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Veröffentlicht am 15.08.2021

Harlem vor 60 Jahren

Harlem Shuffle
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Im Mittelpunkt von Colson Whiteheads neuem Roman steht Ray Carney. Er verkauft in einem Laden in der 125th Street gebrauchte Möbel und Geräte. Sein Leben lang hat er versucht, ein halbwegs gesetzestreuer ...


Im Mittelpunkt von Colson Whiteheads neuem Roman steht Ray Carney. Er verkauft in einem Laden in der 125th Street gebrauchte Möbel und Geräte. Sein Leben lang hat er versucht, ein halbwegs gesetzestreuer Bürger zu sein, schon um sich von seinem Vater, dem Ganoven Big Mike abzusetzen, der ihn als Kleinkind gern mal allein in einer Bar zurückließ und sich kaum um ihn kümmerte. Sein bester Freund in seiner Kindheit war sein Cousin Freddie, der es auch nicht viel besser getroffen hatte. Die beiden waren wie Brüder, aber schon damals hat Freddie ihn immer wieder in Schwierigkeiten gebracht. Inzwischen geht es natürlich nicht mehr um Bestrafung durch den Vater, sondern um Konflikte mit örtlichen Gangs und der Polizei. Ray soll für ihn Raubgut aus dem Hotel Theresa lagern und an ihm bekannte Hehler weiterleiten, später Dokumente und wertvollen Schmuck aus dem Elternhaus seines drogenabhängigen Freundes Linus, Sohn von sehr reichen und mächtigen Eltern, in seinem Tresor verstecken. Ray braucht illegale Nebeneinnahmen, weil er allein mit Verkäufen aus seinem Geschäft den Lebensunterhalt für die Familie nicht aufbringen kann. Seine Frau Elizabeth stammt aus der gehobenen schwarzen Mittelschicht, und das Paar erwartet sein zweites Kind in einer viel zu kleinen Wohnung. Das Geld reicht auch deshalb nicht, weil Ray einen beträchtlichen Teil seines Einkommens durch regelmäßige Schmiergeldzahlungen an die Polizei und Schutzgelderpressung durch Gangster aus dem Viertel verliert. Die Situation wird für Ray immer kritischer und gefährlicher. Wird er überleben?
Die drei Abschnitte des Romans umfassen die Jahre 1959, 1961 und 1964 und damit die Präsidentschaft John F. Kennedys. Da gab es zeitweise die Hoffnung auf Besserung der Verhältnisse, vor allem der wirtschaftlichen und rechtlichen Situation von Farbigen. Mit den Harlem Riots von 1964 musste diese Hoffnung erst einmal begraben werden. Anlass der Unruhen war die Erschießung des 15jährigen farbigen Jungen James Powell durch den weißen Polizisten Thomas Gilligan am 16.7.1964. Auch 60 Jahre später gibt es Rassismus und brutale Übergriffe und Morde durch Polizisten, wie der Fall George Floyd im vorigen Jahr noch gezeigt hat, und damals wie heute kommen sie meist straflos davon.
Whiteheads Roman liefert das spannende politische und gesellschaftliche Porträt einer Epoche in der afroamerikanischen Enklave Harlem und ist zugleich eine interessante Familienchronik. Mir hat der Roman sehr gut gefallen, obwohl die Personenvielfalt die Lesbarkeit ein wenig beeinträchtigt.

Veröffentlicht am 15.08.2021

Glaube und Wissenschaft

Ein erhabenes Königreich
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Im Mittelpunkt von Yaa Gyasis neuem Roman „Ein erhabenes Königreich“ steht Gifty, 28, deren Eltern aus Ghana in die USA eingewandert sind. Sie leben in Huntsville, Alabama. Der Vater kehrt nach wenigen ...


Im Mittelpunkt von Yaa Gyasis neuem Roman „Ein erhabenes Königreich“ steht Gifty, 28, deren Eltern aus Ghana in die USA eingewandert sind. Sie leben in Huntsville, Alabama. Der Vater kehrt nach wenigen Jahren nach Ghana zurück. Die alleinerziehende Mutter des Sohnes Nana und der kleinen Tochter Gifty arbeitet als Altenpflegerin. In der Erzählgegenwart steht Gifty kurz vor dem Abschluss ihrer neurowissenschaftlichen Studien. Sie führt im Labor Experimente mit Mäusen durch, die sie süchtig macht, um dann durch Eingriffe in ihr Gehirn herauszufinden, ob sie dem Streben nach Belohnung widerstehen können und zu Selbstbeherrschung und damit zur Überwindung ihrer Sucht fähig sind. Es ist ein sehr schwieriges Forschungsgebiet, aber wenn die Ergebnisse auf den Menschen übertragbar sind, könnte es sehr wichtig werden.
Erzählt wird in nicht-chronologischer Darstellung ausschließlich aus Giftys Perspektive. Es gibt Szenen aus ihrer Kindheit, aber vor allem immer wieder die traumatischen Erfahrungen der Familie. Der geliebte ältere Bruder Nana, ein begabter Sportler, wurde nach einer Sportverletzung mit einem gängigen Opioid behandelt und starb mit 16 an einer Überdosis Heroin, die Mutter hat schwere Depressionen, zum ersten Mal nach dem Tod des Sohnes, dann noch einmal, als Gifty 28 Jahre alt ist. Der Pfarrer ihrer Gemeinde schickt die Mutter zu Gifty nach Kalifornien, wo sie kaum isst und nicht mehr aus dem Bett aufsteht.
Es geht in dem Roman jedoch nicht nur um diese familiäre Katastrophe. Die Mutter ist sehr gläubig und hat ihre Kinder entsprechend erzogen. Gifty hat nach dem Tod des Bruders ihren Glauben verloren. Sie stellt sich immer wieder die Frage, ob sie sich für eins von beiden entscheiden muss: Glaube oder Wissenschaft und kommt zu dem Schluss, dass weder das eine noch das andere die Lösung ist.
Ein weiteres wichtiges Thema neben Sucht und Armut ist der allgegenwärtige Rassismus. Die Mutter muss sich von einem Patienten über Jahre als Nigger beschimpfen lassen, und die ach so frommen Gemeindemitglieder äußern sich in Hörweite über die Affinität „dieser Leute“ zu Sucht und Verbrechen. Gifty beschäftigt sich nicht nur mit der Frage, wie ein liebender Gott die Qualen ihres Bruders zulassen konnte, sondern auch, wie eine Nation, die in ihrer Verfassung Gleichheit garantiert, ein solches Ausmaß an Ungleichbehandlung zulassen kann, außerdem, wie die pharmazeutische Industrie ein angeblich harmloses Schmerzmittel wie Oxycodon - auch unter dem Namen Oxycontin berühmt und berüchtigt - auf den Markt bringen konnte, das Millionen von Amerikanern süchtig gemacht hat. Für Gifty ist es ein sehr weiter Weg, bis sie sich aus Einsamkeit und Isolation befreien und ein normales Sozialleben haben kann.
Gyasis neues Buch ist völlig anders als ihr Debüt “Heimkehren“. Der hervorragende Roman bietet anspruchsvolle, lohnende Lektüre.

Veröffentlicht am 07.08.2021

Unsichtbare Narben

Narbenherz
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In Anne Mette Hancocks zweitem Roman um Kommissar Erik Schäfer und Investigativ-Journalistin Heloise Kaldan geht es um den zehnjährigen Lukas, der eines Tages nicht in der Schule ankommt und lange unauffindbar ...

In Anne Mette Hancocks zweitem Roman um Kommissar Erik Schäfer und Investigativ-Journalistin Heloise Kaldan geht es um den zehnjährigen Lukas, der eines Tages nicht in der Schule ankommt und lange unauffindbar bleibt. Kaldan hatte eigentlich angefangen, zum Thema Soldaten mit posttraumatischen Belastungsstörungen zu recherchieren, wird dann aber von ihrer Ressortleiterin beauftragt, sich mit dem aktuellen Vermisstenfall zu beschäftigen, weil sich das positiv auf die Auflage auswirkt. Schäfer und Kaldan kennen sich schon länger und mögen sich, obwohl es naturgemäß den Interessenkonflikt zwischen Polizei und Presse gibt. Schäfer muss dafür sorgen, dass Kaldan nichts vorzeitig veröffentlicht, was die Ermittlungen gefährden könnte. Die Journalistin bemüht sich ihrerseits, Spuren und Hinweisen zu folgen und den Kommissar zu unterstützen.
Neben dem Vermisstenfall gibt es als Nebenhandlung einen Soldaten mit PTBS. Lange Zeit fragt sich der Leser, was diese beiden Handlungsstränge miteinander zu tun haben. Da sind mehrere Verdächtige und genauso viele falsche Fährten, immer wieder neue Puzzleteile, die nicht zusammenpassen wollen. Mehrere Figuren im Roman haben verborgene Narben, Probleme, die nicht ohne weiteres zu lösen sind. Dazu gehören Heloise Kaldan, der ehemalige Soldat Thomas Strand und der vermisste Junge. So verwundert es nicht, dass das Privatleben von Heloise mit ihrer schwierigen Vergangenheit und der konfliktreichen Beziehung zu Martin Duvall, der sich im Gegensatz zu Heloise eine Familie wünscht, breiten Raum einnimmt.
Ich habe den Roman gern gelesen, obwohl er insgesamt weniger beeindruckend ist als „Leichenblume“. Es ist ein Krimi ohne exzessive Gewaltdarstellungen und dennoch spannend genug. Mir gefällt der Stil der Autorin, und ich mag ihre sympathischen Ermittlerfiguren. Deshalb gibt es von mir eine klare Empfehlung für Leser, die es auch nicht so blutrünstig mögen.

Veröffentlicht am 25.07.2021

Wie funktioniert eine ideale Familie?

Der Panzer des Hummers
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In Caroline Albertine Minors Roman mit dem rätselhaften Titel „Der Panzer des Hummers“ bekommt der Leser Einblick in das Leben der Geschwister Gabel nach dem Tod der Eltern. Ea, die Älteste, lebt schon ...

In Caroline Albertine Minors Roman mit dem rätselhaften Titel „Der Panzer des Hummers“ bekommt der Leser Einblick in das Leben der Geschwister Gabel nach dem Tod der Eltern. Ea, die Älteste, lebt schon lange in Kalifornien. Sie sucht die Seherin Beatrice „Bee“ Wallens auf, weil sie Stimmen hört und Kontakt zur verstobenen Mutter herstellen möchte. Die jüngere Sidsel restauriert Kunstwerke in einem Kopenhagener Museum und ist alleinerziehende Mutter einer kleinen Tochter. Niels, der Jüngste, arbeitet als Plakatierer. Er hat keinen festen Wohnsitz und verdient kaum das Nötigste zum Leben. Rastlos zieht er um die Welt. Wenn er sich in Kopenhagen aufhält, hilft er manchmal Sidsel bei der Betreuung ihrer Tochter aus. Ansonsten besteht keine enge Verbindung zwischen den Geschwistern.
Der Roman hat keine chronologische, zusammenhängende Handlung. Mit kapitelweise wechselnder Erzählperspektive aus der Sicht der Geschwister sowie der Seherin Beatrice bietet er Szenen aus der Vergangenheit der Familie und aus der Erzählgegenwart. Eingeschoben sind kursiv gedruckte Auftritte, wo sich die toten Eltern unterhalten und in das Leben der Kinder einmischen. Nachdem die erste Sitzung mit Ea gründlich schiefgelaufen war, weil sich statt der Mutter der Vater präsentierte, bittet Beatrice die Mutter bei einem weiteren Treffen, endlich loszulassen, damit Ea sich von ihrem Einfluss befreien kann.
Mir hat der Roman leider nicht gefallen. Mit den Figuren wurde ich nicht warm. Da gab es keinerlei Identifikationsmöglichkeiten. Es passiert mir selten, dass ich immer wieder - auch bei fortgeschrittener Lektüre -, die Personenübersicht am Anfang des Buches konsultieren muss, um zu wissen, wer wer ist und welche Verbindungen da bestehen. Dann gibt es eigenartige Metaphern, zum Beispiel den Panzer aus dem Titel, der den Hummer daran hindert zu wachsen und sich zu entwickeln (S. 105), die Äußerung eines Rabbi und nicht zuletzt die Untoten im Jenseits, die reden und immer noch uneins sind. Insgesamt finde ich das Porträt dieser Familie ziemlich deprimierend. Daran ändert auch die sprachliche Qualität des Romans wenig. Nur empfehlenswert für Leser mit beträchtlichem Durchhaltevermögen.

Veröffentlicht am 25.07.2021

Kann Mord gerechtfertigt sein?

Tiefer Fjord
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Ruth Lillegravens Roman „Tiefer Fjord“ ist der Auftakt einer Trilogie. Er spielt in Oslo und in Westnorwegen. Im Mittelpunkt steht das Ehepaar Haavard und Clara. Haavard ist Kinderarzt in einer Klinik, ...

Ruth Lillegravens Roman „Tiefer Fjord“ ist der Auftakt einer Trilogie. Er spielt in Oslo und in Westnorwegen. Im Mittelpunkt steht das Ehepaar Haavard und Clara. Haavard ist Kinderarzt in einer Klinik, Clara arbeitet als Juristin im Innenministerium. Eines Tages wird ein kleiner Junge eingeliefert, den Haavard nicht retten kann. Er wurde offensichtlich von seinen Eltern misshandelt. Als der aus Pakistan stammende Vater den Gebetsraum der Klinik aufsucht, wird er erschossen. Wenig später passiert ein zweiter Mord, dann ein dritter. Haavard gerät unter Verdacht, weil er widersprüchliche Aussagen macht und sich zumindest die ersten beiden Morde im Umfeld des Klinikpersonals ereignen. Was steckt dahinter? Für beide Ehepartner ist das Thema Kindesmisshandlung eine Herzensangelegenheit, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Clara ist mit einer Gesetzesvorlage für einen besseren Schutz und schnellere Hilfe für betroffene Kinder gescheitert. Haavard sammelt Daten von Fällen, mit denen er selbst zu tun hatte. Das Paar, dessen Ehe in der Krise steckt, hat Geheimnisse vor einander, die allmählich ans Licht kommen.
Lange ist unklar, wie alles zusammenhängt. Erzählt wird aus ganz unterschiedlichen Perspektiven, vor allem aus der Sicht Claras und Haavards. Nach der Hälfte des Romans weiß der Leser, wer die Morde begangen hat und warum. Dennoch bleibt der Roman spannend. Etwas unbefriedigend finde ich allerdings, dass die Taten nicht aufgeklärt und bestraft werden, so nachvollziehbar das Motiv auch sein mag. Das halboffene Ende lässt sich vor allem dadurch erklären, dass der Roman auf eine Fortsetzung hin angelegt ist. Ich werde die Folgebände auf jeden Fall lesen.