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Veröffentlicht am 14.02.2021

Multiperspektivisches Regionaldrama

Unter Wasser Nacht
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Zwei schon seit vielen Jahren befreundete junge Familien teilen sich im niedersächsischen Wendland ein Grundstück, auf dem ihre beiden Häuser stehen und eine gemeinsame Scheune: Sophie und Thies, Inga ...

Zwei schon seit vielen Jahren befreundete junge Familien teilen sich im niedersächsischen Wendland ein Grundstück, auf dem ihre beiden Häuser stehen und eine gemeinsame Scheune: Sophie und Thies, Inga und Bodo. Sie ziehen ihre Kinder Aaron, Lasse und Jella groß und kämpfen gemeinsam gegen Atomkraft und den Standort Gorleben. Dann stirbt der zehnjährige Aaron, das einzige Kind von Sophie und Thies, in der nahegelegenen Elbe. Für die eine Familie geht alles weiter wie bisher, das Leben der anderen ist zerstört. Das vermeintlich perfekte Leben von Bodo, Inga und ihren Kindern wird für Sophie und Thies zum unerträglichen Schaubild ihres eigenen zerstörten Glücks. Die friedliche Koexistenz der beiden Familien steht auf dem Spiel - und dann taucht auch noch die geheimnisvolle Fremde Mara im Dorf auf.

Die Handlung des Romans spielt 13 Monate nach dem tragischen Tod Aarons in der Elbe. Die einstmals befreundeten Ehepaare sind sich untereinander fremd geworden und auch intern kriselt es, zumindest zwischen Sophie und Thies. Die beiden kommen mit dem schweren Verlust nicht zurecht und versuchen ihn auf unterschiedliche Weise zu kompensieren. Nach und nach kommt ans Licht, dass Aaron ein sehr aggressives, schwieriges Kind war und Sophie und Thies mit ihrem Latein was den Umgang mit ihm betrifft, am Ende waren, als Aaron den Unfall hatte. Hauff beschreibt die Hilflosigkeit von Eltern, deren Kind nicht nur nicht den Idealvorstellungen entspricht, sondern auch noch vehement subversiv und aggressiv agiert und sich entgegen den gesellschaftlichen Normen und Gepflogenheiten verhält. Die Verzweiflung war sehr nachvollziehbar und eindringlich beschrieben, allerdings hat mich die Auflösung und Aufarbeitung des Themas dann etwas enttäuscht zurückgelassen. Die Geschichte um Mara drängt sich nämlich zum Ende hin in den Vordergrund, obwohl das Verschwinden Aarons meines Erachtens im Mittelpunkt stehen sollte.

Das Geschehen wird aus der Sicht von sechs verschiedenen Personen geschildert. Will man konsequent multiperspektivisch erzählen, muss man die einzelnen Point-of-View-Stimmen sehr akzentuieren, damit der Leser gut differenzieren kann. Hier ist dies meines Erachtens sehr gut umgesetzt worden und es hat dem Roman letztlich auch 4 Sterne eingebracht. Kristina Hauff versteht es ausgezeichnet, die angespannte Dynamik zwischen den Figuren spürbar werden zu lassen. Der Leser ist ständig auf der Hut und gespannt zu erfahren, welcher brodelnde Vulkan als nächstes eruptiert. Es ist spannend wie ein Krimi in die Gedankenwelt der einzelnen Personen abzutauchen und ihre Vorurteile und Verdächtigungen ungefiltert vermittelt zu bekommen.

Ein Plus ist dann auch noch die besonders atmosphärische Schreibweise, die das mir bislang sowohl in Natura als auch in der Fiktion unbekannte Wendland lebendig werden ließ. Auf fast jeder Seite wird ein Stück Flora und Fauna dieses idyllischen Landstrichs beschrieben.

Meine Hauptkritik betrifft die Unstimmigkeiten und Fehler im Text. Am Anfang heißt es auf Seite 53 über den Abend, an dem Aaron verschwand, es wäre "viel zu warm für Mitte April" gewesen, weswegen Sophie und Thies das erste Mal im Jahr im Freien zu Abend gegessen haben. Später wird dann gesagt es wäre der 3. April gewesen, was ja eher Anfang April ist (siehe S. 155). Auf S. 202 heißt es dann über den Tag des Verschwindens: "Der Wind blies zu kalt für Anfang April." Also da war es dann Anfang April und kalt und nicht wie Sophie vorne sagt Mitte April und warm. Auch verschwand Ulrich wohl eher zu seinen Hausbesetzerfreunden als zu seinen "Hausbesitzerfreunden" (S. 228). Fehlerhafter bzw. holpriger Satzbau ist mir hier aufgefallen: "[...]für die Erziehung zuständig war, die Strenge sein musste", S. 230. An diesen Stellen hat meines Erachtens das Lektorat nicht richtig funktioniert. Ich habe aber das Gefühl dass mir noch einige andere Ausrutscher entgangen sind. Es hat mich außerdem gestört dass nie gesagt wird, wie alt genau Sophie ist, obwohl es eigentlich relevant ist. Es wird nur gesagt sie sei ein paar Jahre jünger als Mara (49), aber sie könnte im Gegensatz zu ihr noch Kinder bekommen. Man könnte ja auch einfach schreiben, wie alt sie denn tatsächlich ist.

Ansonsten ist "Unter Wasser Nacht" ein gut konstruierter, spannender Roman über eine trügerische Idylle und die unsichtbaren Päckchen, die wir alle auf dem Rücken tragen, den ich mir auch gut als TV-Drama vorstellen könnte.

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Veröffentlicht am 11.02.2021

Misogynie am Pranger

Kim Jiyoung, geboren 1982
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Wenn man dieses Buch gelesen hat, muss man erst einmal tief durchatmen. Ich denke die Geschichte von Kim Jiyoung sollte allen nahegehen, und zwar egal, welchem Geschlecht, welcher Nationalität, ...

Wenn man dieses Buch gelesen hat, muss man erst einmal tief durchatmen. Ich denke die Geschichte von Kim Jiyoung sollte allen nahegehen, und zwar egal, welchem Geschlecht, welcher Nationalität, welcher Generation oder sexuellen Orientierung man angehört. Nüchtern und scheinbar ganz ohne Emotionen wird die Lebensgeschichte der koreanischen "Jederfrau" Kim Jiyoung erzählt. Ich sage scheinbar, denn zwischen den nahezu im Berichtsstil verfassten prosaischen Zeilen steckt ganz viel Wut gegen das Patriarchat und die koreanische Gesellschaft, die sich ihre misogyne Grundeinstellung über die Jahre selbst herangezüchtet hat. Man braucht hier kein Pathos und keine sprachliche Verkünstelung seitens der Erzählstimme, denn die harten Fakten sprechen ihre eigene traurige und überaus bewegende Sprache.

Die Diskriminierung, die Frauen in Korea - hier eben das Beispielland, obwohl es in vielen anderen Ländern der Welt ähnlich ist - erfahren haben und immer noch erfahren, ist eine systematische und sie beginnt bereits bei der Geburt. Ein Sohn ist mehr wert als eine Tochter in Korea, auch heute noch. Wenn das Mädchen es aber dann doch geschafft hat geboren und nicht aufgrund seines Geschlechts "beseitigt" zu werden, erfährt es schon recht früh, dass ein Bruder - egal ob jünger oder älter - privilegiert behandelt wird. Und so geht es weiter über die Schulzeit bis ins Studium und schließlich hinein in die Berufswelt, in die es nur die wenigsten Frauen schaffen aufgenommen zu werden - egal ob sie eine bessere Ausbildung genossen oder bessere Noten hatten als gleichaltrige Männer. Und letztlich wird die Kinderfrage zur Gretchenfrage der modernen koreanischen Frau: Welche Form der Vereinbarung von Beruf und Familie will man leben? Darf man in den Augen der Gesellschaft überhaupt "nur" Mutter sein?

Anhand der Biografie von Jiyoung werden all diese Ungerechtigkeiten und misogynen Akte - institutionalisierte und erlernte - aufgezeigt. Ob es die sexuelle Übergriffigkeit ist, dumme Sprüche und Wertungen ihres Lebensstils durch Fremde oder die generelle Bevorzugung von Männern in allen Lebensbereichen. Es ist nicht so, dass die Autorin nicht auch die kleinen Fortschritte nennen würde, die die Gesellschaft seit den frühen 1980er Jahren hinsichtlich einer gendergerechteren Welt gemacht hätte. Sie weist auch darauf hin, dass es durchaus Männer gibt, die berufstätige, selbstbewusste Frauen feiern, statt ihnen Steine in den Weg zu legen. Einer dieser "Ausnahme-Männer" ist u.a. Jiyoungs Ehemann Chong Daehyon, der sich um seine Frau sorgt, als sich bei ihr Anzeichen einer psychischen Krankheit auftun. Wie auch im echten Leben ist eben nicht alles negativ, nicht jedes männliche Wesen ein Fall für #metoo und gerade diese Nicht-Schwarzweißmalerei macht das Buch so authentisch.

Trotz aller kleinen gesellschaftlichen Fortschritte, die im Laufe von Jiyoungs bisherigem Leben in Richtung Gendergerechtigkeit gemacht wurden, bleibt das meiste nur oberflächliche Augenwischerei. Im Kern haben es Frauen vor allem im Berufsleben damals wie heute schwerer und Korea ist gar das Land mit dem größten Lohngefälle zwischen Männern und Frauen unter den OECD-Mitgliedsstaaten, wie auf Seite 144f. zu lesen ist. Nam-Joo unterfüttert ihren fiktiven Bericht mit Fußnoten bzw. Fakten aus sozialwissenschaftlichen und journalistischen Publikationen, die sich mit der koreanischen Gesellschaft auseinandersetzen.

Ich möchte auch der Übersetzerin Ki-Hyang Lee ein großes Lob aussprechen. Natürlich kenne ich das koreanische Original nicht, aber die deutsche Übersetzung liest sich sehr gut und man bekommt ein Gefühl für das Erzähltempo und die sprachliche Ausrichtung des Originals.

Auch ich bin 1982 geboren und konnte mich aufgrund der zeitlichen Koinzidenz der Lebensstationen sehr gut mit Jiyoung identifizieren. Ich habe das Buch innerhalb von zwei Tagen durchgelesen, weil ich einfach so gebannt von dieser in vielen Punkten "alltäglichen" Geschichte war. Ein Lese-Muss für alle, die an Feminismus und einem aufgeklärten gesellschaftlichen Diskurs interessiert sind.

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Veröffentlicht am 06.02.2021

Düsterer Roman mit starken Naturbeschreibungen

Tiger
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Raubkatzen faszinieren seit jeher den Menschen. Auch einige Künstler und Schriftsteller konnten sich der Faszination, die die erhabenen Jäger ausstrahlen, nicht entziehen und setzten ihnen mit ihren Bildern ...

Raubkatzen faszinieren seit jeher den Menschen. Auch einige Künstler und Schriftsteller konnten sich der Faszination, die die erhabenen Jäger ausstrahlen, nicht entziehen und setzten ihnen mit ihren Bildern und Worten ein Denkmal. Man denke nur an den eckigen gelben Tiger von Franz Marc, Rainer Maria Rilkes Gedicht "Der Panther" oder an Giuseppe Tomasi di Lampedusas einzigen Roman "Der Leopard", in dem der gepunkteten Raubkatze aber als Wappentier des Fürsten nur eine symbolische Rolle zuteil wird. Nun also Polly Clarks "Tiger", ein wilder Roman über das gespaltene Verhältnis zwischen Mensch und Tier, zwischen Kultur und Natur. Es geht für mich vor allem darum, welchen Preis der Mensch zahlen muss, wenn er sich ganz auf die Natur und die Gefahren, die in ihr lauern, einlassen möchte bzw. muss.
Der Roman besteht aus mehreren Erzählsträngen, in der das Geschehen aus der Perspektive von verschieden Protagonisten wiedergegeben wird. Sie alle haben etwas mit den Amur-Tigern aus der Sibirischen Taiga zu tun, die die eigentlichen “Stars” dieses “Natur-Romans” sind. "Tiger" ist wie das titelgebende Tier: anmutig, roh, archaisch, ernst und "in your face".
Die erste Protagonistin ist die englische Primatenforscherin Dr. Frieda Bloom. Die Biografie der jungen Frau Anfang dreißig ist geprägt von Brüchen und Schicksalsschlägen. Weil sie Drogen zur Bekämpfung ihrer zahlreichen Traumata nimmt, verliert sie ihren Job an einem Londoner Forschungsinstitut. Sie bekommt eine neue Chance an einem Privatzoo in Devon, wo sie ihre Nemesis in Form des Zoogründer-Sohnes Gabriel trifft. Die Begegnung mit dem Tiger Luna ist der Mittelpunkt der Geschichte, die abrupt endet und erst zum Ende des Romans wieder aufgegriffen wird. Ich fand Friedas Verhalten teilweise sehr befremdlich. Ich weiß nicht ob ihre Denkweise der einer drogenabhängigen Person entspricht, aber sie kommt für eine promovierte Biologin stellenweise sehr naiv und fatalistisch rüber. Überhaupt ist die Geschichte, die hier erzählt wird, sehr destruktiv und negativ, aber ohne dass sie mich berührt hätte.
Ganz anders hingegen die zweite Geschichte rund um Tomas, die durchaus Potenzial zur Einfühlung durch de Leser hat. Abgeschieden von der Zivilisation lebt der 41-jährige Jäger ein karges Dasein in den Wäldern der russischen Taiga. Zusammen mit seinem Vater Iwan, anderen Jägern und Holzfällern lebt er in einem Camp bzw. Naturreservat am Rande des Wades. Er und seine Kollegen haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Tiger der russischen Taiga vor Wilderern zu schützen und erhoffen sich durch ihr Engagement das Prädikat “Tigerreservat” und dadurch Unterstützung vom russischen Staat zu bekommen. Tomas hat eine schwierige Beziehung zu seinem narzisstischen Vater Iwan. Tomas' Mutter starb, als er 10 war, von seinem Vater Iwan wurde er verprügelt und mit Verachtung gestraft, wenn ihm etwas missfiel. Nichtsdestotrotz verschaffte Tomas seinem damals arbeitslosen Vater eine Position in seinem Waldarbeiter-Lager, wo dieser schnell zum Chef aufsteigt. Immer wieder reflektiert Iwan, ganz allein in der Natur, seine eigene Vergangenheit, die ihn belastende Familienlosigkeit, das toxische Verhältnis zu seinem Vater und die gescheiterte Beziehung zu seiner großen Liebe Marta. Auch ihn wird eine Begegnung mit einem Tiger - und einem Menschen - aus der Bahn werfen.
Der dritte Teil kommt sehr märchenhaft daher. Es war einmal eine sibirische Indigene aus dem Volk der Udehe namens Edit, die verließ das Dorf, in das sie zugezogen war und ihren Alkoholkranken Mann Wasili und zog mit ihrer kleinen Tochter Sina in eine Hütte in den Wäldern. Dort sahen die beiden jahrelang keine Menschenseele, sie lebten von den Früchten und Tieren des Waldes. Bis sie eines Tages beschlossen, ihr Eremitendasein zu beenden und dabei auf einen Tiger und seine Jungen trafen, deren Sicht im vierten Teil des Romans aufgenommen wird.
Alle drei Handlungsstränge mit den menschlichen Protagonisten sind ziemlich starker Tobak und für meinen Geschmack viel zu dramatisch. Man könnte meinen die Autorin hat alles, was es an Leid und Elend in einem Menschenleben geben kann, in ihren Roman gepackt und an ihre Protagonisten ausgeteilt: Drogensucht, toxische Beziehungen, Narzissmus, rohe Gewalt, unberechenbare Natur, Depression, Abtreibung, Alkoholismus, Vergewaltigung, Hunger, Krankheit und Tod. Nicht mal ein bisschen, ein kleines bisschen Leichtigkeit oder Positivität ist in all dem zu finden. Erst am Ende, dort, wo alle Erzählstränge zusammenlaufen, darf der Leser/die Leserin aufatmen: Ein Licht am Ende des langen dunklen Tunnels.
In Clarks Prosa blitzen zuweilen sehr poetische Momente auf. Wie sie die Erhabenheit der Natur beschreibt ist ihre große Stärke. Man merkt, dass die Autorin eigentlich Lyrikerin ist und im dichterischen Schreiben mehr zu Hause als in der Roman-Schriftstellerei. Sie kann Momentaufnahmen sprachlich einfangen und sie wie in einem Gemälde oder Foto festhalten. Weil die lyrischen Momente mit ihren starken Naturbeschreibungen über die Schwächen im Plot, die erzählerische Überdramatisierung und das gelegentlich angewandte Pathos hinwegtrösten und man wirklich viel über die Amur-Tiger und ihren bedrohten Lebensraum in der sibirischen Taiga erfährt, bekommt der Roman als Gesamtpaket von mir noch knappe 4 Sterne.

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Veröffentlicht am 30.01.2021

Ratgeber für "unsichere" Eltern

Der Elternkompass
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Nachdem ich neulich bereits “Mein Familienkompass” von Nora Imlau gelesen und für sehr gut befunden habe, musste ich natürlich den vom Titel recht ähnlichen “Elternkompass” von Nicola Schmidt ...

Nachdem ich neulich bereits “Mein Familienkompass” von Nora Imlau gelesen und für sehr gut befunden habe, musste ich natürlich den vom Titel recht ähnlichen “Elternkompass” von Nicola Schmidt ins Auge fassen. Die beiden Autorinnen kennen und schätzen sich und haben sich bereits in einem Gespräch in den sozialen Medien zu ihren jeweiligen “Kompassen” geäußert. Ob man beide braucht bzw. gelesen haben muss? Diese Frage habe ich mir gestellt und ich kann sagen: Ja, sicherlich haben beide Bücher ihre Berechtigung - allerdings mit Einschränkungen.
In “Der Elternkompass” geht es Nicola Schmidt vor allem darum, Eltern ihre Unsicherheit zu nehmen angesichts der Fülle von Informationen, die auf sie einprasseln. Bei der “Erziehung” eines Kindes wollen alle mitreden: Kita/Kindergarten/Schule, Großeltern, die Eltern der anderen Kinder, die Medien, die Wissenschaft. Wie soll man sich als Eltern selbst eine Meinung bilden? Die Autorin ist der Meinung, man solle mit mehr Gelassenheit an das Projekt Elternsein herangehen und gerne - wenn schon - wissenschaftliche Daten und Fakten zur Absicherung bei Unsicherheiten heranziehen. Ansonsten hilft der Bauch und der gesunde Menschenverstand.
Zunächst geht Schmidt auf die Basis der Elternschaft ein, nämlich die "Achtsamkeit". Wir sollen unseren Kindern eine von Respekt und gegenseitigen Verständnis geprägte Kindheit ermöglichen. Darauf fußt ein funktionierendes Eltern-Kind-Miteinander.
Schmidt nimmt dann den/die Leserin an die Hand und geht die Eltern-Werdung von Anfang an durch: Von Schwangerschaft/Stillzeit über Kleinkindalter bis zur Grundschule. Weiter in der Entwicklung des Kindes geht sie nicht, was etwas schade ist.
Schmidt nimmt die Fragen, die sich vermutlich alle Eltern stellen und versucht sie möglichst wissenschaftlich unterfüttert zu beantworten. Wirkt sich Stillen wirklich auf den IQ meines Kindes und seine spätere Berufswahl aus? Ist Loben zurecht in Verruf geraten oder kommt es einfach auf das "Wie" an? Schmidt schaut sich die Studien an und kommt zu einem Ergebnis, das in den meisten Fällen eine Tendenz darstellt: eher ja oder eher nein. Dem Buch ist dementsprechend auch ein langes Literatur- und Quellenverzeichnis angefügt. Wer möchte kann sich also eingehender mit dem Thema beschäftigen, das ihn gerade interessiert.
Dies ist ein Ratgeber, den die Zielgruppe wahrscheinlich nur punktuell konsumieren wird, anstatt ihn von vorne bis hinten durchzuarbeiten. Die frischgebackenen Eltern eines Neugeborenen werden nicht die Zeit und Muße dazu haben nachzulesen, wie ich Grundschulkindern friedliche Konfliktlösung nahebringe. Umgekehrt werden sich die Eltern, die bereits mit dem letzten Kind durch die Autonomiephase durch sind, nicht noch mal mit Baby's Schlaf beschäftigen wollen.
Trotz aller postulierten Wissenschaftlichkeit ist mir der Ratgeber in manchen Dingen dennoch zu subjektiv gefärbt. Man kann zu vielen Themen ganz klar die persönliche Meinung der Autorin durchhören. In dieser Beziehung hat mir "Mein Familienkompass" von Nora Imlau ein klein wenig besser gefallen, denn der hat schon im Titel die subjektive Komponente und dennoch wird die Wissenschaft auch immer wieder herangezogen.
Dennoch ist dies ein guter Ratgeber für alle Eltern, die sich bei vielem unsicher sind und wollen, dass ihnen die Angst genommen wird. Ich empfehle bei Interesse die Anschaffung direkt in der Schwangerschaft bzw. Babyzeit.


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Veröffentlicht am 27.01.2021

Die Leiden des jungen Timurs

Die Erfindung des Dosenöffners
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Eine westfälische Kleinstadt unserer Gegenwart: Der frische “Twen” Timur Aslan hat es nicht leicht. Der zwanzigjährige Deutschtürke möchte Journalist im großen Stil werden, sitzt aber in der ...

Eine westfälische Kleinstadt unserer Gegenwart: Der frische “Twen” Timur Aslan hat es nicht leicht. Der zwanzigjährige Deutschtürke möchte Journalist im großen Stil werden, sitzt aber in der Lokalredaktion des "Westfälischen Anzeigers" fest, das Volontariat in der Hauptredaktion in der benachbarten größeren Stadt scheint unerreichbar. Eine große Story muss her, um seinem langweiligen Heimatort Steinfeld und dem Elternhaus, das nach dem Tod der Mutter nur noch aus ihm und seinem nach Autos verrückten Vater besteht, den Rücken zu kehren. Die Geschichte der Seniorin Annette, die von sich behauptet den Dosenöffner erfunden zu haben, soll sein Sprungbrett werden. Doch ihre Begegnung mit der älteren Dame löst etwas in Timur aus und er wird nachdenklich: Ist beruflicher Erfolg wirklich alles im Leben?

Die Probleme, die ein junger Mensch Anfang zwanzig in unserer modernen Welt der unendlichen Möglichkeiten hat, werden anhand des Protagonisten Timur exemplarisch dargestellt. Er stellt sich die Frage, die sich wahrscheinlich fast alle seiner Altersgenossen stellen: Wohin mit mir und meinen Fähigkeiten und was sind diese überhaupt? Der selbstverständliche Umgang mit den sozialen Medien und die das Selbstbewusstsein - vor allem junger Menschen - gefährdende Eigenschaft derselben werden im Roman thematisiert. Das vermeintlich perfekte Leben der anderen wird zum Richtschwert des eigenen kümmerlichen Daseins. Timur wird im Laufe der Handlung feststellen, dass nicht alles echtes Gold ist, was in den sozialen Medien so vor sich hin glänzt.

Humortechnisch hat mir der Einstieg in das Buch sehr gut gefallen. Wie der Alltag in der kleinen Redaktion beschrieben wurde und die Daseinsberechtigung des Lokaljournalismus, die auf tönernen Füßen steht, das hat bei mir für einige Schmunzler gesorgt. Auf die Dauer der Handlung hin gesehen konnte das Buch aber meines Erachtens den Humor-Standard des Anfangs nicht halten. Überhaupt plätscherte die Handlung vor sich hin und blieb an einigen Punkten sehr vage. Ich mag es zum Beispiel überhaupt nicht, wenn in einem Roman nicht erwähnt wird welchen Monat oder zumindest welche Jahreszeit wir haben. Aber das ist vielleicht ein persönlicher Spleen von mir. Der groß angekündigte Roadtrip mit Annette war eher ein “Tripchen”. Wobei wenn ich gewusst hätte, dass es in diesem Buch wieder einen “generationenübergreifenen Roadtrip” gibt, hätte ich es nicht gelesen. Das Thema ist nämlich für mein Empfinden ausgelutscht bis zum Gehtnichtmehr.

Man sollte dieses Buch also lesen, wenn…

...man Anfang 20 ist und auf Sinnsuche
...man beim Plot-Element "generationenübergreifende Freundschaft mit Roadtrip" leuchtende Augen bekommt und das Buch "Marianengraben" mochte
...man schon immer mal mehr über Lokaljournalismus wissen wollte
…man sich für die Entstehungsgeschichte des Dosenöffners und seine Unterarten interessiert
...man ein(e) Bekannte(r)/Freund(in)/Verwandte(r) des Autors ist (ich beziehe mich hier auf eine Szene im Buch, in der Timur behauptet dass nur obige Bezugspersonen einer Person, die in einem lokaljournalistischen Zeitungsartikel vorkommt, diesen lesen würden)
...man auf den Humor des Autors steht

Aus allen anderen Gründen würde ich die Lektüre von "Die Erfindung des Dosenöffners" getrost anderen überlassen.

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