Berührende, authentische Achterbahnfahrt der Emotionen aus dem Trauma zu sich selbst
Evil EyeÄußerlich scheint Yara ein perfektes Leben zu führen: Sie hat zwei wundervolle Töchter, ein abgeschlossenes Studium, einen guten Job und einen Ehemann, der ihr den Weg aus einem einengenden Elternhaus ...
Äußerlich scheint Yara ein perfektes Leben zu führen: Sie hat zwei wundervolle Töchter, ein abgeschlossenes Studium, einen guten Job und einen Ehemann, der ihr den Weg aus einem einengenden Elternhaus ohne Liebe geebnet hat. Äußerlich hat die Tochter palästinensischer Einwanderer in die USA mehr erreicht als Generationen von Frauen vor ihr. Woher kommen also ihre Wut, Trauer und Verzweiflung, die sie innerlich aufzufressen drohen?
Nichts ist so perfekt, wie es scheint. Das zeigt Etaf Rum mit ihrem Roman „Evil Eye“ auf berührende, eindrucksvolle Weise. Den elterlichen Käfig hat Yara gegen eine lieblose Ehe getauscht, in der Geringschätzung, Schulgefühle und das Zurücksetzen von Yara Bedürfnissen an der Tagesordnung stehen. Ungeschönt begibt man sich mit Yara in eine Achterbahn der Gefühle, für die es keinen Stopp-Knopf gibt. Wut, Trauer, Hoffnung, Fassungslosigkeit und Erleichterung: All die Emotionen, die Yara fühlt, empfindet man als Leserin. Man will schreien, Dinge an die Wand werfen, Yara schütteln und in den Arm nehmen, weinen – wahlweise aus tiefer Trauer oder Erleichterung.
Da ist kein Millimeter Raum für Distanz zwischen der Ich-Erzählerin und der Leserin. Das tut oft weh, ist aber unendlich wertvoll für die Geschichte und das Thema. Gefühle und psychische Erkrankungen werden ohne Tabu behandelt, genauso wie Traumata, die über Generationen weitergegeben werden. Yara ist in ihrer Charakterentwicklung und ihrem Weg authentisch. Es ist keine geradlinige, schön stilisierte Reise aus dem Trauma zu sich selbst. Immer wieder geht es bergab und rückwärts, wo es erst deutlich bergauf und vorwärts gegangen ist. So funktioniert Heilung und genauso authentisch und berührend wird sie in „Evil Eye“ beschrieben – abseits romantischer Selbstfindungsklischees.
Auch das Aufeinandertreffen zweier Kulturen, das Rollenbild einer Frau in extremen patriarchalen Strukturen wird klischeebefreit und abseits jeglicher Opferrollen veranschaulicht. Das macht es leichter zu verstehen, dass Frauen – abseits jeglicher kulturellen Unterschiede – mit Sexualisierung und Unterdrückung zu kämpfen haben. Die in die Wiege gelegten Hürden mögen für Frauen wie Yara deutlich höher sein, doch sollte gemeinsam gegen jene Strukturen angekämpft werden anstatt sich gegenseitig mit vermeintlichen Unterschieden runterzumachen. Das macht Etaf Ruf auf eine subtile Weise klar, die man dennoch nicht leugnen kann und deren Gewissheit noch lange in einem nachhallt.
Fazit
Etaf Rum ist mit „Evil Eye“ ein berührendes Meisterwerk der Emotionen gelungen. Yaras Schicksal hatte eine derartige Sogwirkung auf mich, dass ich das Buch nicht zur Seite legen konnte. Ihr authentischer Charakter und Weg schaffen eine tiefgehende Verbindung. Zudem gelingt es der Autorin auf einzigartige Weise, hinter die oftmals tabuisierte Fassade von psychischen Erkrankungen und generationenübergreifenden Traumata zu blicken – ohne jegliche Opferrollen und Klischees zu bemühen. Ein wichtiges und wertvolles Buch in konfliktgeprägten Zeiten, in denen das Trennende oft vor dem Verbindenden und der Egoismus vor Verständnis und Solidarität steht. Eine kleine klare Leseempfehlung