Ein im wundervollen Stil verfasster Blick in die späte Kaiserzeit
Frau Hempels Tochter. RomanEs ist schon eine ganze Weile her, daß ich ein Buch so genossen habe. Alice Berend, vor der Nazizeit gefeierte Autorin, dann verfemt und vergessen, nun zum Glück wiederentdeckt, schildert in ihrem ursprünglich ...
Es ist schon eine ganze Weile her, daß ich ein Buch so genossen habe. Alice Berend, vor der Nazizeit gefeierte Autorin, dann verfemt und vergessen, nun zum Glück wiederentdeckt, schildert in ihrem ursprünglich 1913 erschienenen Roman das Berlin der späten Kaiserzeit herrlich lebendig. (Mit dem Berlin der 1920er Jahre hat das Buch nämlich entgegen des Untertitels gar nichts zu tun). Vom ersten Satz an ist man in der Geschichte drin, erlebt die Charaktere und Schauplätze so köstlich geschildert, als ob man sich mitten unter ihnen befände.
Das Buch ist mit einem haptisch angenehmen Einband versehen, dessen angenehme Farbgebung sich im Lesebändchen fortsetzt. Das Titelbild der androgynen jungen Frau aus den späten 1920ern fand ich dagegen nicht gut gewählt – es paßt nicht zur im Buch geschilderten Zeit und auch nicht zu der titelgebenden Tochter Frau Hempels.
Alice Berend schreibt in klarer, gut lesbarer Sprache einen ganz eigenen Stil, eine interessante Mischung aus teils ulkigen Wortwendungen, etwas kalenderblattartigen aber treffenden Aphorismen, geradezu poetischen Ausdrücken und vor allem einem herrlich trockenen Humor. Ich dachte hier manchmal an Walter Kempowski, dem es ebenfalls gelang, mit der Sprache so zu spielen, daß er einen sofort erkennbaren, unverwechselbaren Stil schrieb. Es war ein Vergnügen, Berends Sätze zu lesen.
Auch inhaltlich erfreut das Buch. In dem Nachwort, das gut über Berends Leben und Werk informiert, wird sie mit Fontane verglichen und dem Vergleich stimme ich zu. Bei beiden finden sich köstlich geschilderte, lebensechte Charaktere, Lebensweisheit und pointierte Schilderungen. Berend schildert das kleinbürgerliche Milieu ebenso gekonnt wie die gelegentlichen Blicke in das Leben der Großbürger und verarmten Adeligen. Man hat das Gefühl, neben Frau Hempel in der Kellerwohnung zu sitzen, die Straßenbahnen zu hören, man ist dabei, wenn die verarmte Gräfin sich mit tieftrauriger Miene in ihren von einer besseren Vergangenheit kündenden Räumen bewegt. Obwohl nicht viel mehr passiert als der normale Alltag, wird es keine Sekunde langweilig, ich hätte sogar gerne noch viel mehr gelesen. Das liegt zum einen an dem bereits erwähnten prächtigen Humor. Ich habe oft geschmunzelt und einige Male laut gelacht – ganz lakonisch wirft Alice Berend treffende Sätze ein. Zum anderen liegt es daran, daß selbst die alltäglichen Vorgänge kurzweilig und farbig geschildert werden, ebenso wie die Charaktere. Zuvörderst natürlich Frau Hempel, die so patent und liebenswert ihren Weg macht und für deren Schaffenskraft man nur Bewunderung haben kann. Aber auch das ganze Umfeld ist so treffend und unterhaltsam beschrieben, daß man von dieser Charaktervielfalt gar nicht genug bekommen kann. Inmitten dieser farbigen, leicht anmutenden Schilderungen gibt es auch sehr zärtliche Momente, die ohne Sentimentalität geschildert werden, und anrühren.
Das Ende war mir dagegen zu zuckerwattig, alles geht zu glatt, wie es auch im ganzen Buch nie wirkliche Probleme gibt und sich alles immer schnell zum Besten fügt. Während der Alltag realistisch beschrieben ist, hätte der Handlung gerade im letzten Teil eine Prise mehr Realismus gut getan, so ist es mir zu idealistisch. Aber auch das ist ausgezeichnet geschildert. Und so war „Frau Hempels Tochter“ für mich ein besonderes Lesevergnügen, mit stilistisch höchst erfreulichem Zeitkolorit und köstlichen Charakteren. Die weiteren Bücher der Autorin stehen schon auf meiner Wunschliste.