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Veröffentlicht am 06.09.2019

Schrödingers Gäste

Der ungeladene Gast
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Ich liebe Bücher und Filme die im frühen 20. Jahrhundert in englischen Landhäusern spielen. So gehören „Was vom Tage übrigblieb“ von Kazuo Ishiguro und „Gosford Park“ („The Shooting Party“) von Isabel ...

Ich liebe Bücher und Filme die im frühen 20. Jahrhundert in englischen Landhäusern spielen. So gehören „Was vom Tage übrigblieb“ von Kazuo Ishiguro und „Gosford Park“ („The Shooting Party“) von Isabel Colegate zu meinen Lieblingslektüren bzw. Filmen. Auch dieses Buch erfüllte das von mir so geliebte Settingversprechen: wir befinden uns in „Der ungeladene Gast“ auf dem englischen Landsitz Sterne, bewohnt von der Familie Torrington-Swift im Jahr 1912. Englische Landhäuser haben einfach ein einzigartiges Flair und das weiß sich die Autorin Sadie Jones zunutze zu machen indem sie eine faszinierend harmonische und eindringliche Atmosphäre heraufbeschwört, die den Leser sofort in den Bann zieht.
Der Tag an dem ein Großteil der Handlung spielt ist der 30. April 1912, Emerald Torringtons 20. Geburtstag. Zusammen mit ihrem jüngeren Bruder Clovis und der jungen Nachzüglerin Imogen, genannt „Smudge“ ist sie das dritte und älteste Kind von Charlotte Swift und ihrem verstorbenen Mann Horace Torrington. Zu Beginn des Romans reist ihr neuer Ehemann und ungeliebter Stiefvater, der Jurist Edward Swift nach Manchester, um den finanziellen Ruin seiner angeheirateten Familie und den Verlust des geliebten Anwesens zu vereiteln. Auch Emerald könnte ihren Teil zur Rettung des Familienvermögens beitragen wenn sie den zu ihrer Geburtstagsfeier eingeladenen Millionär John Buchanan heiraten würde. Und dann ist dann auch noch das Geschwisterpaar Patience und Ernest Sutton, die Kinder einer befreundeten Familie, die etwa im gleichen Alter wie Emerald und Clovis und der Erinnerung nach so gar nicht nach deren Geschmack sind. Zusammen mit den Hausangestellten (Myrtle und Florence) erhält die kleine Gesellschaft am Abend des Festtages die Nachricht von einem Zugunglück in der Nähe. Die verunglückten Passagiere stehen plötzlich vor der Tür und werden vorerst im Studierzimmer untergebracht. Wenige Zeit später klopft es und die Nachzüglerin Smudge öffnet dem Nachzügler Charlie Traversham-Breechers die Tür, der mit seiner besonderen Art und seinem exklusiven Auftreten schnell aus der Masse der Verunglückten heraussticht…
An der Handlung des Romans fasziniert mich die gelungene Verbindung von der Darstellung einer Familienrealität in der gehobenen englischen Mittelschicht des frühen 20. Jahrhunderts mit dem Bizarren und Außergewöhnlichen, das plötzlich seinen Einzug hält und die gesellschaftliche Ordnung unterminiert. Aufgrund dieser Symbolik und der Erzählstruktur kann man den Roman fast schon als klassisch bezeichnen, man merkt ihm seine moderne Autorin jedenfalls kaum an.
Auch sonst setzt Sadie Jones ganz auf Metaphorik und Ironie. Wie das ebenfalls in der Handlung präsente Kätzchen, das in seiner Kiste auf seine Befreiung wartet ist lange Zeit unklar, was es denn genau mit dem Vitalitätsgrad der Passagiere auf sich hat: Schrödingers ungeladene Gäste eben, wenn man den Vergleich zum Theorem des berühmten Physikers ziehen mag. Auch durch das andere, das unrenovierte Zweithaus auf dem Anwesen wird die Holzhammermetaphorik ausgepackt. Die Verfallssymbolik deutet auch schon auf den lauernden ersten Weltkrieg hin: nichts wird mehr so sein wie zuvor.
Die Charakterzeichnung ist auch eine besondere Stärke von Sadie Jones, vor allem wenn ich an die kleine Smudge denke, die mit ihren exzentrischen Handlungen und ihrem liebenswerten Außenseitertum fast zur heimlichen Hauptfigur wird.
Für den spannungsverwöhnten Leser hält der Plot allerlei Überraschungen bereit, obwohl man sich das ein oder andere durch zahlreiche Hinweise schon vorher zusammenreimen kann.
Interessant ist dass der titelgebende „ungeladene Gast“ im Singular steht während im englischen Original die „uninvited guests“ vermehrt im Titel stehen. Ich weiß nicht ob es die unterschiedlichen Sichtweisen von Autorin bzw. englischem Verlag und der deutschen Übersetzung zeigen soll, die einerseits die vielen Eindringline, anderseits den Einen als prominentestes Handlungselement sehen.
Ich fand dieses Buch hervorragend und kann es nur allen empfehlen, die symbolträchtige Lektüren, bizarre Handlungselemente und eine leichte Prise englischen schwarzen Humors bevorzugen.

Veröffentlicht am 06.09.2019

Lebendig-düsteres Spätmittelalter

Die Hurenkönigin (Die Hurenkönigin ermittelt 2)
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Ursula Neeb hat die Doppelbegabung, die Autoren von historischen Romanen zwingend benötigen damit ihre Romanstoffe lebendig werden und nicht zur drögen Geschichtsvorlesung oder zum unglaubwürdigen Spektakel ...

Ursula Neeb hat die Doppelbegabung, die Autoren von historischen Romanen zwingend benötigen damit ihre Romanstoffe lebendig werden und nicht zur drögen Geschichtsvorlesung oder zum unglaubwürdigen Spektakel verkommen: sie kann schreiben und sie kann recherchieren. Beide Talente führen in Vereinigung dazu, dass der Leser eine unterhaltsame, kurzweilige Lektüre erlebt und gleichzeitig faktisch etwas lernt.

Im Fall der „Hurenkönigin“ lernt der Leser vor allem etwas über den Umgang mit Prostitution im Frankfurt des frühen 16. Jahrhunderts. Es gibt eine Gildemeisterin der Huren, im Buch ist es Ursel Zimmer, die „Hurenkönigin“. Ihr untersteht das „Frauenhaus“, was in der damaligen Zeit nichts anderes als „Bordell“ bedeutete. Die Prostitution wurde als notwendiges Übel geduldet, gleichzeitig waren die Huren aber gesellschaftlich nicht anerkannt und mussten unter den „anständigen“ Leuten ein gelbes Schandgewand tragen. Bigotterie ist ein großes Thema dieses Buches, in dem es viel um falsche Vorstellungen von Moral und eine pervertierte Religiosität geht. Viel mehr will ich über die Handlung nicht verraten als: Ursel Zimmer, die zum Zeitpunkt der Handlung im Sommer 1511 seit 14 Jahren selbst keine „Hübscherin“ mehr ist, aber dem Hurenhaus als Ansprechpartnerin, Freundin und Arbeitsgeberin der Frauen vorsteht, bittet ihre Hure Rosi den letzten Freier des Tages noch anzunehmen bevor sie die verdiente Nachtruhe antritt. Rosi willigt ein – kurze Zeit später wird sie tot und verstümmelt aufgefunden. Die Zimmerin ist untröstlich und muss sich trotz dem Halt, den sie durch ihren Lebenspartner, den Privatgelehrten Bernhard von Wanebach und die anderen Huren erfährt mit der Wahrheit konfrontieren: ein verrückter Mörder bedroht die Frauen. Als noch andere Mädchen verschwinden und die „Lustseuche“ in Frankfurt umgreift steht ihr Etablissement vor dem Aus. Sie will den Mörder um jeden Preis finden.

Die Handlung ist kurzweilig und unterhaltsam, geht aber manchmal sehr an die Schmerzgrenze was Grausamkeit betrifft. Eigentlich nichts für mich, aber hier hat es hineingepasst und man hatte teilweise beim Lesen das Gefühl einen Film vor sich ablaufen zusehen. Die Handlung ist also sehr dramatisch angelegt. Auch der Vorgängerroman von Ursula Neeb, „Die Totenmagd“ kommt im Buch zur Sprache, leider wird ein bisschen zu sehr auf den Ausgang der Handlung von diesem Buch eingegangen, was für alle Leser die es noch nicht kennen natürlich schlecht ist. „Die Hurenkönigin“ und „Die Totenmagd“ spielen also chronologisch nacheinander im selben fiktionalen Universum.

Die Charakterzeichnung der Figuren fand ich sehr ansprechend: Ursel Zimmer ist einem durch ihre aufgeklärte, bodenständige und freundliche Art durchweg sympathisch, durch ihre Schwächen wird sie dreidimensional und menschlich. Die Widersacher und Täter werden durchweg durchtrieben dargestellt, was natürlich auch ins Bild passt.

Ursula Neeb ist eine sehr talentierte, bildgewaltige und realistisch erzählende Autorin, die ich sehr schätze und der ich es auch gerne mal verzeihe wenn die Handlung zu gruselige Züge annimmt.

Veröffentlicht am 06.09.2019

Großartiger Gesellschaftsroman

Kapital
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„Kapital“ kommt einem von seiner Struktur her vor wie einer der großen englischen Gesellschaftsromane. „Vanity Fair“ und andere sind von daher sicher als Vorbild für diesen „Wälzer“ zu sehen, der nichts ...

„Kapital“ kommt einem von seiner Struktur her vor wie einer der großen englischen Gesellschaftsromane. „Vanity Fair“ und andere sind von daher sicher als Vorbild für diesen „Wälzer“ zu sehen, der nichts anderes will als den Makrokosmos London anhand des Mikrokosmos „Pepys Road“ darstellen. Der Name ist natürlich symbolisch und eine Referenz an den großen Chronisten und Politiker Samuel Pepys, dessen Tagebuchaufzeichnungen unser Bild vom England des 17. Jahrhunderts entscheidend geprägt haben. Vielleicht versteht sich John Lancaster in seiner Tradition als Chronist der Londoner „Nuller-Jahre“, die mit der Finanzkrise eines ihrer großen Themen hatten, das sich bis in die Gegenwart zieht. Eine Straße namens „Pepys Road“ gibt es übrigens wirklich im Südwesten Londons.

Die Haupthandlung von „Kapital“ (im englischen „Capital“, was Hauptstadt bedeutet, gegenüber dem deutschen Titel also eine Bedeutungsverschiebung markiert) spielt zur Zeit der beginnenden Wirtschaftskrise, beginnend Dezember 2007-endend November 2008.
Wir lernen mehrere Menschen verschiedenen Alters und unterschiedlicher Herkunft kennen, die erst einmal nur eint, dass sie in der Südlondoner Straße „Pepys Road“ leben, arbeiten oder sonst mit ihr in Verbindung gebracht werden können.
Ihre Geschichten werden abwechselnd weitergesponnen und manche laufen über Kreuz. Da ist die zweiundachtzigjährige Frau Petunia Howe, die in der Pepys Road geboren wurde und vermutlich auch dort stirbt. Sie steht für die alten Werte, die Traditon, wenn man so will auch für das „alte Geld“, das nach und nach seine Kraft verliert und keine Relevanz mehr für die Zukunft hat. Ihre Familie lernen wir kennen, vor allem ihre Tochter Mary, die auf dem Land lebt und ihren Enkel Graham, der sein Geld als Künstler verdient. Dann gibt es die neureiche Familie Yount, bei der Roger Yount für den modernen kapitalistischen Aktienmenschen steht, der viel zu viel arbeitet, viel zu viel verdient und dennoch ein viel zu falsches Leben führt. Seine Frau Arabella ist sich trotz Hausfrauentums zu schade ihre zwei kleinen Söhne selbst aufzuziehen und gibt stattdessen das von Roger verdiente Geld mit vollen Händen für Botox, Fitesstrainer und Klamotten aus. Auch seine geschäftliche Umwelt wird präsentiert und mit ihr Neid- und Missgunst, die im Bankenwesen an der Tagesordnung sind (u.a. verkörpert von Mark, der sich für besser als Roger hält (es wahrscheinlich auch ist) und deshalb seinen Job will.)
Es gibt den jungen Fußballprofi aus Afrika, Freddy Kamo, der mit seinem Vater Patrick erst vor kurzem in die Straße gezogen ist. Außerdem gibt es den polnische Hilfsarbeiter Zbigniew, das ungarische Kindermädchen Matya und die afrikanische Politesse Quentina (die illegal in England ist), die pakistanische Verkäuferfamilie Kamal (drei Brüder, einer verheiratet mit zwei Kindern, die anderen beiden noch auf der Suche nach ihrem Platz im Leben), die sich in England etwas aufgebaut haben und doch immer wieder auf ihre Herkunft reduziert werden.
Zusammengenommen stehen alle für das weltoffene (manchmal mehr, manchmal weniger) England der Zuwanderung und des Multikulturalismus. Sie alle hoffen auf ein besseres Leben in dieser Milch-und-Honig-Stadt London. Ihr Problem ist die Diskrepanz zwischen Hoffnung auf eine Veränderung und Verzweiflung über die Entwurzelung und Heimatlosigkeit in der Fremde.
Dann gibt es da plötzlich eine namenlose Bedrohung, die alle betrifft und die sich sowohl real als auch im Medium Internet eine Plattform und damit Gehör verschafft: „Wir wollen was ihr habt“ – künstlerische Installation oder gieriges Symptom der Neidgesellschaft?

Geld spielt eine große Rolle im Roman, Gentrifizierung und Globalisierung sind die anderen großen Themen. Wo Menschen sind da ist auch Liebe, Tod und Hoffnung. Diese Eckpfeiler und Menschheitsthemen sind die Folie für „Kapital“ oder „Capital“, das von den neuen Themen so vereinnahmt wird dass die großen Fragen oft zu einer Nebensächlichkeit verkommen, aber sich natürlich nicht zurückdrücken lassen: trotz Finanzkrise und Immobilienmarkt: Liebe und Tod sind weiterhin das, was die Welt im Innersten zusammenhält – auch in der Pepys Road.

Das Buch hat einen erzählerischen Reichtum der in dieser Form seinesgleichen sucht. Er lebt vor allem von den Charakterschilderungen, die in ihrer Summe ein perfektes Panorama Londons und seiner Bewohner abgibt, die natürlich fiktiv sind, aber irgendwie für Typen stehen, die das Bild der englischen Hauptstadt genau so prägen.

Der Gesellschaftsroman – er ist wieder da! Aktuell, stark , erbarmungslos und unterhaltsam. So soll es sein!

Veröffentlicht am 06.09.2019

Frühneuzeitliches Roadmovie in Buchform

Das Sündenbuch
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Das frühneuzeitliche Europa des Jahres 1618 in dem der Roman „Das Sündenbuch“ spielt war eine Zeit der Umbrüche. Dank der Reformation haben sich einige Länder bereits vom „alten“ Glauben abgenabelt, in ...

Das frühneuzeitliche Europa des Jahres 1618 in dem der Roman „Das Sündenbuch“ spielt war eine Zeit der Umbrüche. Dank der Reformation haben sich einige Länder bereits vom „alten“ Glauben abgenabelt, in anderen schwelten die Konflikte. Prag ist auch so eine vom Glauben „entzweite“ Stadt gewesen. In dieser Stadt lebt die junge Jana, die – ungewöhnlich für diese Zeit – in der Apotheke ihres Onkels Karel eine Ausbildung machen darf. Dass der Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten zu einem vorläufigen Höhepunkt (mit dem Prager Fenstersturz im Mai 1618 als Auslöser des darauffolgenden Dreißigjährigen Krieges) gelangt ist wird im Buch deutlich. Der Religionskonflikt ist immer präsente Hintergrundhandlung, vor der sich das Schicksal Janas abspielt. Sie ist Protestantin, ihre Tante und zukünftige Schwiegermutter (sie soll ihren Sohn Tomek heiraten-was Jana überhaupt nicht behagt) Radomila setzt aber auf die Kaufkraft der katholischen Bevölkerung um die Apotheke wirtschaftlich über Wasser zu halten. Alle in der Handlung vorkommenden Figuren werden sofort mit dem Etikett „Katholik“ oder „Protestant“ versehen, erst nach und nach kommt ihr wahrer Charakter jenseits der Konfession zum Vorschein.
Während Jana in Prag ist lehrt ihr Vater Marek in Heidelberg an der Universität. Der Wissenschaftler bekommt von einem betrunkenen Seefahrer ein wertvolles Manuskript und ein dazugehöriges Amulett verkauft, welches angeblich mit einem Fluch belastet sein soll. Der Seefahrer stirbt und Marek studiert das Buch, will mehr erfahren und andere Wissenschaftler darüber in Kenntnis setzen. Auch Marek fällt dem „Fluch“ zum Opfer während das Buch und das Amulett auf dem Weg zu Jana nach Prag sind. Doch was soll eine junge Frau mit einem verklausulierten alten Buch anfangen, dessen Sprache und Information sie nicht versteht. Da kommt ihr der Arzt Doktor Conrad Pfeiffer aus Wien gerade recht: er soll ihr helfen zu entschlüsseln was es mit dem Buch auf sich hat…
Die weitere Handlung des Romans erinnert an ein Roadmovie in Buchform. Jana und Pfeiffer brechen zu einer abenteuerlichen Reise durch Tschechien, Deutschland, Spanien und Frankreich zu den Klöstern nach Dijon und Bordeaux auf, wo die beiden anderen Teile des Manuskripts angeblich aufbewahrt werden. Natürlich darf auch eine katholische Geheimgesellschaft nicht fehlen, die Jana und Pfeiffer das Leben schwer macht. Und zu allem Überfluss verfolgt sie auch noch Tomek mit seinem Freund, dem Jesuitenmönch Jendrik. Tomek will zurück was vermeintlich ihm gehört: seine Verlobte.
In dem Roman geht es im Wesentlichen um das Konfliktfeld Wissenschaft vs. Religion und das absolute Streitverhältnis in dem diese beiden Welterklärungsmodelle zur Zeit der frühen Neuzeit noch standen. Entweder man war gläubig oder dem – nach Ansicht der (katholischen) Kirche – Irrglauben Wissenschaft verfallen. Gott durch andere Erklärungsmuster infrage zustellen galt als Sünde und deswegen der Titel „Das Sündenbuch“. Nebenbei werden noch andere gesellschaftliche Themen wie Homosexualität, die Emanzipation der Frau, medizinische Versorgung etc. verarbeitet. Alles vor dem Hintergund dieser interessanten Umbruchszeit.
Beate Maly ist ein spannender historischer Wissenschaftsroman (Krimi oder Thriller wäre trotz einiger Toter doch wahrscheinlich die falsche Genrebezeichnung) gelungen, der vielleicht zum Schluss etwas zu theatralisch wird und dabei ein gewissermaßen offenes Ende hat. Der Weg ist in diesem Roman das Ziel, eine Botschaft die ja auch zum Thema der immerwährenden Suche nach Erkenntnis passt.

Veröffentlicht am 06.09.2019

Barocke Melancholie

Adieu, Sir Merivel
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Zunächst: „Adieu, Sir Merivel“ ist eine Fortsetzung. Die Geschichte des Arztes und Höflings Sir Robert Merivel beginnt bereits im Buch „Zeit der Sinnlichkeit“ (engl. „Restoration“). In dem gegenwärtigen ...

Zunächst: „Adieu, Sir Merivel“ ist eine Fortsetzung. Die Geschichte des Arztes und Höflings Sir Robert Merivel beginnt bereits im Buch „Zeit der Sinnlichkeit“ (engl. „Restoration“). In dem gegenwärtigen Buch ist vor allem die Rückschau auf sein Leben ein Thema (er schreibt seine Memoiren) und so erfährt der Leser gefiltert einiges, was wohl bereits im ersten Band thematisiert wurde.
Dieser historische Bekenntnisroman (wir haben einen Ich-Erzähler, dem wir quasi über die Schulter schauen können und der sein Leben vor uns ausbreitet) hat das Vermögen die Zeit in der er spielt auf besondere Weise lebendig werden zu lassen. Diese Zeit ist der englische (und französische) Barock: die Zeit des Sonnenkönigs Ludwig XIV. und von Charles II., jenem König, der nach dem englischen Bürgerkrieg („Interregnum“) und der Exekution seines Vaters Charles I. ab 1660 regieren durfte.
Den Roman durchweht das memento-mori-Gefühl jener barocken Epoche, die sich des Lebens so gefreut hat und dennoch immer mit dem Sterben konfrontiert wurde. Auch Merivel erlebt und erinnert sich an den Tod von Weggefährten, Patienten und Familienmitgliedern. Der Tod ist in der Mitte des Lebens angekommen und lauert stets auf der Schwelle – manchmal stellt er sich aber glücklicherweise „nur“ als Monarch heraus. Humor ist immer auch dort, wo Merivel ist: dem Tod die Zähne zeigen könnte sein Motto lauten. Das macht ihn so liebenswert und sympathisch, diesen weisen Tunichtgut Merivel, der das Leben so schätzt und verehrt wie manche königliche Mätresse und doch immer um seine Endlichkeit weiß.
So ist es auch die Leidenschaft, die den Endfünfziger in Gestalt der schönen (und auch schon nicht mehr ganz in der Blüte ihrer Jugend stehenden) Louise de Flamanville trifft wie zu seinen besten Zeiten. Ich finde diese Affäre der beiden anrührend wie das letzte Aufflammen der Liebe und Klammern an das Leben eben meistens ist.
Philosophische Gedanken durchziehen das Buch – solche über das Leben an sich und auch darüber, wie wir mit der Kreatur umgehen. Das Falkenmotiv ist hier der Bär, den Merivel in Versailles vor dem sicheren Tod rettet und nach England überschiffen lässt. Doch schafft er es ihn artgerecht zu halten und seiner tierischen Würde gerecht zu werden? Haben Tiere eine Seele und können wir nonverbal mit ihnen kommunizieren? Wie sehr soll der Mensch in die Natur eingreifen und was ist überhaupt Moral? Muss der König moralisch sein und ist sie nur dann angebracht wenn man von ihr profitiert?
Also ich muss sagen dass dies eben kein üblicher historischer Roman ist, wie ihn die Mehrheit vielleicht gerne hat sprich: mysteriöse Tode und der spannende Aufstieg und/oder Fall einfacher Menschen (meist Frauen). Dies ist eben kein Allerweltshistorienreißer, es geht hier um ein spezielles Milieu, nämlich das Adlige zur Zeit des endenden englischen und französischen Barock. Das Lebensgefühl einer ganzen Generation neigt sich dem Ende zu, ähnlich wie am Ende des 19. Jahrhunderts herrscht ennui und zurück bleiben vernachlässigte, gelangweilte Mätressen, an denen der stille Zahn der Zeit nagt und eben Merivel, der auf seinem englischen Landsitz nicht nur den Verfall seines langjährigen Dieners miterleben muss. Deshalb bricht er noch einmal auf, um seinem Geist und Körper neue Energie zu verschaffen. Dass dies manchmal derbe wird ist zeittypisch und wenn man die Klassiker von Laurence Sterne kennt auch nicht weiter verwunderlich.
Rose Tremain hat ein nachdenkliches Buch geschrieben über einen Mann, der auf sein Leben zurückblickt und es dennoch noch einmal wissen möchte. Ich finde das gut und habe es gern gelesen, auch wenn es eben nicht randvoll gepackt mit Spannung ist.