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Veröffentlicht am 04.01.2021

Das Drama des modernen (Herr-)Mann(e)s

Herrmann
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Das Drama einer Existenz in der österreichischen Provinz hat keiner so gut beschrieben wie Thomas Bernhard. Da er aber ja nun mal leider tot ist, müssen andere diese "Lächerlichkeit", wie er gesagt hätte, ...

Das Drama einer Existenz in der österreichischen Provinz hat keiner so gut beschrieben wie Thomas Bernhard. Da er aber ja nun mal leider tot ist, müssen andere diese "Lächerlichkeit", wie er gesagt hätte, fortschreiben. Bettina Gärtner ist kein Thomas Bernhard, aber sie hat es mit "Herrmann" geschafft, ganz tief in das menschliche Drama der österreichischen Provinzialität einzutauchen. Es ist eine moderne Tragikomödie in Romanform, die Gärtner hier abliefert. Herrmann ist Pendler, zerrissen zwischen langweiligem Bürojob in der Finanzbranche in der Bundeshauptstadt und kümmerlichem Privatleben als Single in seinem dörflichen Heimatort. Letzteres besteht im Wesentlichen aus der vom - kurz vor Beginn der Handlung verstorbenen - Vater geerbten Jagdhundezucht, seinem Jagdrevier, der freiwilligen Feuerwehr und dem Rest seiner Herkunftsfamilie, bestehend aus der bald vierzigjährigen Schwester Lindi, die nach Trennung von ihrem Freund Anselm "vorübergehend" wieder zu Hause eingezogen ist, und der Mutter, einer pensionierten Lehrerin. Als Herrmanns Jugendfreund Orban aus England zurückkehrt, ist es mit der Lethargie in Herrmanns Leben vorbei. Die Vergangenheit holt den Mittvierziger ein und wir erleben eine Woche in Herrmanns Leben, die selbiges auf den Kopf stellen wird.
Gärtner hält der entmenschlichten Business-Gesellschaft unserer Gegenwart einen Spiegel vor. Sie beschreibt nuanciert und mit stets ironischem Unterton die Banalitäten eines Büroarbeitstages, die intriganten Strukturen der heutigen Berufswelt und die ermüdende Pendelei hin und zurück zum Arbeitsplatz (erst mit dem Auto zum Park-and-Ride am Bahnhof der Bezirkshauptstadt, dann mit der Schnellbahn in die Bundeshauptstadt bzw. vice versa).
In "Herrmann" geht es aber auch um das Private und damit vor allem um die Vergangenheitsbewältigung des namensgebenden Protagonisten. Er sinniert darüber nach, warum die Beziehung zu seiner Lebensgefährtin Rieke in die Brüche ging, wie die enge Freundschaft zu Orban scheiterte und über andere vergangene Ereignisse, die ihn geprägt haben. "Die meisten Vorboten erkennt man erst im Nachhinein" (S. 157) heißt eine Sentenz im Buch. Überhaupt wird viel mit Worten, mit Redewendungen gespielt - was ist die eigentliche Bedeutung einer dahingeworfenen Aussage, einer gern verwendeten Floskel. Sowas gefällt mir sehr, wenn ein Text sich stets selbst reflektiert und sich seiner Wortwahl mehr als bewusst ist. Die pseudo-lexikalischen Zwischenkapitel, in denen in der Handlung erwähnte wichtige Begriffe erklärt werden, sind ein Teil dieser metafiktionalen Komponente des Romans.
Herrmann ist ein klassischer Antiheld, ein unscheinbarer Jedermann, der sich nur in Bezug auf andere definiert - seine Mutter, Schwester, den verstorbenen Vater, seine Arbeitskollegen, seine Lehrer, seinen ehemaligen Freund Orban, etc. - und dabei gar nicht so genau weiß, wer er selbst eigentlich ist ("Er hätte gern gewusst, was er wollte…", S. 275). Dazu kommt noch sein Status als Single und Mann in der Midlife-Crisis, der endlich mal etwas für seine Gesundheit und gegen die späte Familienlosigkeit tun sollte. Der soziale Druck aber führt bei Hermann erst recht zu Angstzuständen, Depressionen und Tagträumen, die er aber so gut es geht unterdrückt. Der Vorname Herrmann setzt sich aus zwei Begriffen zusammen, die beide Mann bezeichnen - semiotisch clever, denn die Ironie des Ganzen ist, dass der männliche Hermann gnadenlos an den Anforderungen scheitert, die die Gesellschfat an den modernen Mann von heute stellt.
Bettina Gärtner ist mit "Herrmann" eine absolut grandios geschriebene Chronik eines scheiternden Mittvierzigers gelungen. Ein wunderbar feinsinniger und gescheiter Roman des Jahres 2020, der viel mehr Beachtung und LeserInnen verdient hätte.

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Veröffentlicht am 28.12.2020

Intimer Blick ins Familienalbum

Die Bagage
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Monika Helfer erzählt in "Die Bagage" nichts weniger als die Geschichte ihrer Existenz, die sie wie jeder andere Mensch auch ihren Ahnen zu verdanken hat. Dafür blickt sie - durch die literarische Brille ...

Monika Helfer erzählt in "Die Bagage" nichts weniger als die Geschichte ihrer Existenz, die sie wie jeder andere Mensch auch ihren Ahnen zu verdanken hat. Dafür blickt sie - durch die literarische Brille der Erzählerin (die aber mit der Autorin gleichzusetzen ist) quasi ins orale Erinnerungsalbum ihrer Herkunftsfamilie. Dieses setzt sich aus Geschichten zusammen, die ihr ihre hochbetagte Tante Kathe kurz vor ihrem Tod erzählte. Sie fügt die Geschichten in "Die Bagage" zu einem Ganzen zusammen. Sie erzählt, wie sie es erzählt bekommen hat, versucht aber die Lücken in der Überlieferung, also die Ereignisse, die Kathe nur indirekt mitbekommen hat, mit ihrer eigenen Vorstellungskraft zu schließen, sie literarisch zu verfeinern. Und doch bleiben bei ihr am Ende noch Fragen offen, wie zum Beispiel: "Warum haben sich meine Leute immer absichtlich abgesondert? Warum?"

Die Geschichte beginnt kurz vor der Zeugung der Großmutter der Erzählerin im Spätsommer 1914, irgendwo in einem kleinen Dorf in Österreich. Kennt man die Biografie der Autorin, kann man sich das Dorf und das Bundesland erschließen, für die Geschichte aber ist der Name des Ortes nicht relevant. Es könnte jedes kleine österreichische Dorf sein und die Familie jede arme Familie im Jahr 1914, ist es aber nicht. Es geht um die Familie Moosbrugger, vor allem um die Mutter, die schöne Maria, ihren Mann Josef und die zunächst vier gemeinsamen Kinder: Hermann, Katharina, Lorenz und Walter. Josef wird im September 1914 in den 1. Weltkrieg eingezogen. Der Bürgermeister soll "ein Auge" auf die Familie haben, während der Vater im Krieg ist. Als er Maria auf einen Markt in die nächst größere Stadt mitnimmt, lernt diese dort den Deutschen Georg kennen. Sie verliebt sich in ihn und er in sie, aber es bleibt eine kurze, nicht lebbare Liebe. Josef darf gelegentlich für kurze Zeit auf Heimaturlaub. Bei einem dieser Urlaube wird Grete gezeugt. Die Gerüchte über Maria und den Deutschen erreichen auch Josef und dieser hegt einen schlimmen Verdacht….

Gut gefallen hat mir, dass Monika Helfer ihre Figuren nicht nur als arm und von Geburt an determiniert darstellt, sondern als Menschen aus Fleisch und Blut, die menschliche Bedürfnisse, ganz eigene Vorstellungen vom Glück und Träume haben. Dass diese meist an der Realität scheitern, ist die Tragik des Menschseins und das strahlt diese Geschichte für mich aus. Dennoch ist sie nicht fatalistisch und die Figuren bemitleiden sich nicht selbst (bis auf den Bürgermeister vielleicht).

Die große Frage des Romans ist im Grunde auch die nach der eigenen Verortung in der Genealogie einer Familie. An einer Stelle fragt sich die Erzählerin nämlich, wo "die Bagage" denn enden würde und ob sie selbst überhaupt noch dazugehöre bzw. ihre Familie, ihre Kinder und ihr Mann. Zieht sich ein roter Faden durch die Geschichte einer Familie, deren Teil man für alle Zeiten bleibt oder muss man sich selbst als eigene Bagage begreifen und seine selbst gegründete Familie als von der Vergangenheit unabhängig begreifen?

Obwohl Helfer ihre Figuren sehr profiliert darstellt und man sich ein genaues Bild der unterschiedlichen Charaktere machen kann, bleibt zwischen den Figuren und dem Leser eine gewisse Distanz. Es ist als würde man das Fotoalbum einer anderen Familie ansehen, nicht der eigenen. Man findet vieles interessant, hat Fragen, aber das Interesse bleibt oberflächlich und man hat das dumpfe Gefühl, dass einen diese intime Geschichte einer anderen Familie doch eigentlich nichts angeht. Dennoch möchte ich sagen, dass "Die Bagage" ein sehr fein gezeichnetes Zeitgemälde der bäuerlichen Lebenswelt des frühen 19. Jahrhunderts ist, rustikal erzählt und mit einem gewissen spröden Charme.

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Veröffentlicht am 19.12.2020

Die Bodleian Library als Tatort

Inspector Swanson und die Bibliothek des Todes
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Abgesehen von der Tatsache, dass historische Krimis mit Setting England bzw. Großbritannien genau mein Ding sind, hat mich das Buch mit zwei Versprechen geködert: 1. Es sollte um Oscar Wilde gehen. 2. ...

Abgesehen von der Tatsache, dass historische Krimis mit Setting England bzw. Großbritannien genau mein Ding sind, hat mich das Buch mit zwei Versprechen geködert: 1. Es sollte um Oscar Wilde gehen. 2. Der Mord sollte in einer Bibliothek stattfinden. Beide Versprechen wurden eingelöst, wobei es wirklich nur am Rande um Oscar Wilde geht. Der Prozess, den der populäre Dandy, Schriftsteller und Wortakrobat angesichts der Beleidigungen des Marquess of Queensberry führte und der schließlich darin resultierte, dass Wilde ins Gefängnis musste, bildet die Rahmenhandlung dieses Krimis. Der fiktive Ermittler, Chief Inspector Swanson, ist nämlich privat mit Wilde befreundet. Dies ist bereits der siebte Band der Reihe, aber der erste, den ich lese, aber es wird angedeutet, dass Oscar Wilde bereits in den Fällen davor als literarische Figur vorkommt. Ein Grund mehr, die Vorgänger-Bände auf meine Lektüreliste zu setzen. In der Rahmenhandlung kommen Wilde und sein geliebter Alfred Douglas, genannt Bosie, der Sohn des Marquess of Queensberry, kurz als handelnde Personen vor. Diese Passagen haben mir sehr gut gefallen, denn von Oscar Wildes Persönlichkeit, seinem Witz und seinen Werken kann ich - in welcher Form auch immer - niemals genug bekommen.
Die Kriminalhandlung an sich und damit der Mordfall, um den es hauptsächlich geht, haben aber rein gar nichts mit Wilde zu tun, außer dass sie sich zur selben Zeit wie der Prozess abspielen: Im Frühjahr 1895. Auch spielt dieser siebte Band der Reihe hauptsächlich in der berühmten Universitätsstadt Oxford und nur am Rande in London, wo Inspector Swanson und sein Freund, der Bloomsbury-Privatier Frederick Greenland, eigentlich ermitteln. Greenland macht in diesem Band einen Ausflug nach Oxford, zusammen mit seiner Verlobten Louisa Balshaw und Greenlands Ziehsohn “Badger”, einem ehemaligen Londoner Straßenjungen. Für die Vorgeschichte dieser Familienkonstellation muss man wohl ebenfalls die Vorgänger gelesen haben, denn diese wird nur kurz angedeutet. Natürlich ist für den belesenen Lebemann Greenland bei einem Aufenthalt in Oxford ein Besuch der altehrwürdigen Bodleian Library selbstverständlich. Dort machen er, seine Verlobte und Badger eine grausige Entdeckung: Ein Professor der Universität wurde mit einer Bronzestatuette erschlagen. Schnell wird klar: Greenland wird neben einigen anderen Professoren sowie dem Bibliothekspersonal selbst verdächtigt, den Mord verübt zu haben. Greenland verständigt so schnell wie möglich Inspector Swanson und dieser eilt natürlich sofort seinem Freund zur Hilfe. Sein erster Einsatz in Oxford stellt ihn vor ein kniffliges Rätsel, das er aber natürlich am Ende auflösen wird.
Die Schreibweise von Robert C. Marley hat mir wirklich gut gefallen. Er hat ein klassisches Locked-Room-Mystery in historischem Setting geschrieben, das mit einem überschaubaren Kreis von Verdächtigen auskommt. Der Fall an sich ist jetzt nicht mega spannend, aber die Auflösung war doch sehr überraschend. Ich hatte einen anderen Täter im Visier. Der Ermittler Swanson hat mir gut gefallen, auch wenn ich in diesem Band jetzt noch nicht so viel über ihn in Erfahrung bringen konnte. Seine Verbindung zu Oscar Wilde ist in jedem Fall schon mal klasse und verleitet mich dazu, auch die anderen Bände dieser Reihe in die Hand zu nehmen. Alles in allem ein schöner historischer Cosy Krimi mit ernsten, aber auch humorvollen Elementen.

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Veröffentlicht am 17.12.2020

Mon dieu, was soll ich dazu sagen?

Tödliche Gemälde
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(Vorsicht: Spoiler)

Man nehme: Einen "Krimi", der in großen Teilen aus der Sicht des Mörders erzählt wird - ungewöhnlich, kann aber funktionieren, Betonung liegt auf "kann". Dieser Mörder, John Blumenstein ...

(Vorsicht: Spoiler)

Man nehme: Einen "Krimi", der in großen Teilen aus der Sicht des Mörders erzählt wird - ungewöhnlich, kann aber funktionieren, Betonung liegt auf "kann". Dieser Mörder, John Blumenstein aka Jonas Blume, ist ein ziemlicher Sadist und gleichzeitig ein Ästhet. Er liebt als Kunsthändler die schönen Künste, vor allem die bildende Kunst und natürlich das Savoir Vivre der Franzosen. Er ist Kosmopolit und in den Metropolen der Welt zu Hause. Vor allem die Kunststädte Paris und London beehrt er abwechselnd mit seiner Anwesenheit. Man gebe dem Mann eine schwere Kindheit mit frühverstorbener Mutter und als kindliches Hobby Tierquälerei.
Nun füge man noch eine Prise Bruderhass und Zwillingsmotivik hinzu, die in Schwarzweiß-Denken eingetunkt wird - Voilà: guter vs. böser Zwilling. Der eine (Martin Blume) ist der "spießige", verklemmte Bulle, der andere, Jonas alias John, der dandyhafte, weltgewadte Killer. Nun sollte man aber nicht so sein und dem literarischen Gericht auch noch etwas Würze in Form von einer ordentlichen Prise Sex hinzufügen, denn der sellt ja bekanntlich. Vor allem das weibliche Geschlecht ist in diesem Buch höchst promiskuitiv und denkt eigentlich - neben Geld und ein bisschen an Kunst, die wiederum Geld generiert - an nichts anderes als an die “schönste Nebensache der Welt,” gerne auch mit einer ausgeprägten SM-Komponente. John benutzt die Frauen: Sie bringen ihm Prestige, großzüge Innenstadtwohnungen in den begehrtesten Städten der Welt, millionenschwere Kunst, sonstigen Reichtum und manchmal geben sie sogar hervorragende Mordopfer für ihn ab. Im letzten Fall muss dann aber echt schon alles stimmen, vor allem die Ähnlichkeit mit einer auf einem berühmten Kunstwerk abgebildeten Figur. John Blumenstein liebt nämlich kunstvolle Inszenierungen bzw. das realitätsgetreue Nachstellen von Bildern, auf denen jemand ermordet und/oder verstümmelt bzw. gefoltert wird. Das ist sozusagen sein mörderischer Zeitvertreib, wenn er mal nicht gerade vom Londoner Luxusmasseur durchgeknetet wird, Millionen mit Kunstdeals verdient, Agententätigkeiten nachgeht, Metropolenhopping macht oder in einem Sternerestaurant die teuersten Weine und exklusivsten Gerichte der Welt verkostet. Letzteres wird im Buch ausführlichst beschrieben und zelebriert, da kann sich der Gault Millau eine Scheibe davon abschneiden.

Ich schreibe nicht gerne eine negative Rezension, aber dieses Buch ist leider eine Zumutung für mich gewesen. Die absurde, hanebüchene Handlung kombiniert mit der lächerlich-eindimensionalen Figurenzeichnung und den Dialogen auf dem Niveau humorvoller Fernsehkrimis (die im Kontrast zum elitären Thema stehen) suchen wirklich ihresgleichen. Vom Frauenbild, das hier vermittelt wird, mal ganz zu schweigen. Die Frauen in diesem Roman sind - wie schon gesagt - dauer-wollüstig und werden auch immer wieder als unwissend dargestellt, während die Männer mit intellektueller Potenz bestückt sind und den unterwürfigen Weibchen die Welt erklären müssen. Die Opfer des Mörders, bei dem alles von Anfang an fast reibungslos verläuft, begeben sich geradezu bereitwillig in ihr Schicksal. Eine solche Naivität ist für mich beispiellos gewesen und leider auch immer wieder ein Quell unfreiwilliger Komik, die aber wahrscheinlich nicht intendiert war. Die versprochene spannende Krimi-Handlung war nicht mal ansatzweise auszumachen. Logische Fehler und realitätsferne Vorgänge und Abläufe kommen erschwerend hinzu. Von dem Ende, das geradezu abstrus und einfach nur ärgerlich war, will ich gar nicht erst anfangen.

Dass der Autor etwas von Kunsthandel, Kunstgeschichte und kulinarischen Genüssen versteht, ist unbestritten und spiegelt sich in seinem Buch wieder. Literarisches Schreiben gehört meines Erachtens nach aber nicht zu seinen Fähigkeiten. Dennoch wurde das Buch verlegt und zwar in hochwertigster Ausstattung - Ich frage mich nur: Warum? So mancher "Groschenroman" ist deutlich besser - und wenigstens sein Geld wert.


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Veröffentlicht am 15.12.2020

Bestandsaufnahme der "ersten Welle"

Die Krone der Schöpfung
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Selten liest man einen Roman, in dem so viele Aspekte des Erzählten mit der eigenen Lebensrealität der jüngeren Vergangenheit übereinstimmen. Bei diesem Roman ist dies der Fall, denn er wurde nicht nur ...

Selten liest man einen Roman, in dem so viele Aspekte des Erzählten mit der eigenen Lebensrealität der jüngeren Vergangenheit übereinstimmen. Bei diesem Roman ist dies der Fall, denn er wurde nicht nur im Jahr 2020 geschrieben und veröffentlicht, er behandelt auch noch das Thema, das dieses Jahr wie kein anderes geprägt hat: Die Corona-Pandemie.
Die Filmregisseurin und Schriftstellerin Lola Randl versucht sich in “Die Krone der Schöpfung” an einer Bestandsaufnahme des Beginns der Pandemie, ihrer Ausbreitung in Europa sowie der ganzen “ersten Welle”.

Im Buch gibt die Erzählerin, die wohl in vielen Punkten mit der Autorin gleichzusetzen ist, ihre persönlichen Erfahrungen mit dem Virus wieder. Dabei konnte ich mich als Leserin teilweise sehr gut mit ihren nüchtern-ironischen Schilderungen identifizieren. Sie beschreibt, was wir alle im Frühjahr 2020 erlebt haben: Das Einbrechen des Virus in unser Leben, was es (oder: er) mit uns und unserer Umwelt gemacht hat und wie wir dieser neuen Situation am Anfang begegnet sind. Ob es das Nähen von Stoffmasken ist, der Hamsterkauf von Toilettenpapier, das überall ausverkaufte Desinfektionsgel: Die Pandemie ist ein Gleichmacher und wir sitzen alle im selben Boot. Ich habe mich zurückversetzt gefühlt in diese unsichere Zeit, in der Corona noch ganz frisch und wir alle davon noch unbeleckt waren. Die mediale Berichterstattung wird auch von der Erzählerin reflektiert: Ob es die bedrückenden Nachrichten der vielen Toten aus Italien waren oder auch die Omnipräsenz eines gewissen “Chefvirologen”, dem die ganze Aufmerksamkeit eigentlich eher unangenehm war bzw. ist.

Strukturell ist dieser “Roman” eher eine Sammlung von kurzen Kolumnen, die jede für sich einen Mikroaspekt der Pandemie aufgreifen. Einerseits referiert die Erzählerin über biologische und gesellschaftspolitische Fakten, die im Zusammenhang mit Viren bzw. speziell mit Sars Covid-19 irgendwie von Interesse sind. Andererseits geht es eben um die persönlichen Erfahrungen der Autorin (die in einem gewissen Maße fiktionalisiert sind, in welchem, weiß wohl nur sie selbst bzw. ihr Umfeld), die dem neuen Eindringling - aka Virus - in ihr Leben zu trotzen versucht. Ihr nicht ganz konventioneller Alltag führt dabei zu einigen amüsanten Situationen und Verwicklungen. Die selbstironische Art der Erzählerin und ihre eigene Unzulänglichkeit, die sie immer wieder erwähnt, machen sie für mich sympathisch. Man denke nur ihre Fleischgelüste, während sie sich vor dem Liebhaber als moralisch überlegene Vegetarierin geriert. Oder an ihre persönlichen Versagensmomente in puncto Erziehung. Zusätzlich gibt es noch eine grotesk-surreale Komponente des Buches. Die Erzählerin braucht Geld (damit der Boden in ihrem renovierten Haus verlegt werden kann) und schreibt deshalb am Drehbuch für eine Zombieserie, das sie einem Internetgiganten verkaufen will. Diese Passagen waren für mich sehr gewöhnungsbedürftig.

Randls Roman muss sich sicher auch Kritik gefallen lassen. Das Erzählte ist oft diffus, viele Themen werden angerissen um sie dann ebenso abrupt wieder fallen zu lassen. Der rote Faden zerfranst in viele Fädchen. Zudem steht derjenige, der Lola Randls ersten Roman “Der große Garten” nicht gelesen hat, vor vielen Fragen: Was hat es mit dem Liebhaber auf sich, wer sind die anderen Dörfler oder zugezogenen Städter, von denen sie spricht und warum ist sie überhaupt mit ihrer Familie in das abgelegene Dorf in der Uckermark gezogen? Der Vorgängerroman beantwortet wohl diese Fragen. Der Epilog am Schluss bleibt philosophisch-vage. Stattdessen hätte ich mir ein ausführliches Nachwort gewünscht mit den genauen Angaben, in welchem Monat des Jahres 2020 das Buch abgeschlossen wurde und wie der Status Quo der Pandemie zu dieser Zeit war.

Obwohl ich Randls trockenen Humor sehr gerne mochte und es wichtig und richtig finde, dass diese ersten Monate der Corona-Pandemie für die Nachwelt festgehalten wurden, kann ich aufgrund der genannten “Probleme” diese sehr spezielle Lektüre nicht jedem uneingeschränkt empfehlen.

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