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Veröffentlicht am 09.07.2024

Erschreckend realistisch und so wichtig

Das Lied des Propheten
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Beeindruckend, erschreckend, hochaktuell – und ein Spiegel und Ausblick dessen, was geschehen kann und wird, wenn wir nicht wachsam sind. Und uns nicht einsetzen und kämpfen für unsere Demokratie. Unsere ...

Beeindruckend, erschreckend, hochaktuell – und ein Spiegel und Ausblick dessen, was geschehen kann und wird, wenn wir nicht wachsam sind. Und uns nicht einsetzen und kämpfen für unsere Demokratie. Unsere Werte. Für die Menschlichkeit.
Irland wird zum totalitären Staat! Erst langsam, schleichend, sich zunehmend überschlagend in Geschwindigkeit, Grenz- und Rechtsüberschreitungen, in Morden, Verschleppungen und Folter. Und Eilish ist mit ihrer Familie mittendrin – in Dublin, in dem Schrecken, Grauen und der Unmöglichkeit des Begreifens, Verstehens. Zu gewaltig ist das, was geschieht, zu absurd scheinen allein die Gedanken an das, was sich gerade vor den eigenen Augen vollzieht.
Eilishs persönlicher Albtraum, der Krieg in ihrem Inneren und Außen, beginnt mit der Verhaftung ihres Mannes Larry, eines Gewerkschafters, seinem spurlosen Verschwinden. Und dann geht es Schlag auf Schlag, Einschlag folgt auf Einschlag, auf Erschütterung, Detonation. Ihr ältester Sohn Mark soll zum Militärdienst eingezogen werden, Schule und Studienpläne werden zerstört – und schon ist Eilish mitten im Kampf um ihre Familie, deren Zukunft, ihr gemeinsames Überleben. Doch wird sie zunehmend machtlos, Willkür und Terror, Entsetzen und Trauer schutzlos ausgesetzt – bis auf einmal ihr gesamtes Leben in Trümmern liegt, im Staub des Zements, in den Überresten und der Zerstörung von Bombardement und Entmenschlichung.
Die Handlung, der Fortgang der Geschichte ist teils kaum zu ertragen. Und das ist gut so! Denn bei aller Fiktion ist der Roman so erschreckend, da erschreckend realistisch und zunehmend vorstellbar. Und er rührt an unseren Urängsten: dem Verlust des Zuhauses, dem Tode unserer Liebsten, dem Ausgeliefertsein der Gewalt, Willkür und Gesetzlosigkeit.
„Das Lied des Propheten“ ist so wichtig, gerade jetzt!

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Veröffentlicht am 18.06.2024

Verstörend, stark, einzigartig

Das Verschwinden
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Und auf einmal ist alles anders.
Und die Welt steht still, die Sicht verschwimmt. Und als die Augen sich wieder öffnen, sind diese weiblich. Und die Männer sind verschwunden.
Für Jane, Blanca, Ji-Won und ...

Und auf einmal ist alles anders.
Und die Welt steht still, die Sicht verschwimmt. Und als die Augen sich wieder öffnen, sind diese weiblich. Und die Männer sind verschwunden.
Für Jane, Blanca, Ji-Won und all die weiteren Frauen ändert sich innerhalb weniger Minuten damit alles: ihr Leben, ihr Lieben, die Gesellschaft, wie sie so selbstverständlich erschien. Denn ohne deren männliche Mitglieder sind nicht nur zahlreiche der wichtigen Führungspositionen plötzlich unbesetzt sondern auch Zuschreibungen und Rollenbilder in Frage gestellt. Und die Frauen selbst ebenso in einem Prozess der Veränderung und Entwicklung begriffen wie ihre Umwelt – Wirtschaft, Regierungssysteme aber auch die Natur, die wieder erblüht und Heilung erfährt.
In dieser Zeit der Trauer, des Leidens und des Neuanfangs findet eine Frau den Weg bis ganz an die Spitze: Evangelyne – Lichtgestalt, politische Anführerin und ein Magnet für ihre stetig wachsende Anhängerinnenschaft. Und für Jane ist sie nicht nur eine ehemalige Kommilitonin sondern auch einst beste Freundin und Anker ihres brüchigen Lebens. Mit Jane an ihrer Seite bringt Evangelyne Struktur und Richtung in die neue Welt, und ihr Aufstieg scheint kometenhaft.
Wenn, ja wenn… Und da kommen wir zu dem, für das es keine Worte zu geben scheint. Und für die Frauen keine Erklärung. Und für mich verstörende Stunden der Lektüre und ganz große Liebe für einen Roman, der so einzigartig anders ist. Denn mit „The Men“ scheint ein Guckloch in einen anderen Raum geschaffen, eine Dimension, fern der unseren, eine Geisterwelt, in welcher die verschwundenen Männer sich ihren Frauen zeigen. In kurzen Filmen ist ihr Leiden, ihre Qual, ihr Töten zu sehen, in einer Kulisse aus dämonischen Tierwesen und einer Natur in Falschfarben.
Verstörend? Sehr! Genial? Und wie! Und für mich so unerwartet: eine Geschichte mit so viel Kreativität und Schaffensgeist, Überraschendem und Denkanstößen, die mich nicht mehr loslassen wollen. Und mich bis in meine Träume verfolgt haben. Ja, das ist eine dringende Leseempfehlung von mir! Und Pflichtlektüre für diejenigen, die neue Wege denken und Literatur so ganz anders entdecken wollen.

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Veröffentlicht am 02.06.2024

Hexerei und Heilige: die Risse in der Wirklichkeit

Heiligenbilder und Heuschrecken
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Ein Haus voller Schatten, Engeln und Dämonen, ein Haus, das beschützt, bestraft und über dich wacht – in dieser Symbiose, Schutz und Bedrohung leben eine Enkelin und ihre Großmutter. Sie leben in Armut. ...

Ein Haus voller Schatten, Engeln und Dämonen, ein Haus, das beschützt, bestraft und über dich wacht – in dieser Symbiose, Schutz und Bedrohung leben eine Enkelin und ihre Großmutter. Sie leben in Armut. Sie leben ausgegrenzt von der Gesellschaft. Und sie leben gekettet an ein Haus, das Fluch und Segen zugleich für sie ist.
Doch nicht nur die Trennung nach sozialen Schichten und Milieus hat die Frauen der insgesamt drei Generationen in die Isolation getrieben, abgelegen hinter einem Gebirgskamm, getrennt von der weiteren Bevölkerung. Es ist auch die Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt, welche sie gerade durch die männlichen Dorfbewohner erfahren haben, sei es Ehemann, Partner oder Liebhaber, und das Frauenbild, das ihnen übergestülpt wird. Und es ist auch die hiermit einhergehende Zuschreibung der Hexerei und Verbindung zu übernatürlichen Kräften, welche die Menschen Furcht und Angst verspüren und Abstand zu ihnen halten lässt – ausgenommen die Momente, in denen sie sich die Fähigkeiten der beiden Magiebegabten für ihre eigenen Zwecke zunutze machen.
Ist das Haus mit seinem eigenen Innenleben Zuflucht und Gefängnis für deren Bewohnerinnen, so ist es auch Instrument für deren Rache und Waffe gegenüber den männlichen Peinigern. So wird es zugleich zum Bewahrer ihrer moralischen Abgründe und bindet die Frauen auch durch deren dunkle Geheimnisse an sich.
Dicht und intensiv wie die Erzählung selbst ist auch die Atmosphäre, die durch die klare, direkte Sprache und eine Handlung, welche eine verstörende und um Magie erweiterte Wirklichkeit beschreibt, geschaffen wird. Und so setzt sich das Büchlein mit seinem Reichtum an Motiven, Bedeutungsebenen und Kraft im eigenen Kopf fest, hallt in diesem nach und lässt die Leser*innen gestärkt zurück – wenn auch mit einer Gänsehaut über der eigenen Zufriedenheit.

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Veröffentlicht am 30.05.2024

Genozid an den Eziden – dokumentarisches Erzählen, so wichtig und beeindruckend

Vierundsiebzig
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Eindringlich, erschütternd, schonungslos – Ronya Othmanns Worte gehen tief in Mark und Bein, in Kopf und Herz und bleiben dort. Denn tief und existenziell ist ihre Frage nach einem Leben und Fortleben ...

Eindringlich, erschütternd, schonungslos – Ronya Othmanns Worte gehen tief in Mark und Bein, in Kopf und Herz und bleiben dort. Denn tief und existenziell ist ihre Frage nach einem Leben und Fortleben nach dem Moment, in dem die Zeit stillgestanden und das Unaussprechliche eingetreten ist. Und die Uhren sich anschließend trotzdem weiterdrehen. Und die Welt verändert zurücklassen.
Der 3. August 2014 ist dieser Tag – der Tag des Einschnitts, Todes und der Vertreibung. Der Tag des Genozides an der ezidischen Bevölkerung, dem vierundsiebzigsten. Verübt durch den sogenannten Islamischen Staat, in Shingal im Irak. Tausende Menschen fanden den Tod, grausam ermordet oder verhungert und verdurstet in den Bergen Sindschars. Und weitere Tausende, vor allem Frauen und Mädchen, wurden entführt, in Sklaverei verkauft, vergewaltigt, entmenschlicht.
Für das Unaussprechliche Worte finden, dem Schrecken Bild und Ausdruck verleihen – Ronya Othmann begibt sich auf die Reise zu den Orten der Morde und Vertreibungen, in die Camps und Häuser der Menschen, traumatisiert und verwundet in Körper und Seele, auf die Spuren ihrer Verwandten. Ihre Begegnungen, Eindrücke und Erfahrungen in der Türkei, Syrien und Irak setzt sie dabei in Beziehung zu ihrer eigenen Familiengeschichte, verflechtet sie mit ihrem eigenen Leben, geprägt und für immer gezeichnet von dem Völkermord.
Die Sachlichkeit in ihrem Erzählen steht im Kontrast zu den verübten Grausamkeiten und schier endlosem Leid und ermöglicht so einen Zugang zu Geschehnissen, die aufgrund der hohen Emotionalität dessen, was sie bei Schreibender und Lesenden hervorrufen, sonst kaum greif- und ertragbar erscheinen. Und so schafft Othmann Gehör für Ungesagtes und Raum und Bereitschaft für die Auseinandersetzung mit dem Genozid, der in unserem Kulturkreis zu oft, zu lang Kopf und Herzen nicht erreichte. Und zugleich hat sie mit „Vierundsiebzig“ einen Roman erschaffen, der überdauern und bleiben wird – als Mahnung, Erinnerung, Zeugnis einer großen, aufstrebenden Autorin.

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Veröffentlicht am 01.05.2024

Krimi, Horror und die Hunger Games

Böse Mädchen sterben nicht
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Was ist, wenn Du plötzlich Dein Gedächtnis verloren hast und Dein Mann ein Fremder für Dich ist? Wie überlebst Du in einer einsamen Hütte tief im Wald – mitten in Deinem liebsten Horrorsetting? Und wie ...

Was ist, wenn Du plötzlich Dein Gedächtnis verloren hast und Dein Mann ein Fremder für Dich ist? Wie überlebst Du in einer einsamen Hütte tief im Wald – mitten in Deinem liebsten Horrorsetting? Und wie schlägst Du Dich als Kämpferin in einem Survival-Game, in dem aus Spiel blutiger Ernst wird?
Diesen Fragen müssen sich Celia, Allie und Maggie stellen, jeweils in ihrem eigenen Szenario und in einer surreal erscheinenden Umgebung. Und auch die Frage, wie sie in diese Situation und an einen Ort kommen konnten, scheinbar weit entfernt von Zivilisation und Rechtssystem, ist ebenso rätselhaft wie unerklärlich für sie. Was sie allerdings eint, ist ihr starker Überlebenswille. Und der Mut, auch gegen die Ausweglosigkeit zu kämpfen.
Was die drei Welten, die Christina Henry entwirft, für mich dabei vor allem verbindet, ist die atemlose Spannung, der wunderbare Nervenkitzel und die kribbelnde Gänsehaut, die mich beim Lesen ereilt habe. Nicht zu vergessen die detailreichen, auch blutigen Bilder, die vor meinem inneren Auge abgelaufen sind und das Buch zu einem wahren Pageturner machen. Und was es als Bonus oben drauf gab: gänzlich unterschiedliche Settings, jeweils einem eigenen Genre entsprungen. Sei es der heimelige Cozy-Crime, der blutige Horrorschocker rund um einen psychopathischen Killer oder die Dystopie mit einem Kampf um Leben und Tod und von Level zu Level. Christina Henry kennt sie alle und bedient die unterschiedlichen Anforderungen und Erwartungen mit Leichtigkeit und einer Fantasie, welche die Lektüre zu einem Erlebnis macht.
Alles schick, alles schön – so könnte man jetzt denken. Wäre da nicht das Ende, die Auflösung all des Rätselratens, die Krönung, der Punkt, an dem all die Fäden zusammenlaufen. Und der mich einfach nur enttäuscht. Und all die vorherige Fantasie vermissen lässt. Plötzlich reiht sich Klischee an Klischee, Vorurteile werden bedient, eine gesellschaftskritische Message wird gesucht. Und nicht gefunden.
Was mache ich nun damit? Ich erfreue mich an den 360 äußerst spannungsreichen Seiten und wünsche mir, Celias Amnesie für die verbliebenen 50 zu entwickeln. Denn dann stimmt alles.

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