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Veröffentlicht am 12.02.2024

Warmherzige Geschichte über Identität und gesellschaftliche Narrative

Weiße Wolken
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Weiße Wolken - die kleinen weißen Flecken auf den Fingernägeln, die entgegen weit verbreiteter Meinung von stumpfer Einwirkung auf die Nägel herrühren. Damit vergleicht Zazie in Yandé Secks Debütroman ...

Weiße Wolken - die kleinen weißen Flecken auf den Fingernägeln, die entgegen weit verbreiteter Meinung von stumpfer Einwirkung auf die Nägel herrühren. Damit vergleicht Zazie in Yandé Secks Debütroman die schmerzhaften Erfahrungen, die einen prägen, die eigene Identität ausmachen.

Davon gibt es viele bei Yandé Secks drei Protagonistinnen: Zazie, die immer wieder auf ihr eigenes Anderssein als Schwarze in Deutschland zurückgestoßen wird, die ihre Wut über Alltagsrassismus und Sexismus oft nicht zurückhalten kann. Dieo, die mit den gesellschaftspolitischen Diskursen ihrer Schwester nicht mithalten kann, hat sie doch mit ihren Kindern zu viel zu tun. Die gleichzeitig aber ihre eigene Wut über die Verteilung von Care-Arbeit in ihrer eigenen Familie in sich aufstaut. Und ihr Mann Simon, der den gesellschaftlichen Druck übernimmt sich in der Kryptowelt zu behaupten ohne seine eigenen Wünsche zu hinterfragen.

So kreisen die drei Protagonist
innen umeinander, scheinbar absorbiert in ihrer Suche nach ihrer eigenen Identität zwischen gesellschaftlichen Idealen und individuellen Bedürfnissen.

Vieles wird nicht gesagt, viele Gedanken und intuitive Verhaltensmuster von Zazie, Dieo und Simon bleiben den Leserinnen gegenüber genauso unergründlich, wie sie vielleicht für die drei Charaktere selbst sind. Das lässt sie teilweise schwer greifbar machen. Manche Dialoge und insbesondere Konflikte, die genauso schnell gelöst werden wie sie aufgetaucht sind, wirken hölzern und unrealistisch.

Aber wenn man in die Geschichte reingefunden hat, sich an Yandé Secks ungewöhnlichen Erzählstil gewöhnt hat, verspricht das Buch ein schönes, leicht zu lesendes Leseerlebnis, das gleichzeitig wahnsinnig viele gesellschaftliche Diskurse aufgreift und doch so warmherzig und verständnisvoll jede
n der drei Protagonist*innen und ihre unterschiedlichen Perspektiven aufs Leben beleuchtet.

Trotz der teilweise konstruiert wirkenden Dialoge, habe ich das Buch deshalb ins Herz geschlossen und empfehle es sehr, gerade wenn man sich mit dem emotionalen Druck, den gesellschaftlicher Narrative ausüben, auseinandersetzen will.

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Veröffentlicht am 05.02.2024

Die Unbegreiflichkeit des Grauens

Spur und Abweg
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Harry Tallert ist “Mischling ersten Grades”, zumindest wird er dazu gemacht, durch die Nürnberger Rassengesetze, durch die Gefangennahme und Deportation in das Arbeitslager Lenne, wo er bis zur Befreiung ...

Harry Tallert ist “Mischling ersten Grades”, zumindest wird er dazu gemacht, durch die Nürnberger Rassengesetze, durch die Gefangennahme und Deportation in das Arbeitslager Lenne, wo er bis zur Befreiung 1945 für die deutsche Rüstungsindustrie schuften muss. Es ist ein Stempel, eine Identität, die ihm als Jugendlicher aufgedrückt wird und die ihn sein ganzes Leben bestimmen wird.

Als “Halbjude” zwischen den Stühlen von Opfern und Tätern sitzend, versucht er das Unbegreifliche zu erklären, die Absurdität, die Unmenschlichkeit der NS-Zeit zu verstehen. Ein Unterfangen, dass ihn bis zu seinem Tod nicht mehr loslassen soll, ihn seinen Schmerz in Alkohol und Schmerzmitteln ertränken lässt.

“Die Einteilung der Menschen in Täter und Opfer und die gleichzeitige Einsicht in die phänomenologische Fragwürdigkeit einer solchen Einteilung ließen meinen Vater zu einer Zeit über die ganze Menschheit stolpern, in der er eigentlich erst einmal eine Person hätte werden sollen.” (S.17)

So beschreibt es sein Sohn Kurt Tallert in diesem Buch, einer Mischung aus Erinnerungen an seinen Vater und seiner persönlichen Auseinandersetzung mit dem grauenhaften Schicksal seiner Familie während des Holocausts.

Mit viel Einfühlungsvermögen schafft es Kurt Tallert die Verzweiflung seines Vaters zu beschreiben und liefert gleichzeitig einen essenziellen Beitrag zu gesellschaftspolitischen Diskursen der Schuld und Erinnerungskultur. Wo erinnert man sich? Wie anders erinnert man sich, wenn man selbst Holocaust-Opfer in der Familie hat? Und wie geht man mit Schuld in der eigenen Familie um?

Viele Stellen habe ich unterstrichen, oft hat mich das Buch zum Nachdenken angeregt und doch war ich am Ende ratlos, als ich es zuklappte. Kurt Tallert scheint sich im Kreis zu drehen, findet keinen roten Faden in seiner Geschichte. Immer wieder reist er nach Buchenwald, nach Lenne, nach Theresienstadt, versucht die Lücke zwischen Geburts- und Todesdatum seiner Verwandten zu füllen, einen Ort des Erinnerns zu finden, zu begreifen. In seinem Schreibstil spiegelt sich die eigene Verzweiflung wider, das über Generationen vererbte Trauma. Vielleicht muss es deshalb so sein. Vielleicht muss das Buch einen verwirrt und ratlos zurücklassen, denn das Unbegreifliche kann nicht begreifbar gemacht werden. Aber es muss erinnert werden.

Ein, trotz aller Schwierigkeiten den Gedankengängen Tallerts zu folgen, wichtiges Buch! Insbesondere in Zeiten, in denen geschichtsrevisionistische Tendenzen wieder an Zuspruch gewinnen.

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Veröffentlicht am 10.01.2024

Schweigen in Worte gefasst

Zweistromland
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Istanbul, 2016 - von hier aus begibt sich Dilan auf die Suche nach der Geschichte ihrer Eltern, der Geschichte hinter dem jahrelangen Schweigen ihrer Eltern. Sie reist nach Osten in die kurdischen Gebiete ...

Istanbul, 2016 - von hier aus begibt sich Dilan auf die Suche nach der Geschichte ihrer Eltern, der Geschichte hinter dem jahrelangen Schweigen ihrer Eltern. Sie reist nach Osten in die kurdischen Gebiete der Türkei aus denen ihre Eltern nach Deutschland geflohen sind. Was ist passiert? Warum mussten sie fliehen?

Mit ihrer bildgewaltigen und dennoch ruhigen Sprache hat Beliban zu Stolberg mich von der ersten Seite an in die Geschichte entführt. Durch Rückblenden in Dilans Jugend verwebt sie kunstvoll Vergangenheit und Gegenwart und zeigt wie tief verankert das Schweigen in Dilans Familie ist. Ein Schweigen, das zwischen den Zeilen auf jeder Seite dieses Buches spürbar ist.

Es ist ein Roman von unglaublicher sprachlicher Schönheit, der viel sagt und dennoch viel ungesagt lässt. Ein Roman der gelungen über die Geschichte der Kurdern erzählt, der berührt und in Teilen erschüttert. Ein Roman der dennoch so viele Fragen offen lässt, dazu anregt sich intensiver mit dem Schicksal der Kurden auseinanderzusetzen.

Für mich ist es ein wahnsinnig gelungener Debütroman und eines meiner absoluten Lieblingsbücher im Jahr 2023.

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Veröffentlicht am 09.01.2024

Thematisch wie sprachlich für mich leider zu platt

Endling
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Artensterben, Pandemien, eine faschistische Regierung, verstärkte Grenzen innerhalb der EU und die neuerliche Unterdrückung von Frauen - es ist eine Dystopie, die Jasmin Schreiber zeichnet für das Jahr ...

Artensterben, Pandemien, eine faschistische Regierung, verstärkte Grenzen innerhalb der EU und die neuerliche Unterdrückung von Frauen - es ist eine Dystopie, die Jasmin Schreiber zeichnet für das Jahr 2041, in dem ihr neuer Roman spielt. Insektenforscherin Zoé kehrt das erste Mal seit dem pandemiebedingten Tod ihres Vaters in ihren Heimatort zurück, wo ihre Mutter, ihre Schwester Hannah und ihre Tante Auguste seit diesem Schicksalsschlag mit ihren ganz eigenen Problemen kämpfen: die Mutter Alkoholprobleme, Hannah augenscheinlich immer noch innerlich von Trauer zerfressen und die Tante, die seit Jahren das Haus nicht mehr verlässt, aus Angst vor Krankheitserregern. Das Verschwinden einer Freundin Augustes führt dazu, dass Hannah, Zoé und Auguste sich als ungewöhnliches Trio auf einen Road Trip begeben zu einem Dorf in Italiens Bergen, wo nur Frauen leben.

Liebevoll und mit viel Humor zeichnet Jasmin Schreiber ihre teils schrulligen Figuren in ihrem neuen Roman und büßt dabei dennoch nichts der Ernsthaftigkeit der vielen Themen ein, die sie in ‘Endling’ diskutiert. Insektensterben, die Erziehung von Mädchen und Trauerbewältigung sind nur einige der (heute bereits) relevanten Themen, für die sie wirklich starke Statements in ihrem Roman findet. Und dennoch finde ich, dass diese Statements fast im Strudel der Handlung untergehen. Zu viel will Jasmin Schreiber meiner Meinung auf zu wenigen Seiten. Es gab für meinen Geschmack zu viele Sidekicks die mich ablenkten und für mich den Lesefluss störten.

Wenn Jasmin Schreiber sich auf diese Themen konzentriert hätte, in denen sie teils ihre Stärke bereits in vorherigen Romanen bewiesen hat, wie beispielsweise Tod und Trauer in Marianengraben, hätte mir das Buch glaube ich deutlich besser gefallen, als in dieser sehr handlungsgetriebenen Geschichte, in der diese Themen und die zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen den Charakteren eher oberflächlich angerissen bleiben.

Auch dann hätte ich mich aber wahrscheinlich noch an der Sprache gestört, die mir oft zu konstruiert und in Teilen platt vorkam. Die Ausdrucksweise, die für mich in ‘Marianengraben’ funktionierte, weil die Erzählerin in kindgerechter Sprache an ihren kleinen, verstorbenen Bruder wendet, wirkte für mich hier fehl am Platz.

Daher war ‘Endling’ für mich leider eher eine Enttäuschung. Wer allerdings Jasmin Schreibers Sprache generell schätzt und spannungsgeladene Geschichten gerne liest, wird hier sicher auf seine/ihre Kosten kommen.

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Veröffentlicht am 26.12.2023

So viel mehr, als der Klappentext suggeriert

Die Verletzlichen
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Ein Papagei, ein junger Mann, der sich mit seinen Eltern überworfen hat, und die Erzählerin – drei Figuren, die während des Corona Lockdowns in New York in einer Wohnung stranden. Eine amüsante Geschichte ...

Ein Papagei, ein junger Mann, der sich mit seinen Eltern überworfen hat, und die Erzählerin – drei Figuren, die während des Corona Lockdowns in New York in einer Wohnung stranden. Eine amüsante Geschichte über die anfänglichen Schwierigkeiten Altersunterschiede und Vorurteile zu überwinden hin zu einer vertrauensvollen Freundschaft. Das verspricht der Klappentext und das hält er auch, aber es geht um viel mehr als um diese liebevoll erzählte Geschichte über fallende Mauern zwischen Fremden in Zeiten allgemeiner sozialer Isolation.

Gekonnt verwebt Sigrid Nunez den Erzählstrang mit essayistischen Elementen. Realität und Fiktion verschwimmen und es entsteht das Gesamtbild einer Autorin (die namenlose Erzählerin oder doch Sigrid Nunez selbst?), die während der Coronapandemie versucht eine Schreibblockade zu lösen, die rastlos umherschweift, sowohl durch New York als auch in ihren Gedanken, auf der Suche nach Inspiration, nach einem Anfang für einen gelungenen Roman. Dabei streift sie größere Themen des Mutter- und Frauseins, des Alterns und Krisen vergangener und jetziger Zeiten fast im „Vorbeigehen“.

Sigrid Nunez scheint die Leser dazu herauszufordern sich auf ihre Erzählweise einzulassen, ihren Gedankengängen ohne Zweifel zu folgen. Mehr als einmal habe ich mich ertappt gefühlt, wenn Fragen in mir aufkamen, und Nunez diese zu erraten schien und gerade rechtzeitig auf subtile Weise beantwortete. Ich bin immer wieder gerne zu dem Buch zurückgekommen und oft hat die Autorin mir - mit ihrem feinsinnigen Humor und ihrer scharfen Beobachtungsgabe für die Widersprüchlichkeiten unserer Gesellschaft - ein Schmunzeln entlockt.

Dennoch würde ich das Buch nicht uneingeschränkt empfehlen. Gerade jene, denen eine handlungsgetriebene, geradlinige Erzählweise wichtig ist, sollten eventuell eher zu einem anderen Buch greifen. Auch mir fiel es teilweise schwer jedem von Nunez Gedankengängen zu folgen, gerade durch die vielen Verweise in die Literatur, die mir nicht alle bekannt waren. Trotzdem habe ich mich sehr gerne auf Nunez Erzählweise eingelassen und war insbesondere von ihrer Sprache und ihrem subtilen Humor begeistert.

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