Erschütternd, schmerzhaft, mahnend – eine bei uns weitgehend unbekannte Seite der europäischen Geschichte
Wären wir Vögel am HimmelVita, Lilija, Halyna: drei ukrainische Frauen, die in den Wirren des Zweiten Weltkriegs versuchen zu überleben. Erzählt wird die Geschichte wechselweise aus diesen drei Perspektiven. Sie beginnt im Jahr ...
Vita, Lilija, Halyna: drei ukrainische Frauen, die in den Wirren des Zweiten Weltkriegs versuchen zu überleben. Erzählt wird die Geschichte wechselweise aus diesen drei Perspektiven. Sie beginnt im Jahr 1941, als die Nazi-Deutschen in die polnische Ukraine einmarschieren und auf die grausamen Sowjets folgen. Erzählt wird jeweils das persönliche Erleben der Hauptfiguren. Die 10-jährige Halbwaise Halyna ist die jüngste, deren Leben sich auf dramatische Weise verändert. Die Jugendliche Lilija, eine begabte Künstlerin und Vogelliebhaberin, hat ihre Familie verloren und wurde von ihrer Tante Vita und deren Familie aufgenommen. Vor allem Lilija hat Entsetzliches erleben müssen und ist traumatisiert vom Verlust ihrer Familie. Entsprechend spröde verhält sie sich allen, aber besonders dem Polen Filip gegenüber, der für sie den Feind schlechthin darstellt, da es Polen gewesen waren, die ihren Vater getötet hatten. Trotzdem verliebt sie sich in Filip. Vita kämpft um das Wohlergehen ihrer drei kleinen Kinder, von denen speziell Nadja, die Kleinste, das empfindlichste, oft kranke Sorgenkind ist.
Anfangs laufen die Erzählstränge parallel, der Leser wird von einem in ein anderes Leben mitgenommen, die nichts miteinander zu tun haben scheinen. Erst als sich nach dramatischen Ereignissen die Wege Vitas und ihrer Nichte Lilija trennen, kreuzen sich die Lilijas und Halynas, als beide zusammen mit Lilijas Cousin Slavko als Ostarbeiter von den Deutschen nach Leipzig verschleppt werden. Sie erleben Grausames und kämpfen ums nackte Überleben. Währenddessen begibt sich Vita mit ihrer verbliebenen Familie, ihrem Ehemann Maksim und ihren jüngeren Kindern Sofia, Boghdan und Nadja auf die Flucht nach Westen, zuerst vor den Deutschen, dann vor den nachrückenden Sowjets, in der Hoffnung, Slavko und Lilija in Leipzig zu erreichen. Auch sie machen Entsetzliches durch, bis sie nach einer langen, immer wieder für Wochen und Monate unterbrochenen Reise in Ostdeutschland ankommen. Dort kommt es nicht zur ersehnten Wiedervereinigung der Familie, sondern zum Showdown in Dresden, als dieses von den Bombenangriffen der Alliierten dem Erdboden gleichgemacht wird. Irrlichternd wandern die Hauptfiguren, die zwar alle das Inferno überleben, was sie aber von den jeweils anderen nicht wissen, weil sie getrennt werden, in Deutschland herum von einem Auffanglager zum nächsten, immer auf der Suche nach den hoffentlich überlebenden Verwandten. Erst Jahre später sollen sich alle im größten dieser Lager wieder finden. Zusammen mit Halyna und Filip, der Lilijas Ehemann wird, emigrieren alle nach Amerika, somit gibt es für die wiedervereinte Familie nach unvorstellbaren Gräueln zumindest ein Happy End. Alles andere wäre, ehrlich gestanden, unerträglich gewesen.
Die Geschichte hat mich wirklich gepackt und tief erschüttert, zum einen wegen der geschilderten Entsetzlichkeiten, die die Hauptfiguren erleben, zum anderen weil ich schlicht nicht wusste, was in Osteuropa, der Ukraine, vor und während des Zweiten Weltkriegs passiert ist. Die Erlebnisse basieren auf denen der geflüchteten ukrainischen Verwandten der Autorin Erin Litteken, was die Geschichte meines Erachtens noch eindrücklicher macht.
Der Aufbau wirkt am Anfang verwirrend, der Leser tut sich nicht sehr leicht damit, von Anfang an zu verstehen, was wann wem und warum passiert. Dann entwirren sich die Fäden zunehmend, die Geschichte beginnt zu fließen und schwillt dann zu einem mitreißenden Strom an. Die parallel verlaufenden Erzählstränge haben jetzt eine Verbindung miteinander und finden sich am Ende zusammen.
Dieser Erzählmechanismus spiegelt sich auch in der Sprache wieder: die ersten Kapitel sind in einer sehr schönen, poetischen Sprache geschrieben. Damit bekommen sogar grausame Szenen ein Element, das kurz innehalten und die Sprache genießen lässt. Mit der Beschleunigung der Erzählung ändert sich auch die Sprache. Sie wird weniger poetisch, dafür konkreter und schneller. Eine sehr geschickte Schreibweise, wie ich finde, da sie das Geschehen unterstützt.
Die Hauptfiguren erschließen sich am Anfang nicht sofort. Die verschiedenen Perspektiven werden zwar in der dritten Person geschildert, aber es wird das subjektive Erleben der Figuren erzählt, ohne größere Zusammenhänge zu liefern. Auch hier müssen sich erst ein paar Fäden entwirren und müssen Dinge erfahren und verstanden werden, bevor man versuchen kann, den Gemütszustand der drei Frauen zu verstehen. Am Ende des Buches hatte ich ein recht klares Bild von Vita, Lilija und Halyna bekommen, ich habe sie regelrecht kennen- und ein bisschen lieben gelernt.
Ich bin sehr froh und dankbar, dass ich Wären wir Vögel am Himmel gelesen habe, auch wenn es alles andere als eine leichte, entspannende Lektüre war. Ich habe Einblicke in eine mir bislang unbekannte Seite der europäischen Geschichte erhalten und Figuren kennengelernt, denen ich mich verbunden fühle. Die oft kritisierten Schilderungen der Gräuel werden nicht übertrieben, es wird einfach beschrieben, was geschehen ist, und das ist gut und richtig so. Die dunkelsten Seiten der Geschichte dürfen nicht beschönigt oder totgeschwiegen werden.
Ich kann und möchte dieses Buch allen empfehlen, die mehr in einem Buch suchen, als leichte Unterhaltung, die bereit sind, unbequemen Wahrheiten ins Gesicht zu schauen und die daran interessiert sind, Hintergründe heutiger Konflikte verstehen zu können, anstatt aus Unwissenheit geborene Urteile herauszuplärren.