Gelungene Darstellung unserer Zeit
Über Menschen„Über Menschen“ – der Titel von Juli Zehs neuem Roman erinnert an ihr Buch „Unterleuten“ von 2016. Wieder befinden wir uns im ländlichen Brandenburg, dort treffen wir jedoch nicht auf alte Bekannte. Protagonistin ...
„Über Menschen“ – der Titel von Juli Zehs neuem Roman erinnert an ihr Buch „Unterleuten“ von 2016. Wieder befinden wir uns im ländlichen Brandenburg, dort treffen wir jedoch nicht auf alte Bekannte. Protagonistin ist diesmal die Werbetexterin Dora. Diese flieht mitten im 1. Lockdown im Frühjahr 2020 vor der Hysterie und Panik Berlins im Allgemeinen und der ihres politisch überkorrekten Freundes Roberts im Speziellen aufs Land. Sie hat es satt, immer alles richtig machen und zu allem eine Meinung haben zu müssen, selbst wenn es keine einfachen Lösungen gibt.
Ihr Freund Robert hatte sich bereits vor Corona verbissen dem Klimaschutz verschrieben und erlebt nun geradezu mit Genugtuung, dass die Menschen dank der Pandemie endlich die drohende Apokalypse erkennen müssen. Dora ist das alles zu prinzipiell. Natürlich findet auch sie, dass man etwas fürs Klima tun muss und dass man sich an Coronaregeln halten sollte. Im Gegensatz zu Robert glaubt sie aber nicht an absolute Wahrheiten, sieht in allem auch die Widersprüche und will dem Meinungsterror, der in der Hauptstadt herrscht, entfliehen. Als Robert ihr dann auch noch verbieten will, mit dem Hund längere Spaziergänge zu machen, bringt dies das Fass zum Überlaufen.
Zum Glück hat sie sich schon vor Corona in aller Heimlichkeit ein altes Gutshaus im brandenburgischen Nest Bracken gekauft.
Dort trifft sie als Erstes auf ihren neuen Nachbarn Gote, der sich als Dorf-Nazi vorstellt und auch sonst keinen allzu sympathischen Eindruck macht. Doch wenn Not am Mann ist, ist er immer zur Stelle und Nachbarschaftshilfe ist bei ihm nicht nur ein Wort. Das Gleiche gilt für den Nachbarn Heini. Unaufgefordert hilft er ihr, ihren Riesengarten in den Griff zu bekommen. Leider reißt er jedoch unentwegt rassistische Witze.
Und dann ist da noch das schwule Pärchen, das einen Blumenladen besitzt und recht liberal wirkt, jedoch die AFD wählt.
All diese Widersprüche verwirren Dora und sie fragt sich, ob und inwieweit sie Stellung beziehen muss. Gleichzeitig erkennt sie immer mehr, dass die Welt sich nicht so einfach in Schwarz und Weiß einteilen lässt. Stattdessen wird sie mit ihren eigenen Vorurteilen konfrontiert. Denn ist für sie, wie für alle Großstadttanten, nicht jeder ein Nazi, der anderer Meinung ist? Hält sie sich aufgrund ihrer linksliberalen Einstellungen nicht doch für etwas Besseres und ist letztendlich genauso wenig zu einem Diskurs bereit wie die, die politische Meinungen vertreten, die ihren konträr sind?
Ich war unheimlich gespannt auf diesen neuen Roman von Juli Zeh, nicht nur weil ich ihre Bücher sehr mag, sondern vor allem, weil ich neugierig war, wie man Corona sozusagen in Echtzeit thematisieren kann, wenn man noch mittendrin steckt, zumal das Thema ja unglaublich emotionsgeladen ist. Aber es ist natürlich kein Buch, das dazu auffordert, irgendwelche Positionen einzunehmen. So wie Dora erkennen muss, dass es Grautöne gibt, nicht alles nur richtig oder falsch ist, verstehe ich es auch als eine Aufforderung an uns, nicht immer alles dogmatisch zu sehen, nicht nur unsere eigenen Ängste gelten zu lassen, Menschen nicht aufgrund einzelner Aspekte in eine Kategorie zu stecken.
Für mich eine gelungene Darstellung der Zeit, die wir im Moment durchleben. Es wird aber auch interessant sein, diesen Roman in ein paar Jahren noch einmal im Rückblick auf die Zeit der Pandemie zu lesen.