch dieses Mal liefert Sabine Schoder wieder eine wendungsreiche Geschichte voller Geheimnisse ab, die sehr gut unterhält und niemals langweilig wird. Die Autorin überzeugt wieder mit ihrem angenehmen, ehrlichen, aber trotzdem locker-flockigen Schreibstil voller gelungener Metaphern und Vergleiche, mit ihren lebendigen Dialogen und ihrem unvergleichlichen Humor. Auch die Protagonistin – eine authentische, schlagfertige junge Feministin, die für ihre Werte kämpft und dennoch von Selbstzweifeln geplagt wird, ist (wie auch die anderen Figuren) gut gelungen. Die herrlich unperfekte Liebesgeschichte konnte mich ebenfalls wieder überzeugen, weil ich mich selbst ein bisschen verliebt habe und beim Lesen ein Knistern und Kribbeln gespürt habe. Besonders begeistern konnte mich auch dieses Mal wieder die feinfühlige, altersadäquate Ehrlichkeit der Autorin, die sich nicht davor scheut, schwierige Themen wie Drogen, Sexualität, Sexismus, psychische Krankheiten und Suizid tiefgründig und urteilsfrei zu behandeln. Sabine Schoder bevormundet ihr Zielpublikum nicht, sondern nimmt es ernst und traut ihm zu, sich selbst eine Meinung zu bilden, was ich besonders als angehende Lehrerin sehr erfrischend finde! Nicht so gut gefallen hat mir, dass an einem Punkt für den Plot die Logik geopfert wurde und dass Nele sich in Bezug auf das Video nicht immer nachvollziehbar und vorbildhaft verhält, was ich besonders in einem Jugendbuch problematisch finde. Auch hätte man nach der Ohrfeige kritischer auf das Thema Gewalt in der Erziehung eingehen müssen. Leider ist das Buch insgesamt etwas schwächer als das Debüt; neben den genannten Kritikpunkten hat mir vor allem dieses gewisse Etwas gefehlt, das dieses Buch nicht nur gut, sondern großartig macht. Diese intensiven Emotionen, die mich beim Erstling geradezu überrollt haben, habe ich dieses Mal schmerzlich vermisst.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 4 Sterne
Worldbuilding: 5 Sterne
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Humor: 5 Sterne ♥
Protagonistin: 4 Sterne
Figuren: 4 Sterne
Liebesgeschichte: 5 Sterne ♥
Spannung: 4 Sterne
Ende / Auflösung: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 4 Sterne
Feministischer Blickwinkel: +

Insgesamt:

❀❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir insgesamt vier zufriedene Lilien!

Veröffentlicht am 18.07.2019

Ehrlicher, authentischer Jugendroman, der mich leider nicht ganz überzeugen konnte

Mein Leben basiert auf einer wahren Geschichte
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Eigentlich wollte Rosa mit ihrem Freund nach Australien fliegen und durch das schöne Land reisen, doch der trennt sich unerwartet von ihr. Also wagt sie diesen großen ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Eigentlich wollte Rosa mit ihrem Freund nach Australien fliegen und durch das schöne Land reisen, doch der trennt sich unerwartet von ihr. Also wagt sie diesen großen Schritt allein. Unsicher, ängstlich und einsam landet sie am anderen Ende der Welt und überlegt, ob sie nicht gleich wieder zurückfliegen soll. Doch dann trifft sie auf Frank, einen intelligenten, sehr introvertierten jungen Mann, der, ebenfalls im gleichen Hostel schläft wie sie. Beide sind sich sofort (mehr als) sympathisch und beschließen, gemeinsam weiterzureisen. Nach kurzer Zeit taucht jedoch David, Franks bester Freund, mit dem er sich eigentlich zerstritten hat, in Down Under auf und bringt alles durcheinander. Eine atemberaubende Reise beginnt, die niemand von ihnen als der gleiche Mensch beenden wird, als der er sie begonnen hat…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Heyne
Seitenzahl: 416
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens
Perspektive: weibliche und männliche Perspektive (Rosa, Frank, David)
Kapitellänge: sehr kurz (meist 1-3 Seiten)
Tiere im Buch: +/- Es werden keine Tiere verletzt oder gequält. Die drei gehen sogar sehr liebevoll mit den australischen Kängurus um und streicheln und füttern sie. Jedoch wird auch Fleisch gegessen und geangelt. Die toten Fische werden im Anschluss verspeist. Ziemlich geärgert hab ich mich auch, dass ein Hamster als „Drecksviech“ bezeichnet wurde und dass es als normal dargestellt wurde, dass diese Tiere nur wenige Wochen leben. Wenn man sie alles andere als artgerecht hält (zu kleiner Käfig, schlechtes Futter, am Tag mehrmals aufwecken), dann leiden sie natürlich und sterben so früh, ansonsten aber nicht. Ich würde mir wünschen, dass Hamster und andere Kleintiere endlich nicht mehr in winzigen Gefängnissen ihr Dasein fristen müssen, nur weil man sich nicht die Mühe macht, sich ordentlich zu informieren, bevor man sich (oder dem Kind) ein Tier ins Haus holt. Im Internetzeitalter gibt es dafür keine Ausreden mehr! Seriöse Informationen findet man z. B. auf der Internetseite hamsterbacken.com. Kaufen sollte man Tiere übrigens niemals im Zooladen (die Tiere werden meist im Ausland unter tierquälerischen Bedingungen „produziert“), sondern stattdessen sollte man einem Hamster von einem seriösen Züchter (keinem „Kleinanzeigen-VermehrerInnen“!) oder aus dem Tierheim ein neues Zuhause schenken.

Warum dieses Buch?

Über Anne Freytag hatte ich vor der Lektüre sooo viel Gutes gehört - ihr vielgelobtes und vielgeliebtes Buch "Den Mund voll ungesagter Dinge" liegt seit kurzem auf meinem SUB. Klappentext und Leseprobe ihres neuen Romans haben mich sofort verzaubert. Dass die Autorin (laut Verlag) mit ihm diese magische Zeit zwischen der Schule und allem, was danach kommt, feiert, hat mich zusätzlich sehr neugierig gemacht. Meiner Meinung nach ist das nämlich einer der schönsten Zeitabschnitte im Leben!

Meine Meinung

Einstieg (-)

Obwohl der Schreibstil eigentlich sehr einfach ist und obwohl mich die Leseprobe überzeugen konnte, dauerte es sehr lange (ca. 150-200 Seiten), bis ich einen Zugang zur Geschichte und ins Buch fand. Vor allem am Beginn hatte ich oft nicht das Bedürfnis weiterzulesen – im Gegenteil, ich hätte das Buch wohl, wenn es sich nicht um ein Verlosungsbuch gehandelt hätte, abgebrochen. Zum Glück bin ich ab einem gewissen Punkt mit jeder Seite besser in die Geschichte gekommen, so dass sich das Weiterlesen für mich durchaus gelohnt hat. Auch wenn meine Beziehung zum Buch bis zum Ende eine blieb, die man heutzutage wohl am ehesten mit „Es ist kompliziert“ beschreiben würde.

Schreibstil (+/-)

„Es fühlt sich an, als stünde ich auf einer Klippe, vor mir und hinter mir Abgrund, überall Abgrund, als gäbe es kein Vor oder Zurück, als wäre jeder Schritt ein Ende.“ Seite 90

Was den einfachen, altersgemäßen Schreibstil betrifft, habe ich beispielsweise sehr widersprüchliche Gefühle. Einerseits hat er mir an manchen Stellen unglaublich gut gefallen, denn immer wieder gelingt es Anne Freytag, unglaublich berührende, emotionale und intensive Momente zu beschreiben, in denen ich absolut mitgefühlt habe und von denen ich begeistert oder verzaubert war. Auch ihre poetische Sprache und die gelungenen Vergleiche und Metaphern fand ich oft wunderschön. Zudem ist das, was im Buch gesagt wird, trotz des einfachen Schreibstils niemals oberflächlich, sondern hat stets Substanz und Tiefe.

Andererseits waren mir die stellenweise unglaublich kurzen (Einwort-)Sätze oft auch zu abgehackt, rissen mich aus dem Lesefluss und führten dazu, dass ich für dieses Jugendbuch beim Lesen sehr lange gebraucht habe. Immer wieder bin ich während der Lektüre gedanklich abgeschweift. Der Schreibstil wirkt irgendwie rastlos und unruhig, und das passt vielleicht ganz gut zu diesem ungewöhnlichen Roadtrip, jedoch konnte er mich dadurch oft leider nicht so erreichen, wie ich mir das gewünscht hätte. Oft blieb eine gewisse Distanz zur Geschichte, und ich konnte nie vergessen, dass ich ein Buch vor mir hatte, nie ganz in die Geschichte eintauchen. Es gab Szenen, die haben mich fast zu Tränen gerührt und andere Momente, die nichts in mir ausgelöst haben – diese haben leider überwogen. Zudem waren mir die Sätze oft auch zu pathetisch, manchmal wirkte jedes Wort wie künstlich mit Bedeutung aufgeladen. Mir war das manchmal einfach zu viel.

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)

„Mein Großvater sagte immer, das Leben beginnt da, wo die Angst endet. In den Sekunden, in denen wir die Möglichkeiten sehen und nicht das, was dagegen spricht.“ Seite 61

Wenn ich (als angehende Lehrerin) eines an Anne Freytags Buch schätze, das es von vielen anderen Jugendromanen abhebt, dann ist es die feinfühlige, altersadäquate Ehrlichkeit der Autorin, mit der sie tabulos komplizierte (unperfekte) zwischenmenschliche Beziehungen beleuchtet und über Themen wie Freiheit, das Ausbrechen aus gesellschaftlichen Normen, Liebe, Freundschaft und Selbstfindung, aber auch eher schwierige Themen wie Schuldgefühle, Sexualität und Verletzlichkeit spricht. Ihre Geschichte ist genau deshalb sehr erfrischend: die Autorin nimmt ihre Zielpublikum ernst und traut ihm einiges zu. Manchmal geht sie auch unerwartet ins Detail, was mich teilweise überrascht hat. Dabei wird es allerdings niemals unpassend, auch empfindliche Themen werden tiefgründig und sensibel behandelt und so aufbereitet, dass Jugendliche sie verstehen können. Ähnlich ehrlich schreibt übrigens die österreichische Autorin Sabine Schoder, deren berührendes Debüt, „Liebe ist was für Idioten. Wie mich“, ich euch nur wärmstens ans Herz legen kann.

Die Geschichte wird aus drei verschiedenen Perspektiven erzählt; abwechselnd und nur wenige Seiten lang erhalten wir einen Einblick in das Innenleben der zweifelnden Rosa, des schüchternen Frank, des extrovertierten Davids. Die Zeitstruktur ist hierbei oft komplex, da es viele Rückblenden gibt – diese werden jedoch sehr gelungen eingewebt, sodass sie einen nicht aus dem Lesefluss reißen. Es ist ein stilles Buch, das wenig Dialog und Handlung enthält und sich eher auf die „innere Reise“, also die innere Weiterentwicklung und Selbstfindung konzentriert, anstatt auf äußere Vorkommnisse. Für diese Geschichte war diese Erzählweise sicherlich die richtige Wahl, weil nur so eine gewisse Vielschichtigkeit und Tiefe entstehen konnte. Über Australien und seine Sehenswürdigkeiten erfährt man nicht viel – obwohl Anne Freytags Schreibstil anschaulich ist –, stattdessen weiß man am Ende des Buches ganz genau, wie es ist, hunderte Kilometer lang mit zwei Menschen einen Camper sein Zuhause zu nennen. Das hat mir sehr gut gefallen. Das Ende fand ich außerdem passend und rund. Es hat mich zwar nicht vom Hocker gehauen, aber ich habe auch nichts daran auszusetzen. Ich konnte das Buch zufrieden schließen. Ich werde dieses Roadtrip-Feeling, das Anne Freytag sehr intensiv einfängt, bestimmt auch nicht so schnell wieder vergessen.

Eine Playlist am Vorsatzpapier (auf der Innenseite der Buchdeckel) ermöglicht es einem, die selben Lieder wie die drei AbiturientInnen zu hören, was viel zur Atmosphäre beiträgt und was ich natürlich deshalb auch gemacht habe. Viele der Lieder haben mir zwar nicht wirklich gefallen (einige wenige dafür sehr!), aber das ist ja wie immer Geschmackssache. Jedenfalls bietet das Buch eine bunte Mischung, bei der für jede/n etwas dabei sein sollte.

Die Geschichte enthält einige wunderbare, einmalige Momente, die ich nicht missen möchte. Trotzdem konnte sie mich nicht ganz und vor allem nicht durchgehend überzeugen. Manchmal war mir dieser Blick ins Innenleben zu detailliert, manche Szenen fand ich langweilig und nichtssagend. Oft fehlte mir auch die Spannung; dieser Drang, weiterzulesen wollte sich über weite Strecken einfach nicht einstellen.

ProtagonistInnen (+/-)

„Frank schaut in Moll. Etwas in seinen Augen ist immer ein bisschen schwer, ein bisschen wehmütig.“ Seite 69

Die ProtagonistInnen sind ohne Frage sehr liebevoll ausgearbeitet und besitzen alle ihre Stärken und Schwächen, ihre Geheimnisse und ihre Verletzungen aus der Vergangenheit. Dennoch blieb da immer eine kleine Distanz zwischen mir und den Figuren, besonders zu Rosa. Ich weiß nicht genau, woran es lag, dass ich mich einfach nicht in die Figuren verliebt habt, so wie ich es mir bei diesem Roman eigentlich gewünscht hätte. Ich habe mitgefühlt und mitgelitten, aber nicht so intensiv, dass ich nur mehr die Geschichte im Kopf hatte oder traurig gewesen wäre, als ich das Buch geschlossen habe. Das ist sehr schade, und ich kann absolut verstehen, dass es bei vielen anderen LeserInnen anders war! Dass Rosa raucht, ist zwar authentisch (Jugendliche rebellieren nun mal gerne), andererseits sehe ich es auch kritisch, da sie somit dem Zielpublikum als negatives Vorbild dienen könnte. Denn, traurige Wahrheit: Mehr als die Hälfte der erwachsenen RaucherInnen haben vor dem 17. Lebensjahr damit begonnen.

Figuren (+)

Nur wenige Nebenfiguren haben im Buch einen Auftritt. Ihre Rollen sind zu klein, als dass man sagen könnte, dass sie gut oder schlecht ausgearbeitet sind. Jedoch ist mir hier nichts negativ aufgefallen – im Gegenteil, viele der Menschen, die Rosa, Frank und David auf ihrer Reise treffen waren sehr interessant und charmant! Ich habe sie gerne kennengelernt!

Spannung (-)

Was mir bei diesem Buch leider über weite Strecken wirklich gefehlt hat, war die Spannung. Immer wieder wird der Spannungsbogen kurz aufgebaut, bricht jedoch schon nach wenigen Seiten wieder ein. Ich war zwar stets neugierig, wie die Geschichte weitergehen würde, das Buch war aber kein Pageturner für mich und übte auch keinen Sog aus, weiterzulesen. An manchen Stellen (besonders in der ersten Hälfte) musste ich mich sogar zum Weiterlesen zwingen – eigentlich hätte ich lieber ein neues Buch begonnen.

Atmosphäre (♥)

Dafür konnte die Autorin bei mir mit der dichten Atmosphäre punkten. Man fühlt sich, als würde man selbst schwüle Nächte in diesem engen Camper verbringen, bei Sonnuntergang am Strand liegen und selbstgekochte Spagetti verzehren und als würde man den warmen Wind beim Fahren im Gesicht spüren. Obwohl die Autorin auf detaillierte Beschreibungen der Sehenswürdigkeiten verzichtet und sich lieber auf die innere Reise und das komplizierte Beziehungsgeflecht der Hauptfiguren konzentriert, bekommt man dennoch ein sehr gutes Gefühl für das Leben in Australien und den Charme des Landes und seiner EinwohnerInnen. Toll!

Feministischer Blickwinkel (♥)

Rosa ist eine sehr starke, selbstbewusste weibliche Figur, die sich immer wieder gegenüber David und Frank durchsetzt. Männer waschen ab und dürfen weinen. Auch die ehrliche Thematisierung von Sexualität, Homosexualität, Einverständnis (Consent) und Gleichberechtigung (im Buch wird Naomi Aldermans „Die Gabe“ gelesen, was ich ziemlich cool fand) hat mir sehr gut gefallen. Nicht so gut gefallen haben mir die gegenderten Beleidigungen, die zum Glück nur sehr selten vorkommen (Flittchen, Miststück).

Mein Fazit

„Mein Leben basiert auf einer wahren Geschichte“ ist ein überraschend ehrlicher, tabuloser Jugendroman, der sein Zielpublikum ernst nimmt und ihm einiges zutraut, was mir besonders als angehende Lehrerin sehr gefallen hat. Trotzdem konnte mich das Buch leider nicht ganz überzeugen. Das lag zu einem großen Teil daran, dass ich nur sehr schwer in die Geschichte gefunden habe und dass sie mich trotz manch unglaublich berührendem, wunderbarem und intensivem Moment nicht immer erreichen konnte. Es gab Szenen, die mich fast zu Tränen rührten, aber auch viele Kapitel, die nichts in mir ausgelöst haben. Einerseits mochte ich die einfache, aber doch tiefgründige und poetische Sprache der Autorin (viele Metaphern und Vergleiche fand ich wunderschön!), andererseits war mir der Schreibstil oft auch zu pathetisch, zu künstlich mit Bedeutung aufgeladen. Die sehr kurzen Sätze wirkten auf mich oft abgehackt; sie haben mich aus dem Lesefluss und aus der Geschichte gerissen. Es handelt sich um ein stilles Buch, das wenig Dialog und Handlung enthält und sich eher auf die „innere Reise“, also die innere Weiterentwicklung und Selbstfindung konzentriert, anstatt auf äußere Vorkommnisse. Womit die Autorin eindeutig glänzen kann, ist ihre erfrischende, feinfühlige, altersadäquate Ehrlichkeit, mit der sie tabulos und tiefgründig über (auch schwierige) Themen wie Liebe, Schuldgefühle und Sexualität spricht. Die ProtagonistInnen sind ohne Frage sehr dreidimensional und liebevoll ausgearbeitet, dennoch blieb da immer eine kleine Distanz zwischen mir und den Figuren, besonders zu Rosa. Ich weiß nicht genau, woran es lag, dass ich mich nicht in die Figuren verliebt habe, so wie ich es mir bei diesem Roman eigentlich gewünscht hätte. Oft fehlte mir auch die Spannung; dieser Drang, weiterzulesen wollte sich über weite Strecken einfach nicht einstellen. An manchen Stellen (besonders in der ersten Hälfte) musste ich mich sogar dazu zwingen. Punkten konnte die Autorin dafür mit der dichten Atmosphäre. Man fühlt sich, als würde man selbst schwüle Nächte in diesem engen Camper verbringen und den warmen Wind beim Fahren im Gesicht spüren. Ich werde dieses Roadtrip-Feeling, das Anne Freytag sehr intensiv einfängt, bestimmt nicht so schnell vergessen. Kurz: „Mein Leben basiert auf einer wahren Geschichte“ ist ein erfrischend ehrlicher Jugendroman mit Schwächen, der mich insgesamt leider nicht ganz überzeugen konnte.

Jetzt freue ich mich auf „Den Mund voll ungesagter Worte“ und hoffe, dass dieses Buch mehr meinen Geschmack trifft.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 3,5 Sterne
Worldbuilding: 4 Sterne
Einstieg: 2 Sterne
Schreibstil: 3 Sterne
ProtagonistInnen: 4 Sterne
Figuren: 4 Sterne
Liebesgeschichte: 4 Sterne
Spannung: 2 Sterne
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Ende / Auflösung: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3,5 Sterne
Feministischer Blickwinkel: +

Insgesamt:

❀❀❀,5 Lilien

Dieses Buch bekommt von mir insgesamt dreieinhalb Lilien!

Veröffentlicht am 10.07.2019

Düsteres, atmosphärisches Meisterwerk - besser kann man einen historischen Krimi nicht schreiben!

1793
0

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

In Stockholm, im Jahre 1793, wird eine vollkommen entstellte Leiche gefunden. Ihr fehlen Arme, Beine, Zähne und Zunge. Was ist bloß mit dieser armen Person geschehen? ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

In Stockholm, im Jahre 1793, wird eine vollkommen entstellte Leiche gefunden. Ihr fehlen Arme, Beine, Zähne und Zunge. Was ist bloß mit dieser armen Person geschehen? Ein ungleiches Paar – ein vom Krieg traumatisierter Stadtknecht und ein idealistischer Jurist, der an Tuberkulose leidet und dem nicht mehr viel Zeit bleibt, – schließt sich zusammen, um den grausamen Mord aufzuklären. Doch was sie herausfinden, ist noch viel schrecklicher, als sie befürchtet haben…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Band 1 einer Dilogie / Reihe (?); laut Goodreads wird es auch eine Fortsetzung geben; „1794“ soll bereits in diesem September auf Schwedisch erscheinen
Verlag: Piper
Seitenzahl: 496
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präsens
Perspektive: männliche (Jean Michael, Cecil etc.) und weibliche Perspektive (Anna)
Kapitellänge: kurz bis mittel
Tiere im Buch: -! Für TierfreundInnen ist dieses Buch leider nicht immer leicht zu verdauen. Im Stockholm des 18. Jahrhunderts geht es ziemlich brutal zu, niemand (bis auf wenige Ausnahmen) scheint da ein Herz für Tiere zu haben. Es werden Tiere erschossen, geschlachtet und gegessen, es gibt Kettenhunde, die jahrelang keinen einzigen Sonnenstrahl zu Gesicht bekommen und tagelang hungern müssen, es wird von Hundekämpfen gesprochen, Rinder und Pferde verbrennen bei lebendigem Leibe, man erfreut sich an Tanzbären (die, wie jede/r mittlerweile weiß, sehr grausam ausgebildet werden) und es gibt einen Fall von furchtbarer Tierquälerei (jemand reißt Mücken die Flügel und alle Beine aus und lässt sie im Anschluss tagelang leiden), der mich unglaublich wütend gemacht hat.

Warum dieses Buch?

Diesem Buch konnte man in der letzten Zeit nicht entkommen! Überall (Instagram, Buchcommunitys) tauchte es auf und die ersten Rezensionen waren so begeistert, dass ich neugierig wurde - obwohl ich momentan eigentlich nicht so gerne Krimis und historische Romane lese. Aber der Klappentext, der Preis, den das Buch schon abgeräumt hat (Schwedischer Krimipreis), das Lob anderer Autoren ("Meisterwerk") und die schwärmerischen LeserInnenstimmen führten schließlich dazu, dass ich das Gefühl bekam, dass man sich dieses Buch auf keinen Fall entgehen lassen darf!

Meine Meinung

Einstieg (♥)

Die Geschichte beginnt ohne Umschweife mit dem Fund der grausam zugerichteten Leiche in einem Stockholmer See. Schon auf den ersten Seiten wird eine derart dichte Atmosphäre geschaffen, dass man sich schon mit Händen und Füßen dagegen wehren müsste, um nicht augenblicklich in die Geschichte hineingezogen zu werden.

Schreibstil (♥)

Daran ist sicherlich auch der grandiose Schreibstil schuld. Als ich das Buch begonnen habe, haben mich mehrere Dinge sehr überrascht: Erstens ist dieser historische Krimi im Präsens verfasst, und zweitens ist von einem altmodischen, schwülstigen Schreibstil in diesem Roman keine Spur! Im Gegenteil: Niklas Natt och Dag schreibt (bis auf wenige alte Wörter) sehr modern, weswegen ich sogar so weit gehen würde, zu sagen, dass ich ihn endlich gefunden habe – den historischen Roman für alle, die keine historischen Romane mögen! „1793“ liest sich wie ein moderner Krimi – nur dass das Setting nach Schweden ins 18. Jahrhundert verlegt wurde.

Meiner Meinung nach ist der Schreibstil eine der größten Stärken des Buches: Der Autor schreibt unglaublich angenehm, sehr anschaulich, kraftvoll, bildlich und atmosphärisch – ohne sich jedoch in Details zu verlieren. Einfache Sätze lassen einen durch das Buch rasen, gelungene Beschreibungen und sprachliche Bilder verwöhnen das LeserInnenherz, zahlreiche lebendige, glaubwürdige Dialoge lockern den Text auf. Egal ob es darum geht, Spannung zu erzeugen oder intensive Gefühle bei seinen LeserInnen auszulösen – Niklas Natt och Dag gelingt beides meisterhaft und scheinbar mühelos. Dass es sich bei diesem Buch um ein Debüt handeln soll, kann man kaum glauben!

Nur eine Kleinigkeit, die die Übersetzung betrifft, hat mich besonders am Beginn massiv gestört: Ich weiß nicht, warum man sich dazu entschieden hat, bei verschiedenen Orten, Brücken, Flüssen etc. den Originalnamen zu belassen, ohne zu erklären, worum es sich genau handelt. Da standen dann Sätze wie „Er ging zu XY (schwedisches Wort)“ - und ich hatte keinen Schimmer, worum es sich handelte! Das fand ich sehr mühsam und nervig! Man wollte hier vermutlich durch die übernommenen Worte eine gewisse schwedische Atmosphäre kreieren – leider ist das meiner Meinung nach hinten losgegangen. Gut hätte ich es gefunden, wenn man den Original-Namen mit der deutschen Bezeichnung für das Ding kombiniert hätte, z. B. „XY-Brücke“ oder „Straße XY“.

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (♥)

„‘Was meinen Sie, Herr Winge – sind wir Menschen einander wie Wölfe, die nur auf die geringste Schwäche lauern, ehe sie zum Angriff übergehen?‘“ E-Book, Position 116

Niklas Natt och Dag wurde unter anderem mit dem Schwedischen Krimipreis ausgezeichnet; sein Buch wurde bereits in 30 Sprachen übersetzt und millionenfach verkauft – und ist somit bereits jetzt ein internationaler Erfolg. Der Hype ist auch in Deutschland und Österreich angekommen. „Jaja“, werdet ihr nun vielleicht sagen, „aber ist der Hype auch berechtigt?“ In einem Wort: Ja! Und wie! Der Autor, der übrigens ein Mitglied der ältesten Adelsfamilie Schwedens ist und daher eine starke persönliche Beziehung zur Geschichte des Landes hat, hat laut seinen eigenen Worten sehr genau recherchiert, bevor er diesen Roman geschrieben hat – und das merkt man auch bei jedem Wort. Die Menschen (viele basieren auf realen Personen), die Schauplätze, das Leben im damaligen Schweden wirken so echt und greifbar, als würde man sich selbst dort befinden.

Das ist übrigens gar nicht immer so angenehm und schön, wie man vielleicht im ersten Moment erwarten würde – Niklas Natt och Dags Geschichte ist nämlich schonungslos ehrlich, brutal und oft auch ekelerregend. Der Autor beschönigt nichts, sondern beschreibt auch das Unschöne bis ins Detail – den Gestank, der damals auf den Straßen herrschte, Seen voller Müll, Unrat und Fäkalien, eiternde Wunden, blutigen Auswurf und unglaublich grausame Hinrichtungen, die für mich beim Lesen kaum zu ertragen waren. Es ist daher ein Buch, das für sensible Seelen und empfindliche Mägen nur bedingt geeignet ist. Nach der Lektüre empfindet man jedenfalls große Dankbarkeit und schätzt die Sauberkeit der heutigen Straßen, die Erfindung der Kanalisation und die fortgeschrittene Entwicklung der Medizin mit neu entfachter Leidenschaft! Mich hat die Geschichte teilweise ein wenig an die Serie „The Alienist“ auf Netflix erinnert – Fans der Serie sollten sich dieses Buch keinesfalls entgehen lassen.

„1793“ ist äußerst interessant aufgebaut. Es ist in vier Teile unterteilt, die teilweise von ganz unterschiedlichen Personen handeln und manchmal auch Rückblenden beinhalten. Im ersten Teil begleiten wir den Juristen Cecil und den Stadtknecht Mickel bei ihren Ermittlungen, in Teil zwei werde wir mit einem Briefroman aus der Sicht einer ganz anderen Figur überrascht, der dritte Teil spielt in einem Spinnhaus, in dem Häftlinge erstmals durch harte Arbeit resozialisiert werden sollen, und im vierten Teil führt der Autor meisterhaft alle losen Fäden zusammen, sodass plötzlich alles einen Sinn ergibt. Am Beginn war ich von der Struktur nicht begeistert, weil mir der erste Abschnitt so gut gefallen hat, dass ich unbedingt wissen wollte, wie es weitergeht, und weil ich durch den Wechsel etwas aus dem Lesefluss gerissen wurde. Doch dem Autor gelingt es, jeden Teil so interessant und spannend zu gestalten, dass ich am Schluss absolut begeistert war! Er hat in „1793“ einen komplexen, wendungsreichen Plot kreiert, der unvorhersehbar ist und einen von der ersten bis zur letzen Seite großartig unterhält!

Doch obwohl die Ermittlungen einen großen Teil des Buches ausmachen, vergisst Niklas Natt och Dag nicht, bei (oft auch schwierigen) Themen wie Freundschaft, Kriegstraumata, dem schwierigen Überleben im damaligen Stockholm und Krankheit in die Tiefe zu gehen, was dieses Buch von vielen anderen Krimis abhebt und nur noch großartiger macht! Das Ende (und seine Auflösung) war eines der besten, das ich dieses Jahr (vielleicht auch jemals!) gelesen habe: Es rundete die Geschichte so elegant und eindrucksvoll ab, spannte den Bogen so gelungen zum Beginn des Buches, dass ich das Buch (bzw. den E-Reader) mit einem absolut begeisterten, emotionalen und befriedigten Gefühl zuschlagen konnte. Ein rundum gelungener Roman, der mir sicher lange im Kopf bleiben wird – grandios von Anfang bis Ende.

ProtagonistInnen (♥)

Wer erwartet, dass wenigstens bei den Figuren etwas schiefgegangen ist, den muss ich leider enttäuschen. Die ProtagonistInnen der Geschichte sind unglaublich liebevoll ausgearbeitet, sie sind authentisch, lebendig, dreidimensional, unvergesslich und haben alle ihre Stärken und Schwächen, ihre Probleme und ihre Vergangenheit. Besonders die langsam entstehende Freundschaft zwischen Cecil und Jean Michael – zwei so unterschiedlichen Personen – hat etwas in mir berührt. Die beiden sind mir sehr schnell ans Herz gewachsen, ich habe mit ihnen intensiv mitgefiebert, mitgefühlt und mitgelitten.

Figuren (♥)

Auch die anderen Figuren sind rundum gelungen. Sogar wenn sie nur kleine Rollen im Buch einnehmen, bemüht sich der Autor sichtlich, sie möglichst gut auszugestalten und glaubwürdig erscheinen zu lassen.

Spannung & Atmosphäre (♥)

„‘Mich täuschen Sie nicht. Natürlich sind Sie ein Wolf. Ich habe genug erlebt, um das zu erkennen, und wenn ich tatsächlich falsch liegen sollte, dann steht Ihnen die Verwandlung kurz bevor – denn niemand streift mit den Wölfen umher, ohne ihrer Art nachzueifern. […] Eines Tages wird Blut auf ihren Zähnen schimmern, und da werden Sie begreifen, wie recht ich hatte.‘“ E-Book, Position 116

Vielleicht ist aber auch die unheimlich dichte Atmosphäre die größte Stärke des Buches. Man fühlt sich sofort in die Vergangenheit versetzt. Die Lektüre hat sich wie das kribbelige Eintauchen in ein düsteres, brutales, aber absolut interessantes und spannendes Abenteuer angefühlt. Obwohl es sich hier nicht um einen Thriller handelt, wird es teilweise atemlos spannend, ich konnte diesen historischen Roman, der sich immer mehr zu einem Pageturner entwickelte, kaum zur Seite legen. Einmal wurde es sogar regelrecht unheimlich: Da gab es eine Szene, die hat mir eine Gänsehaut beschert, wie ich sie lange (auch bei Horrorfilmen) nicht mehr hatte. Für die, die das Buch schon gelesen haben – ihr ahnt bestimmt, welcher Moment es war, oder? Der mit dem Fuß! Ist es euch da nicht auch herrlich eiskalt über den Rücken gelaufen?

Feministischer Blickwinkel (+/-)

Hier gibt es tatsächlich etwas zu kritisieren: Das Geschlechterverhältnis bei den Haupt- und Nebenfiguren (die mehr sagen als zwei Sätze) ist teilweise ziemlich unausgewogen, auch wenn es sogar eine weibliche Protagonistin gibt. Ich weiß natürlich, dass es damals eine andere Zeit war und manche Berufe nur von Männern ausgeübt werden konnten. Trotzdem würde ich mir wünschen, dass wir im Folgeband auf mehr starke Frauenfiguren treffen werden. Andererseits ist die Protagonistin eine starke, intelligente Frau, die um ihr Leben kämpft, und Männer dürfen weinen und Gefühle zeigen. Dass in diesem historischen Roman sogar LGBTQ+-Aspekte thematisiert werden, ist ein weiterer Pluspunkt. Die oft frauenfeindliche Einstellung der Gesellschaft und die manchmal auch frauenfeindliche Sprache (Hu--, Miststück) mancher Nebenfiguren verzeihe ich, weil es sich hier eben um einen historischen Roman handelt, und alles andere (leider) wohl unrealistisch wäre.

Mein Fazit

Mit seinem Debüt hat Niklas Natt och Dag einen komplexen, wendungsreichen, rundum gelungenen historischen Krimi geschaffen, der meisterhaft und erstklassig unterhält. Der Schreibstil ist unerwartet modern, wunderbar angenehm, anschaulich und atmosphärisch und zieht einen schon auf den ersten Seiten in ein unglaublich düsteres, aber auch absolut interessantes und spannendes Abenteuer hinein. Das ist übrigens gar nicht immer so angenehm, wie man vielleicht im ersten Moment denken würde – Niklas Natt och Dags Geschichte ist nämlich schonungslos ehrlich, brutal und oft auch eklig. Der Autor beschreibt nämlich auch Unschönes (den Gestank, der damals auf den Straßen herrschte, Seen voller Müll, Unrat und unglaublich grausame Hinrichtungen) bis ins Detail. Es ist daher ein Buch, das für sensible Seelen und empfindliche Mägen nur bedingt geeignet ist. Obwohl die Ermittlungen einen wichtigen Teil des Buches ausmachen, vergisst Niklas Natt och Dag nicht, bei schwierigen Themen wie Kriegstraumata und Krankheit in die Tiefe zu gehen, was dieses Buch von vielen anderen Krimis abhebt und nur noch großartiger macht! Das Ende (und seine Auflösung) war eines der besten, das ich dieses Jahr (vielleicht auch jemals!) gelesen habe: rund, elegant, emotional, befriedigend, eindrucksvoll, erinnerungswürdig. Auch die Figuren sind absolut gelungen: Besonders die Protagonisten sind unglaublich liebevoll ausgearbeitet; sie sind authentisch, lebendig, dreidimensional, unvergesslich und haben alle ihre Stärken und Schwächen, ihre Probleme und ihre Vergangenheit. Besonders die langsam entstehende Freundschaft zwischen Cecil und Jean Michael – zwei so unterschiedlichen Personen – hat etwas in mir berührt. Vielleicht ist aber auch die unheimlich dichte Atmosphäre die größte Stärke des Buches. Obwohl es sich hier nicht um einen Thriller handelt, wird es teilweise atemlos spannend, weswegen ich diesen historischen Roman kaum zur Seite legen konnte. Lediglich was das Geschlechterverhältnis im Buch betrifft, würde ich mir im Folgeband mehr Ausgewogenheit wünschen. Kurz: „1793“ ist ein düsteres, atmosphärisches Meisterwerk, das den Hype und das Lob absolut verdient hat – besser kann man einen historischen Krimi nicht schreiben! Für mich ein absolutes Lesehighlight 2019! Unbedingt lesen!

Beim zweiten Band bin ich natürlich wieder mit an Bord – ich kann es kaum erwarten, wieder in diese düstere Welt einzutauchen!

Besondere Leseempfehlung: Niklas Natt och Dag schreibt (bis auf wenige alte Wörter) sehr modern, weswegen ich sogar so weit gehen würde, zu sagen, dass ich ihn endlich gefunden habe – den historischen Roman für alle, die keine historischen Romane mögen!

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 5 Sterne ♥
Worldbuilding: 5 Sterne ♥
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 5 Sterne ♥
ProtagonistInnen: 5 Sterne ♥
Figuren: 5 Sterne ♥
Spannung & Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Ende / Auflösung: 5 Sterne ♥
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Feministischer Blickwinkel: +/-
Regt zum Nachdenken an!

Insgesamt:

❀❀❀❀❀♥ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir fünf Lilien und ein Herz – und somit den Lieblingsbuchstatus!