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Veröffentlicht am 15.09.2016

Sinnlicher Genuss zwischen Pflicht und Liebe, der bewegt, statt einfache Lösungen aufzutischen

Die Eismacher
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„Wir wollen so viel an die nächste Generation weitergeben. Eis, Poesie, Werkzeug. Eine bestimmte Lebensweise. Nichts will man verloren gehen lassen, weil man sich sonst selbst infrage stellen müsste.“ ...

„Wir wollen so viel an die nächste Generation weitergeben. Eis, Poesie, Werkzeug. Eine bestimmte Lebensweise. Nichts will man verloren gehen lassen, weil man sich sonst selbst infrage stellen müsste.“ S. 349

Ernest van der Kwast schreibt vom Leben der Familie Talamini, aus dem Tal der Eismacher in der Region Venetien, Provinz Belluno, nord-westlich von Venedig. Er erzählt aus der Sicht des Ich-Erzählers Guiseppe über die Gegenwart der Familie, mit Rückblicken auf die Familiengeschichte ab dem Urgroßvater des Ich-Erzählers, der ebenfalls Guiseppe hieß. Dieser war der erste Talamini, der Speiseeis hergestellt hat. Mühselig musste er die Maschine dafür mit der Hand drehen („drehen, drehen, drehen“ ist eines der oft wiederholten Motive); das Eis zum Herunterkühlen der Zutaten hatte er selbst aus den Bergen geholt. Er war zuerst als Maronibräter nach Wien gegangen, bevor er seiner Faszination für die Eisherstellung nachgeben konnte. Seine Nachkommen folgen der Familientradition: der Vater des Ich-Erzählers, Beppi (natürlich auch ein Guiseppe), sah mit seinen zwei Söhnen die Nachfolge als gesichert an. Als Kinder sind die Brüder noch unzertrennlich, selbst, als sie sich beide in Sophia verlieben: „Luca und ich spielten beide eine absurde Variante des alten Ich-bin-nicht-verliebt-Spiels, und irgendwann konnte ein Dritter mit unserer Beute das Weite suchen. Doch dazu kam es nicht, es trat nie ein Dritter in Erscheinung.“ S. 134

Stammhalter Guiseppe entscheidet sich gegen die Familientradition: er liebt die Poesie, studiert, arbeitet im Verlag, für eine Lyrikzeitung, für Lyrikfestivals. So übernimmt der jüngere Sohn Luca das Familiengeschäft. „Er [der Bruder, Luca] arbeitete sechzehn Stunden am Tag, machte Eis, verkaufte Eis, reinigte die Maschinen und fiel am späten Abend wie ein Klotz ins Bett. Seine Welt war das Eiscafé, meine begann dort, wo die Terrasse aufhörte.“ S. 180 Es ist hart, das Leben der Eismacher, mit langen Arbeitstagen in der Fremde, Wochen ohne Wochenende oder Freizeit, auch ohne die Kinder, die der Schule wegen in Italien bleiben, im Internat oder bei Verwandten. In den Sommerferien besuchen die Kinder ihre Eltern dort, wo die ihre Cafés betreiben, in Rotterdam, wie im Buch, oder in Deutschland, Österreich oder sonst in Europa.

Der Autor beschreibt viele Welten in seinem Buch: er berichtet von Lyrik-Liebhaber Guiseppe, der Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Hotels in der ganzen Welt kennt, aber sich sonst oft als Fremder fühlt, weil er soviel unterwegs ist; er erzählt die Geschichte der Eisherstellung, vom harten Leben in Norditalien gegen Ende des 18. Jahrhunderts; er redet vom Bruch in der Familie. Das Buch spricht von Liebe und Verzicht, vom Umsetzen von Träumen und von Pflicht, von Tradition und Moderne, von Hoffnungen und davon, dass nicht alles gut werden muss, wenn diese sich erfüllen. Es spricht aber auch viel davon, was ist, wenn Wünsche nicht erfüllt werden: „Ich sah, weshalb mein Bruder aus Olivenöl Eis zu machen versuchte, warum er Melone mit Minze mischte, warum er bis tief in die Nacht über Rezepten brütete. Ich sah, warum Sophia manchmal bis halb elf im Bett blieb und den ganzen Tag auf die Pfützen starrte, in denen kleine Kinder mit ihren Stiefeln herumplantschten.“ S. 220

Ich bin kein Poesie-Liebhaber (das Buch schreibt lange und viel über und von Poesie wie vom Eismachen), aber ich verstehe Faszination. Ich verstehe Genuss. Im Buch sagt der Vater über Sohn Luca: „Sein Vanilleeis ist so fest und unwiderstehlich wie der Hintern von Sophia Loren.“ Dazu antwortet sein Gast, jemand aus der Lyrik-Welt von Sohn Giovanni: „Jetzt weiß ich, von wem ihr Sohn seine Liebe zur Poesie hat.“ S. 190. Beides ist sinnlich, Kunst und Genuss – allerdings sieht das speziell der Vater nicht, sieht es Bruder Luca nicht – sieht es vielleicht nicht einmal Sohn Giovanni.

Während ich im ersten Teil des Buches nur vom Erzählstil gefangen war und davon, in mehrere mir fremde Welten völlig einzutauchen, ließ mich der zweite Teil vieles überdenken. Wenn ich für die Selbstverwirklichung bin, kann das auch das Ende von Traditionen bedeuten, den Verlust von Kulturgut: viele Handwerker finden heute keine Nachfolger mehr. Wenn ich mich der Pflicht verschreibe, bin ich hingegen vielleicht irgendwann verbittert und hasse die, die sich freier entschieden oder um derentwillen ich diese Pflicht auf mich nehme. „Wir wollen so viel an die nächste Generation weitergeben. Eis, Poesie, Werkzeug. Eine bestimmte Lebensweise. Nichts will man verloren gehen lassen, weil man sich sonst selbst infrage stellen müsste.“ S. 349 Ein starkes Buch, das sich einfachen Lösungen verwehrt und lange nachhallt.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Beeindruckendes Kammerspiel mit Rückblicken; spannend und Studie über Branche und Menschen

Der kalte Saphir
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Wieder ein Buch, das ich in ganz kurzer Zeit durchgelesen habe, weil es mich in den Bann zog. Wieder ein Buch, bei dem ich die Wendungen so nicht vorausgesehen hatte (bis auf eine, weil sie sich aus den ...

Wieder ein Buch, das ich in ganz kurzer Zeit durchgelesen habe, weil es mich in den Bann zog. Wieder ein Buch, bei dem ich die Wendungen so nicht vorausgesehen hatte (bis auf eine, weil sie sich aus den ausgelegten Spuren für mich ergab). Wieder ein Buch, bei dem ich immer noch auf das Ende starre (das andere war „Nichts ist je vergessen“ von Wendy Walker ganz kurz vorher).


Ich bin mir wieder nicht ganz sicher, welchem Genre ich das zuordnen soll, ein Krimi ist das nicht wirklich, ein Hauch Psycho (Psycho- was?) ist da, viel Gesellschaftsstudie, viel psychologische Studie der Protagonisten - …ein Roman.

Der charismatische Frontmann der legendären Band Klarstein wurde vor über dreißig Jahren erschossen – die Journalistin Jule Sommer will im Interview mit dem damaligen Tontechniker der Band, Sebastian Winter, die Ereignisse aufklären – ein Tipp des damaligen Bandmitglieds Herb (man beachte: Sommer, Winter, und Herb st?).

Der Titel des Buchs bezieht sich auf den Bandnamen „Klarstein“, den sich der Gründer und Frontmann Jerome ausgedacht hatte – um damals Zed zu überreden, für die Band als Drummerin tätig zu werden, hatte er ihr einen Ring mit dazu passendem blauen Saphir geschenkt.

Das Interview in dem einsam gelegenen Haus von Winter mit Sommer gerät zum Kammerspiel, teils klaustrophobisch, teils zwanghaft, häufig mit bedrohlichem Unterton. Es wird früh klar, dass Winter vorhat, seiner eigenen Dramaturgie zu folgen; bei ihm hat fast alles eine tiefere Bedeutung, so denkt er zum Beispiel mit Blick auf Journalistin Sommer: „Wenn sie wüsste, was dieses Schwimmbecken für ihn bedeutet.“ S. 46 Der Eindruck entsteht, dass beide einander belauern, jeder vom anderen profitieren möchte.

Die Erzählungen des Tontechnikers geraten zur Reise in die Vergangenheit: „Ich erzähle Ihnen die ganze Story. Ungeschminkt. Aber nur, wenn sie mir versprechen, dass Sie sie auch so veröffentlichen werden, genau so, wie ich sie Ihnen erzähle“. S 22. Die Rückblenden sind atmosphärisch dicht, man kann fast die Geräusche im alten Haus hören oder den Alkohol und die Zigaretten in den Kneipen riechen. Nebenbei bekommt man eine Vorstellung, welche Härten es mit sich bringt, als junge Band bekannt werden zu wollen: die Reisen, der Geldmangel, lange aufeinander zu hocken, die Proben, die Improvisation, Feilen an Songs – aber auch die Businessmaschinerie, erste Anhänger. Durch den Kunstgriff des Wechsels zwischen den Zeitebenen bleibt eine gewisse Distanz zu den Figuren beim Leser durchaus bestehen, auf mich wirkt dadurch der Sog, der sich um die Mitglieder auftat inklusive des einsetzenden Erfolgstaumels surreal – genauso, wie sich so ein Triumph sicherlich für „betroffene“ Bandmitglieder darstellt.

Insgesamt ein wirklich gut und fesselnd geschriebenes Buch mit düsterer Spannung und viel Einblick in Branche, Menschen und Beziehungen. Der Schreibstil ist flüssig, mit einigen wenigen für mich ungewohnten Ausdrücken, so dem schweizerdeutschen Begriff für eine Obststiege (der Autor ist Schweizer). Manko war für mich vielleicht eine ungewöhnliche Wendung zu viel, die Tochter von Thérèse hätte es nach meiner Meinung nicht gebraucht. Genial dafür die „multimediale“ Einbettung des Buches: es gibt eine Webseite der Band und man kann sogar ihre Lieder hören (bzw., als Leser des Buches auch herunterladen!). Das Ende – ja, da schlage ich den Bogen zu meinen einleitenden Worten – wieder ein Buch, bei dem ich Idee und sicherlich Rückgrat des Autors bezüglich des Endes bewundere.


Übrigens ist der Autor Informatiker und hat vorher zwei Bücher geschrieben: eines ist ein Fußballroman, das andere ein Roman über einen Alpenflug, was ich im Zusammenspiel auch für reichlich bemerkenswert halte.
4 von 5 möglichen Sternen (einfach nur, weil noch ein Hauch Luft nach oben ist).

Veröffentlicht am 15.09.2016

Empfehlung! Achtung, KEIN Thriller oder Krimi, eher …so etwas wie ein dramatisches Psychogramm?!

Dark Memories - Nichts ist je vergessen
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Das soll heißen: Leseempfehlung. Aber: bitte nicht den Klappentext lesen. Bitte nicht den Aufkleber/Einleger „Der Thriller des Jahres“ lesen. Die werden dem Buch nicht gerecht: Wer Thriller mag, wird speziell ...

Das soll heißen: Leseempfehlung. Aber: bitte nicht den Klappentext lesen. Bitte nicht den Aufkleber/Einleger „Der Thriller des Jahres“ lesen. Die werden dem Buch nicht gerecht: Wer Thriller mag, wird speziell den Beginn zwingend zu langsam, zu langatmig, zu wenig vorantreibend empfinden. Wer keine Thriller mag, wird leider leider das Buch verpassen. Aber leider leider war wieder einmal jemand bei einem Verlag der Ansicht, die Schublade „Thriller“ sei doch ganz nett – damit könne man das Buch gut verkaufen.

Laut Wikipedia gilt: „Charakteristisch für Thriller ist das Erzeugen eines Thrills, einer Spannung, die nicht nur in kurzen Passagen, sondern während des gesamten Handlungsverlaufs präsent ist, ein beständiges Spiel zwischen Anspannung und Erleichterung.“ Nein, dieses Buch fängt sehr gemächlich an. Ja, zugrunde liegt ein Verbrechen, ein wirklich brutales, abscheuliches Verbrechen – die Vergewaltigung an der sechzehnjährigen Jenny. Jetzt würden viele das Buch meiden, weil Gewalt nicht ihr Thema ist, vielleicht speziell auch sexuelle Gewalt. Der Leser bekommt hier jedoch das Thema zuerst mit einer gewissen Distanz vermittelt, das Verbrechen ist „bereits vorher“ passiert, wir sehen "nur" medizinische und polizeiliche Berichte (ja, das ist explizit – aber „Zusehen/-hören/-lesen“ ist etwas ganz anderes, zumindest für meine „Mit-Ertragens-Schwelle“).

Weiter mit Wikipedia: „In Thrillern muss sich der Held meist gegen moralische, seelische oder physische Gewalteinwirkung durch seinen Gegenspieler behaupten, während dies in Kriminalgeschichten weniger der Fall ist. Auch ist im Kriminalroman meist die Aufklärung des Verbrechens der Höhepunkt, während im Thriller erst der darauf folgende, oft sehr knappe, aber endgültige Sieg über den Widersacher den Höhepunkt darstellt, mit dem der Held sich selbst und womöglich auch andere rettet….Normalerweise wird in Thrillern viel Wert auf die Beschreibung der Handlung gelegt. Werden hingegen die Figuren und deren Psyche ebenso stark oder gar stärker betont, spricht man von einem Psychothriller. Meist ist hier ein emotionaler Konflikt zwischen mehreren Personen oder auch ein Konflikt innerhalb einer Person Thema, beispielsweise aufgrund früherer Erlebnisse. Typische Merkmale von Psychothrillern sind der Einsatz der Bewusstseinsstromtechnik, ein Erzähler oder die ausgedehnte Thematisierung einer Vorgeschichte.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Thriller Ja, meinetwegen gibt es so einen Hauch Psychothriller („so richtig“ Psychothriller wäre eher der von mir im Original gelesene und bewertete „und morgen dein Tod“ = „Hunted“ = „What does not kill her“). Und: Nein. Auch ein Krimi ist das hier nicht, vielleicht eher etwas neues, eigenes, wie bei „Fusion-Küche“. Wir sehen zu, was ein Ereignis mit Menschen macht: wie zum Beispiel Jennys Eltern mit der Tat umgehen, mit ihr, miteinander. Dabei merken wir peu à peu, dass da schon vorher bestimmte Tendenzen vorherrschten.

Aber Jenny ist eher nicht die Hauptperson. Und eigentlich geht es auch nicht um die Vergewaltigung, es geht – zuerst - darum, was die danach zuerst angestrebte Therapie an ihr auslöst – die Therapie, nach der sie alles vergessen soll. Das klappt zwar, aber andererseits doch nicht, denn sie fühlt sich nicht gut – kann das aber keiner Erinnerung als Auslöser zuordnen. Die Idee finde ich genial: Darf man das, sollte man das? Was ist wichtiger, den Täter zur Verantwortung ziehen zu können (eventuell, wenn man ihn findet, wenn er verurteilt würde) – oder dem Opfer keine Erinnerung an das Schreckliche zu lassen? Das allein hätte schon reichlich Stoff geboten, Autorin Wendy Walker belässt es aber nicht dabei; wie gesagt, Jenny ist meiner Meinung nach nicht die Hauptperson. Der Roman wird aus der Sicht des sie behandelnden studierten Mediziners, ihres Psycholgen, als Ich-Erzähler aufgespannt als ein komplexes Psychogramm: da gibt es noch Jennys Eltern, die Arbeit des Psychologen in einer Strafanstalt, seine Vor-Meinungen (gegen die „Vergessens-Pille“, für bestimmte andere Vorgehensweisen, beeinflusst durch weitere Erfahrungen).

Nein, ich möchte hier nicht weiter schreiben. Ich habe viel markiert während der Lektüre, doch jeder Ausschnitt könnte zu viel verraten, es wird so einiges in den Raum geworfen; der Psychologe schreibt eindeutig im Rückblick aus einer Perspektive, in der schon mehr klar ist, und greift dadurch häufig vor – oft, vielleicht sogar immer merkt man das – aber: die Autorin beherrscht es tatsächlich, dass NICHTS davon den Leser bis zum Ende der Geschichte wirklich weiterführt: Dieses Buch hat mich durch ein Wechselbad der Gefühle gejagt. Nie wusste ich, woran ich war. Insofern war es ein Pageturner und ich musste nach und neben der Lektüre noch viel über das Buch nachdenken. Wie manipulierbar ist die Erinnerung? Wie real sind überhaupt unsere Beziehungen, unsere Selbstbild, unsere Werte? Was richten unsere besten Absichten an? Welche Konsequenzen hat jedes Handeln, jedes Unterlassen? Was verursachen unsere Erwartungen?

Veröffentlicht am 15.09.2016

"When you can't move forward, look behind"

Und morgen dein Tod
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Achtung: ich rezensiere die UK-Ausgabe - kann die hier aber nicht verlinken.

Wow. Ich habe diesen Thriller an einem Abend durchgelesen – und schreibe die Rezension bewusst in deutscher Sprache, um möglichst ...

Achtung: ich rezensiere die UK-Ausgabe - kann die hier aber nicht verlinken.

Wow. Ich habe diesen Thriller an einem Abend durchgelesen – und schreibe die Rezension bewusst in deutscher Sprache, um möglichst viele Leser anzusprechen.
Zuerst die Fakten:
Die Autorin hatte zuerst als Gerichtsjournalistin gearbeitet und Sachbücher geschrieben, sogenannte „True-Crime-Stories“. Dann folgte ihr Debüt für das Genre Thriller mit “The Edge of Normal” (deutsch: „Und nachts die Angst“)– bereits mit der Heldin dieses Buches, Reeve. Ich habe dieses Debüt (noch) nicht gelesen – es war auch für die Lektüre von „Hunted“ nicht notwendig.
Was etwas verwirrend ist:
„Hunted“ ist der Titel, der in UK für den zweiten Roman genutzt wurde und liegt mir vor,
ich hänge einen Scan an, da ich die Covergestaltung sehr passend finde (um das zu verstehen, muss man das Buch dann aber schon lesen),
"What does not kill her" heißt das Buch im US-Original,
in Deutschland "Und morgen dein Tod".

„When you can’t move forward, look behind“ ist eigentlich nicht (mehr) das Problem von Reeve: Als sie noch Reggie hieß, wurde sie im Alter von 12 Jahren gekidnappt und von ihrem Entführer Daryl Wayne Flint vier lange Jahre gefangen gehalten. Vor sieben Jahren kam sie frei, Flint ist seitdem in Gewahrsam und hinter Reeve liegt eine erfolgreiche Therapie, vor ihr ein selbstbestimmtes Leben als Studentin mit etwas mehr an Ballast.
Eigentlich – denn Flint entkommt.

Die Autorin hält das gesamte Buch über die Spannung aufrecht – die Handlung ist üblicherweise in der Gegenwartsform geschrieben und wirkt dadurch sehr unmittelbar. Dazu wechselt die Perspektive des in der dritten Person geschriebenen Roman mit jedem Kapital zwischen den verschiedenen Personen, meist sind diese Kapitel nur zwei bis vier Seiten kurz, ohne dass das auf mich konfus wirkte, eher trieb es die Handlung dynamisch voran. Zur Überschrift wird jeweils der Ort genannt; die Zeitschiene ist mehrheitlich chronologisch.

Was jedem klar sein muss: Flint ist ein sadistischer Pädophiler, er hatte Reggie nicht gefangen gehalten, weil er „so nett“ ist. Die Autorin geht hiermit jedoch auf besondere Art und Weise um: ins Detail geht sie nur bei der aktuellen Handlung. Was sich in der Vergangenheit abgespielt hat, blättert sie nur ganz allmählich auf, ohne dass der Leser sich mit dem Opfer durch lange explizite Seiten hindurch quälen muss. Die Wirkung entfaltete sich für mich jedoch umso subtiler: so wird fast nebenbei erwähnt, dass Reeves Haar früher schlimm aussah oder dass sie sich häufig die linke Hand massiert – warum, das wird erst allmählich aufgelöst. Oft blieb ich an so einem Satz im Buch hängen: „Get everything ready first, decide on target later.” S. 92 wird da als Motto von einem weiteren der Akteure genannt – während ich noch „die Autorin meint doch hier nicht“ dachte, wird das wirklich volle Ausmaß erst im weiteren Verlauf deutlich. „Psycho-Thriller“ passt hier sicher gut.

Warum nun tut sich Reeve das an, involviert zu sein in die Jagd nach ihrem Peiniger? “Their conversation bothers her for the rest of the day. It dogs her around campus. It nags her on the way home. It worries her as she orders a take-out dinner from a Thai restaurant. And just after she enters her door, as she’s lifting the fragrant meal out of its papier sack, the realization sinks its claws into her chest. Her breath stops. She goes utterly still, weighing the cost of the struggle, but sees no option but surrender.” S. 80 Sie kann nicht anders: “When you can’t move forward, look behind” heißt es mehrfach im Buch.

Was ich beachtlich finde, ist der Spagat, der Carla Norton in mehrfacher Hinsicht gelingt: den Kunstgriff, unbeschreibliches nicht voyeuristisch darzustellen, indem man den Horror mehr in der Vorstellung des Lesers stattfinden lässt, ihn sich aus Andeutungen herauslesen lässt, hatte ich ja schon beschrieben. Weiteres gelingt ihr über die Perspektivwechsel, speziell zum Täter hin: sie lässt uns mit ihm auf der Lauer liegen, bis zu Momenten, wo aus seiner Jagdlust nunmehr Frust wird – eine durchaus verstörend gelungene Leseerfahrung. Die Familie Flints wird als ganz eindeutig dysfunktional dargestellt, ohne dass man das auch nur kurz als Entschuldigung für seine Handlungen akzeptieren mag, auch dieses ein großer Verdienst der Autorin. Und letztlich gelingt ihr die Auflösung aller Handlungsfäden, wobei beeindruckend dargebracht wird, inwieweit auch Zufälle mit beteiligt sind an Verschleierung oder Aufdeckung von Ereignissen, Zufälle, auch bedingt durch persönliche Eitelkeiten oder Ziele außerhalb des „großen Ganzen“. Zusammengefasst nochmals „wow“!

Der Vorgänger:
https://www.lesejury.de/carla-norton/buecher/und-nachts-die-angst/9783426513774?st=1&tab=reviews&s=2#reviews

Veröffentlicht am 15.09.2016

Debüt der True-Crime Autorin mit fesselndem Thriller über Kampf gegen Sexualsadisten

Und nachts die Angst
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Die dreizehnjährige Tilly Cavanaugh wurde nach 13 Monaten befreit aus Randy Vanderholts Keller – eigentlich nur durch Zufall, weil eine aufmerksame Maklerin einen seltsamen Umbau des davor von Vanderholt ...

Die dreizehnjährige Tilly Cavanaugh wurde nach 13 Monaten befreit aus Randy Vanderholts Keller – eigentlich nur durch Zufall, weil eine aufmerksame Maklerin einen seltsamen Umbau des davor von Vanderholt benutzten Hauses bei der Polizei meldete.
Zwei weitere, optisch ähnliche Mädchen, sind noch vermisst.

„Und nachts die Angst“ heißt im Original „The Edge of Normal“ und ist das zweite Buch, das ich von Carla Norton lese. Das erste Buch von ihr habe ich im englischen Original gelesen, „Hunted“ (UK-Titel) bzw. „What does not kill her“ (US-Titel), in deutscher Sprache „Und morgen dein Tod“. Zeitlich liegt „Und nachts die Angst“ vor dem anderen Buch, beide lassen sich auch ohne Kenntnis des anderen lesen.

Die Autorin schreibt in Kapiteln von etwa vier bis zehn Seiten, jeweils in der dritten Person, aber aus der Perspektive wandelnder Protagonisten, vor allem aus der Sicht von Reeve, die früher Reggie hieß, und von der Presse „Edgy Reggie“ getauft wurde, weil sie sich gegen die Presse-Aufdringlichkeiten nachhaltig wehrte: Sie war drei Jahre, zehn Monate, zwölf Tage in der Gefangenschaft des Sexualsadisten Daryl Wayne Flint, kam ebenfalls durch Zufall frei. Immer noch geht Reeve regelmäßig wöchentlich zu ihrem Psychiater Dr. Lerner, mit dessen Unterstützung sie weitestgehend wieder ins Leben zurück gefunden hat. Weitestgehend:
„Sie war vergewaltigt, geschlagen, verbrannt, gepeitscht, ausgehungert und fast ertränkt worden. Sie hatte geglaubt, sterben zu müssen. Sie hatte es sich gewünscht. Und als es vorbei gewesen war, hatte sie sich seltsam andersartig empfunden, als hatte man etwas in ihr abgetötet, das für das Menschsein notwendig war.“
„Die plötzliche Geborgenheit ihres Zuhauses, sogar die Umarmungen ihrer Familie hatten in ihr Orientierungslosigkeit erzeugt. Sie war in eine Welt gekommen, die sich wie ein fremder Planet anfühlte. Keiner sprach ihre Sprache. Niemand verstand sie.“ S. 51
Als Dr. Lerner hinzugezogen wird, um nun auch Tilly zu therapieren, fühlt deren Mutter sich damit unwohl – sie wünscht eine Art Rückversicherung, ein anderes, weibliches Opfer, dem er, als Mann, hat helfen können. So spricht Lerner Reeve an – sie fühlt sich damit zuerst unwohl, lässt sie doch immer noch enge Beziehungen nicht zu, will nicht berührt werden, schämt sich ihrer zahlreichen Narben. Reeve lebt in den Tag hinein, kellnert in einem japanischen Restaurant, wofür sie perfekt japanisch gelernt hat. Als sie den Job verliert und durch Zufall eine Unterhaltung zwischen ihrem Vater und ihrer älteren Schwester mitbekommt, entscheidet sie sich spontan, Tilly zur Seite stehen zu wollen.

Die Autorin schildert die junge Frau glaubwürdig, zeigt auf, wie sie versucht, vom Verstand her das Unfassbare zu verarbeiten. Reeve kennt alle Fachliteratur, aber „Trost hat sie in all diesen Texten nicht gefunden. Zu versuchen, die Wahrheit über das Böse im Menschen aufzuspüren, ist, als atme man giftige Dämpfe ein.“ S. 157

Im Folgenden fällt Reeve als erster auf, dass Tilly zwar mit Zigaretten verbrannt wurde, aber der gefasste Täter Nichtraucher ist. Sie beginnt, aktiv zu werden. Dadurch findet sie sich schnell im Kreuzfeuer der Ermittler wieder, die die Einmischung durch „Zivilisten“ fürchten – allerdings auch im Fokus ganz anderer Personen…
Durchgängig ist das Buch sehr spannend, man merkt der Autorin die Herkunft aus „True Crime“-Romanen an – die Abschnitte über den Missbrauch sind ziemlich heftig, besonders die Kapitel aus Tätersicht. Insgesamt toll geschrieben, durchgängig spannend, ich fand das Folgebuch allerdings noch „einen Tick“ spannender.



Passendes Folgebuch:

Der Folgeroman mit gleicher Autorin und Protagonistin:

https://www.lesejury.de/carla-norton/buecher/und-morgen-dein-tod/9783426513781?tab=reviews#reviews

Keine Sexualsadisten, dafür persönlicher Bericht.

Jan-Philipp-Reemtsma: "Im-Keller"