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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 14.05.2022

Leider wurde Potenzial verschenkt

An der Grasnarbe
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Der Debütroman von Mirjam Wittig erzählt uns von Noa, einer Städterin, die es zur Bewältigung ihrer Ängste auf einen abgeschiedenen Hof in Südfrankreich zieht. Dort unterstützt sie die Familie bei der ...

Der Debütroman von Mirjam Wittig erzählt uns von Noa, einer Städterin, die es zur Bewältigung ihrer Ängste auf einen abgeschiedenen Hof in Südfrankreich zieht. Dort unterstützt sie die Familie bei der Feldarbeit, beim Hüten der Schafe sowie auf dem Markt beim Vertreiben der selbst hergestellten Produkte.

Obwohl der Roman nicht allzu viele Seiten hat, behandelt er doch jede Menge Themen, die als Anriß die Gedanken der Lesenden anschieben. Neben den Herausforderungen des Klimawandels, die im Klappentext angesprochen werden, habe ich Alltagsrassismus und Überforderung vom modernen Leben mit fortwährendem Stress und Dauererreichbarkeit wahrgenommen. Weitere Themen werden geschickt eingewebt, nichts wirkt aufgezwungen, es ist wie im wahren Leben einfach da.

Mit den Charakteren habe ich mich schwerer getan. Niemand ist mir wirklich nahe gekommen, weshalb ein Mitfiebern bei mir ausgeblieben ist. Die Angst der Hauptfigur Noa ist zwar nachvollziehbar, wenn man davon ausgeht, dass sie sich durch ihre SocialMedia-Blase hinein gesteigert hat, aber diese Angst ist mir derart unsympathisch, dass ich Noa nicht wirklich mögen kann. Ella und Gregor, die Betreiber des Hofes, wirken mehr wie Partner auf mich und eher nicht wie ein Paar. Sie hängen in der körperlichen Arbeit des Hofes fest, haben keine Zeit und Energie mehr für Gemeinsamzeit. Einziger Lichtblick ist die Tochter Jade. Sie hat ein gutes Gespür für Stimmungen, fühlt mit ihren Mitmenschen. Ich hätte gern mehr zu diesen vier Figuren erfahren, um sie besser zu verstehen bzw. sie besser einordnen zu können. Dafür hätte ich auf die recht große Anzahl für mich wenig Sinn stiftender Nebenfiguren verzichtet. Einzig der Handlungsstrang um Karim war sensationell. Das Szenario war optimal herausgearbeitet.

Sprachlich hat mir der Roman gut gefallen. Es gibt ganz wunderbare Passagen, besondere Beschreibungen der Umwelt und eine spezielle Schwingung, die aufkommt, wenn die Auswirkungen der Angst thematisiert werden. Leider verliert sich die Autorin ab und zu im Alltäglichen, Belanglosen, wodurch das hohe Niveau nicht durchgehend gehalten werden kann.

Aus meiner Sicht ist „An der Grasnarbe“ ein gut lesbarer Roman, der zu weiterführenden Gedanken anregt. Leider wird das Potenzial der Geschichte nicht vollständig ausgeschöpft, weshalb ich keine Top-Bewertung vornehmen kann.

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Veröffentlicht am 24.04.2022

Kluge Auseinandersetzung mit Glaube und Organisation

Vertrauen
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Dror Mishanis neuer Krimi ist keine typisch actiongeladene Verfolgungsjagd, die Tathergänge sind auch nicht besonders beängstigend beschrieben, vielmehr geht es um die Ermittlungsarbeit an augenscheinlichen ...

Dror Mishanis neuer Krimi ist keine typisch actiongeladene Verfolgungsjagd, die Tathergänge sind auch nicht besonders beängstigend beschrieben, vielmehr geht es um die Ermittlungsarbeit an augenscheinlichen Bagatellfällen. Inspektor Avi Avraham wünscht sich eigentlich Fälle, wo das Ergebnis noch einen Nutzen für die Nachwelt hat. Was nutzt es einem Toten und dessen Hinterbliebenen, wenn der Mörder gefasst und verurteilt ist? Avi Avraham liebäugelt mit einem Wechsel zu einer anderen Ermittlungsbehörde oder zum Geheimdienst, um mehr bewegen zu können.

Doch zunächst muss er sich mit zwei Fällen, die wir Leser:innen abwechselnd weiterverfolgen, auseinandersetzen, ein vor einen Krankenhaus ausgesetztes Neugeborenes und ein verschwundener Schweizer Tourist beschäftigen ihn. Zwischen den Zeilen wird Mishani politisch. Er öffnet uns die Welt des jüdischen Glaubens, der in extremer Auslegung die Freiheiten des Lebens stark einschränkt. Mishani ist dabei ein Erzähler der leisen Töne, der mit Andeutungen arbeitet. So entsteht ein Gesamtbild von latenter Unterdrückung, die sonst anderen Glaubensgemeinschaften zugeordnet wird. Mishani lenkt seinen kritischen Blick auch auf den Geheimdienst und dessen Vorgehensweisen. In diesem Zusammenhang entsteht auch die Spannung im Roman, weil man unterschwellig spürt, wie sich Avi Avraham mit jeder weiteren Frage mehr in Gefahr begibt.

Vom Sprachniveau her liest sich der Roman flüssig, auch wenn es sich hier nicht um einen thrillermäßigen Pageturner handelt. Die Bezeichnung als ungemein dichten literarischen Kriminalroman finde ich passend. Er regt zu Nachdenken an, öffnet die Augen für andere Kulturen. Das hat mir hier sehr gefallen. Sympathisch fand ich zudem die kleinen Querverweise zu Orna, die wir schon aus „Drei“ kennen, und ihren Ermittlungen.

Allen, die auch gern im Genre Literatur unterwegs sind, empfehle ich diesen Kriminalroman sehr gern.

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Veröffentlicht am 18.04.2022

Melancholisch witzige Geschichte um Liebe und Familie

Schallplattensommer
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Maserati ist sechzehn, kellnert im Ausflugslokal ihrer Oma. Obwohl sie nicht regelmäßig genug zur Schule geht, scheint sie mit ihrem Leben zufrieden zu sein. Doch dann zieht nebenan in die alte, verfallene ...

Maserati ist sechzehn, kellnert im Ausflugslokal ihrer Oma. Obwohl sie nicht regelmäßig genug zur Schule geht, scheint sie mit ihrem Leben zufrieden zu sein. Doch dann zieht nebenan in die alte, verfallene Villa eine reiche Familie mit zwei Jungen in Maseratis Alter ein. Nicht nur wegen der lärmenden Renovierungsarbeiten ist es jetzt mit der ländlichen Ruhe vorbei.

In dem Wunsch Maserati kennen zu lernen, stochern Caspar und Theo in ihrem Leben ohne Smartphone und Fernsehen herum. Als sie Maseratis Konterfei auf einer alten Schallplatte entdecken, manövrieren sie mit ihrer ewigen Fragerei Maseratis Leben ins Chaos. Sämtliche Konstanten kommen ins Wanken, das Zusammenarbeiten mit der Oma im Lokal, ihre Freundschaft zu Georg, einem ihrer Mitschüler.

Alina Bronsky führt uns in ein Feuerwerk aus widersprüchlichen Gefühlen, ergründet mit Maserati die Frage nach der Liebe und die Bedeutung von Familie. Gleichzeitig entwickelt sich ein Abenteuer für die jungen Leute zur Findung des eigenen Selbst. Immer wieder werden Maserati, Caspar und Theo fehlgeleitet durch Missverständnisse, die durch unüberlegte, cool sein wollende Kommentare entstehen.

Sprachlich bleibt sich die Autorin treu. Ich liebe ihren bittersüßen Tonfall, auch wenn er hier aus Richtung der Oma nicht ganz so spitz wie sonst rüberkam. So liest sich der Roman zügig, lässt einen hin und wieder schmunzeln. Ich mag Bronskys Art, schwierigeren Themen die negative Energie zu nehmen und gleichzeitig eine gewisse Ernsthaftigkeit mitschwingen zu lassen.

Ich habe diese turbulente Feriengeschichte genossen und empfehle sie gern weiter.

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Veröffentlicht am 17.04.2022

Liebe mit Hindernissen

Liebesheirat
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Yasmin und Joe sind ein frisch verliebtes Paar, beide Ärzte, die von ihrer jungen Liebe so überzeugt sind, dass sie bald heiraten wollen. Doch zunächst müssen sich die sehr unterschiedlichen Familien kennenlernen. ...

Yasmin und Joe sind ein frisch verliebtes Paar, beide Ärzte, die von ihrer jungen Liebe so überzeugt sind, dass sie bald heiraten wollen. Doch zunächst müssen sich die sehr unterschiedlichen Familien kennenlernen. Joes Mutter ist eine sehr offenherzige Feministin, Yasmins bengalische Eltern sind extrem konservativ. Ob das gut geht?

Yasmin macht sich große Sorgen deswegen und natürlich gibt es Probleme, sie gehen nur in eine ganz andere Richtung als die Leser:innen zunächst vermuten. So lernen wir nach und nach die beiden Familien kennen. Dabei führt uns Monica Ali vor Augen, wie die britische bzw. westliche Gesellschaft so tickt. Wir mögen spontan die erfolgreichen Charaktere, die hart gearbeitet haben, um ihren Platz im Leben zu finden. Dabei haben auch die Underdogs ihre liebenswerten Züge und hoch gebildete Menschen benehmen sich manchmal kindisch, was sie dann ziemlich nervig erscheinen lässt.

Ich habe diese Gesellschaftskritik gern gelesen, weil sie als solches überhaupt nicht penetrant war, geschweige denn vorwurfsvoll. Viele Themen unserer Zeit wie Alltagsrassismus, Frauenfeindlichkeit und Diversität, aber auch verdienstabhängige Wertschätzung und Arbeitsverdichtung werden angesprochen, jeweils als kleiner Anschubser für weitere eigene Gedanken dazu. Dabei schwingt immer mal wieder Situationskomik mit, die den Geschehnissen ein Stückweit die Schwere nimmt. Darüber hinaus bedient sich Monica Ali einer attraktiven Sprache, die leichtgängig zu lesen ist.

Etwas kritisch sehe ich den anteilig großen Umfang zum Aufbau des Problemfeldes und die meinem Empfinden nach zu schnelle und zu harmonische Auflösung kurz vor Schluss. Beim Aufbau verliert sich die Autorin zeitweise in Nebenhandlungen, die für die eigentliche Geschichte gar nicht notwendig wären. Vielleicht übernimmt sie sich auch ein wenig, was die Gesamtanzahl an Problemen innerhalb der beiden Familien angeht. Jedenfalls wird bis kurz vor Schluss ein Berg scheinbar unlösbarer Probleme angehäuft, die sich dann in der Folge eines cleveren Schachzuges in der Handlung mehr oder weniger auflösen. Darunter leidet die Glaubwürdigkeit. Wenn man diesen Fakt nicht all zu ernst nimmt, kann man hier gut unterhalten werden.

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Veröffentlicht am 17.04.2022

Mystisch und Düster

Unser Teil der Nacht
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Ich habe mich selten so schwer getan, einen Roman zu bewerten wie diesen. „Unser Teil der Nacht“ löst bei mir ambivalente Gefühle aus, weshalb ich nicht so recht weiß wie ich den Roman einordnen soll. ...

Ich habe mich selten so schwer getan, einen Roman zu bewerten wie diesen. „Unser Teil der Nacht“ löst bei mir ambivalente Gefühle aus, weshalb ich nicht so recht weiß wie ich den Roman einordnen soll. Über weite Strecken mochte ich den Roman sehr, die literarische Aufbereitung der Umgebung, die Natur, die Mystik und die eindrucksvollen Gebäude. Doch von dem Schönen wechselt der Roman mehrfach in die Abgründe des Menschseins, schockiert die Leserschaft.

Zunächst begleiten wir Juan und seinen Sohn Gaspar auf der Flucht. Wovor die beiden fliehen erschließt sich erst nach uns nach, die Notwendigkeit zur Flucht ist schon direkt ersichtlich. Juan scheint verletzt, mindestens unheimlich erschöpft zu sein. Die Beziehung zwischen Vater und Sohn wirkt unbeholfen, man merkt sofort, dass die Mutter fehlt. Sie ist unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen.

Eingebettet ist die Geschichte in die Zeit der Militärjunta in Argentinien, andauernd verschwinden Menschen spurlos, überall lauert Gefahr. Es gibt okkulte Glaubensgemeinschaften und allerlei befremdliche Formen der Huldigung gottähnlicher Gestalten, insbesondere auch der Dunkelheit. Genau hier liegt die Ursache für meine gegensätzlichen Gefühle. Das Mystische rund um den Orden, dem Juan und Gaspar angehören gefällt mir gut, auch die Beschreibungen zu den sogenannten dunklen Orten. Die Rituale zur Stärkung von Juan sind für mich zwar noch akzeptabel, lassen mich allerdings schon ein wenig die Nase rümpfen. Manche Szene der Gewalt, ganz besonders wenn auch Kinder davon betroffen sind, löst Abscheu und Ekel aus. Das war einfach nur abstoßend. Es hat mich nach so einer Passage Überwindung gekostet, weiter zu lesen.

Letztlich zeigt uns Mariana Enriquez, dass Macht auf wenige Schultern verteilt, keine ausgewogene und gerechte Gesellschaft garantiert, auch wenn die Wenigen hochgebildet und mit besten Absichten gestartet sind. Den höheren Zielen fallen die Schwachen zum Opfer. Dabei ist es ganz egal, wer die Elite darstellt, ob Militärjunta oder Ordensgemeinschaft. Die Demonstration dieses Sachverhalts gelingt der Autorin so eindrucksvoll, dass es den Leser:innen eigentlich schon körperlich weh tut.

Ich kann jetzt nicht behaupten, die Lektüre durchgehend genossen zu haben, aber ich bin zufrieden, dass ich mir diese Geschichte zugemutet habe. Der Mensch an sich kann eben auch böse und zu perfiden Handlungen fähig sein. Das Wissen darüber blenden wir nur all zu gern aus. Insgesamt sollte man für diesen Roman nicht zart besaitet sein. Für mich war „Unser Teil der Nacht“ eine intensive, gleichzeitig interessante Leseerfahrung.

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