Profilbild von dj79

dj79

Lesejury Star
offline

dj79 ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit dj79 über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 28.12.2021

Zukunftsvision: Konsumwahn plus Vereinsamung

Die Flüchtigen
0

Die Flüchtigen von Alain Damasio ist ein herausforderndes Meisterwerk und eins meiner Lesehighlights in 2021. Schon die äußere Erscheinung ist beeindruckend. Der halbtransparente Kolibri in der Bubble-Cloud ...

Die Flüchtigen von Alain Damasio ist ein herausforderndes Meisterwerk und eins meiner Lesehighlights in 2021. Schon die äußere Erscheinung ist beeindruckend. Der halbtransparente Kolibri in der Bubble-Cloud ist gerade noch zu erkennen, Licht und Schatten erscheinen unbestimmt. Fast gar nicht zu erkennen sind Autor und Titel des Romans. Beides lässt sich leichter fühlen als lesen. Alles schwimmt, scheint ständig in Bewegung zu sein. So gibt bereits das Cover in Grundzügen preis, was die Leser:innen erwartet.

Es gibt eine urbane Legende, wonach sogenannte Flüchtige existieren, die in toten Winkeln leben, immer dort, wohin wir Menschen gerade nicht schauen und dadurch für uns nicht wahrnehmbar sind. Lorca und Sahar, die Protagonisten des Romans haben vor zwei Jahren ihre Tochter Tishka verloren. Sie ist einfach über Nacht aus ihrem Kinderzimmer verschwunden, ohne dass es auch nur einen Hinweis auf einen Einbruch oder Ähnliches gegeben hätte. Während Sahar an eine Entführung glaubt und sich an Schreckensszenarien zermartert, verfolgt Lorca die Theorie der Flüchtigen. Er vermutet, Tishka ist mit den Flüchtigen mitgegangen. Deshalb lässt er sich auch zum Flüchtigenjäger ausbilden. Lorca glaubt fest daran, dass seine Tochter am Leben ist und dass er sie wiederfinden kann.

Eingebettet ist die Suche nach der verschollenen Tochter in eine überwachte, von maximalen Konsum bestimmte Welt um 2040. Städte, die wir heute kennen, gehören Konzernen. Der Zutritt innerhalb der Städte ist über Tarife geregelt. Für ein bequemes Leben, braucht es schon mindestens ein Premiumpaket. Darüber hinaus wird jeder ständig mit personalisierter Werbung gequält. Die Menschen insgesamt wirken gehetzt. Zur Finanzierung des eigentlich Unnötigen müssen sie teilweise erniedrigenden Jobs nachgeben. Für echtes Miteinander bleibt keine Zeit, das letzte Fünkchen Freizeit verbringen die Menschen in ihrer virtuellen Realität. Jeder verliert sich somit in der für ihn gedachten Blase.

Damasio zündet mit seinem Roman ein regelrechtes Feuerwerk kreativer Fortschreibung unseres aktuellen Lebens in die Zukunft, immer gespickt mit einem Pfund Gesellschaftskritik. Es ist kaum möglich, im Nachhinein alle Aspekte seines Romans wiederzugeben, geschweige denn, dies in sortierter Form zu tun. Damasio beschäftigt sich mit unserem rücksichtslosen Überkonsum und dessen Folgen für Flora und Fauna, mit den Möglichkeiten des technischen Fortschritts, wie dieser uns mental und körperlich evolutionstechnisch zurück schreiten lässt, sowie mit sozialer und kultureller Ausgrenzung. Dabei bedient sich der Autor einer gehobenen, mal wissenschaftlichen, mal philosophischen Sprache, die insgesamt noch recht flüssig lesbar ist.

Das ist allerdings noch nicht das Ende seiner kreativen, in meinen Augen schon künstlerischen Arbeit. Damasio fügt Besonderheiten in der Typografie ein. Der normale Fließtext wird mit zusätzlichen Zeichen angereichert, die die Leser:innen führen. Teilweise sind Buchstaben unvollständig. Keine Sorge, durch die langsame Einführung lässt sich das gut verstehen. Im Verlauf arbeitet der Autor zusätzlich mit Schüttelwörtern, was ich faszinierend fand, weil das beim Lesen, sobald man sich darauf eingelassen hat, automatisch wieder ausgeglichen wird.

Mich konnte Damasio begeistern. Sein Ideenreichtum hat mich maximal überzeugt. Ich kann nicht behaupten, all seine Ausführungen zu hundert Prozent verinnerlicht, also mir gemerkt zu haben. Es ist halt kein Roman zum Nacherzählen. Entscheidender für mich war der Gesamteindruck, den der Roman mir vermittelt hat, und die Empfindungen, die er bei mir ausgelöst hat. Die Flüchtigen und die Menschen in ihrer KI-Blase haben mich intensiv, auch in den Lesepausen beschäftigt. Selbst jetzt, wo ich die Lektüre beendet habe, wirkt der Roman noch nach.

„Die Flüchtigen“, der etwas über ein Kilo schwere Roman von Alain Damasio benötigt Zeit. Aus meiner Sicht macht es keinen Sinn, den Roman in Zehn-Seiten-Tranchen zu lesen. Gerade deshalb empfehle ich diesen hervorragend komplexen Roman gern all denjenigen, die mal ihre Komfortzone verlassen wollen und offen für experimentelles Lesen sind. Es lohnt sich.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 28.12.2021

Hommage

Die Unzertrennlichen
0

Der bisher unveröffentlichte Roman von Simone de Beauvoir ist eine liebevolle Homage an ihre Jugendfreundin Zaza. Im Roman bedient sich die Autorin zweier stellvertretenden Rollen, Silvie für sich selbst ...

Der bisher unveröffentlichte Roman von Simone de Beauvoir ist eine liebevolle Homage an ihre Jugendfreundin Zaza. Im Roman bedient sich die Autorin zweier stellvertretenden Rollen, Silvie für sich selbst und Andrée für Zaza, um ihre autofiktionale Geschichte zu erzählen. Sie beginnt mit dem Kennenlernen in der Schule und endet mit dem sehr frühen Tod von Andrée. Die Geschichte selbst reflektiert die Rolle der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft Frankreichs. Thematisiert werden neben dem Zugang zu Bildung, Anforderungen an die Häuslichkeit einer jungen Dame sowie der eingeschränkte Bewegungsspielraum von sittsamen Frauen zu jener Zeit. Der gesamte familiäre Werdegang einer jungen Frau wird von der eigenen Mutter gemäß der festgelegten Wünsche der Familie überwacht.
 
So ergibt sich eine eingetrübte Stimmung im Roman, der die vielen kleinen Enttäuschungen von Silvie und Andrée aufsummiert. Die Hauptlast trägt Andrée. Von Kinder-Hüten bis Handarbeit hat Andrée viele Jobs, kaum Zeit für Freigeisterei. Da Andrée jedoch einen starken Hang zum Freigeist hat, ist Alles Unterdrückung für sie. Ich selbst hätte ebenfalls Schwierigkeiten so zu leben. Keine freie Auswahl hinsichtlich der Lektüre, keine zuverlässige Freizeit, um sie Freunden oder selbstgewählten Freuden zu widmen, kein selbstbestimmtes Leben.
 
In einem beschreibenden, aber nicht blumigen Stil erinnert sich Simone de Beauvoir an ihre Freundin. Als Quelle dienen ihr Briefe aus der gemeinsamen Korrespondenz, von denen einige im Anhang abgebildet und in Teilen auch übersetzt sind. Darüber hinaus sind Fotos der Freundinnen im Anhang zu finden. Dadurch gewinnt der Roman an Authentizität.
 
Mir hat die Unzertrennlichen gut gefallen, macht der Roman uns doch bewusst, wie viel Gleichberechtigung wir heute im Vergleich zu 1929 bereits erfahren haben, gleichzeitig auch, dass es sich lohnt in dieser Hinsicht am Ball zu bleiben, da langfristig tatsächlich ein wahrnehmbarer Effekt generiert wird.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 24.11.2021

Nichts ist so, wie es scheint

Das Geschenk
0

Klaus ist Witwer. In diesem Zustand haben ihn Kathrin und Peter lange nicht besucht. Die letzte Begegnung ist auf die Beerdigung seiner Frau zu datieren. Als Klaus die beiden nach Jahren plötzlich zu Weihnachten ...

Klaus ist Witwer. In diesem Zustand haben ihn Kathrin und Peter lange nicht besucht. Die letzte Begegnung ist auf die Beerdigung seiner Frau zu datieren. Als Klaus die beiden nach Jahren plötzlich zu Weihnachten in sein Wochenendhaus einlädt, sagt Kathrin aus Mitleid spontan zu. Peter ist das gar nicht recht, eine Notlüge wäre angebracht gewesen. Trotzdem machen sich die beiden auf und fahren ein paar verwirrenden Feiertagen entgegen.

Sharon, die sehr junge neue Freundin von Klaus, öffnet dem Paar bei ihrer Ankunft die Tür und bringt das Weltbild der Beiden mächtig ins Wanken. In den Jahren ohne Kontakt hat sich in den Köpfen ein Bild von Klaus manifestiert, dass mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun hat. So ergeben sich während der Feiertage in der Enge des Wochenendhauses immer wieder skurrile Situationen, die Kathrin und Peter zweifeln lassen, an der eigenen Wahrnehmung und an sich selbst.

Die Paare müssen sich quasi ganz neu kennen lernen. Sie müssen einsehen, dass mehr frühere Ehrlichkeit manches Missverständnis hätte vereiteln können. Vielleicht hätte man auch den Kontakt aufrecht erhalten sollen.

Auch wenn Alina Bronsky nicht ganz so bissig wie in ihren letzten Romanen daherkommt, ist es amüsant, die Gedanken der Beteiligten zu verfolgen und ihr Verhalten zu beobachten. Alle sind in ihrer Erwartungshaltung gefangen, können die Wahrheit schwer aushalten. So porträtiert die Autorin typische Fehleinschätzungen unserer Gesellschaft und lässt diese durch das Setting zu Weihnachten mit viel gemeinsamer Zeit unter dem Brennglas wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Gute Beobachtung, sehr zu empfehlen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 22.11.2021

Einblick in eine fremde Welt

Die Enkelin
0

Ich weiß gar nicht mehr so recht, was ich von diesem Roman erwartet hatte, aber das, was ich jetzt gelesen habe, bestimmt nicht. Die Auseinandersetzung mit der völkischen Gemeinschaft war intensiv, sehr ...

Ich weiß gar nicht mehr so recht, was ich von diesem Roman erwartet hatte, aber das, was ich jetzt gelesen habe, bestimmt nicht. Die Auseinandersetzung mit der völkischen Gemeinschaft war intensiv, sehr detailliert, differenziert und in seinen Auswirkungen auch ganz schön extrem. Ein paar Mal musste ich schlucken. Vermutlich war ich innerhalb dieses thematischen Rahmens recht naiv unterwegs.

Die Anlage der Figur der Sigrun hat mir gut gefallen. Ausgehend von ihrem Aufwachsen in der völkischen Gemeinschaft entwickelt Sigrun Werte, die ihr auch nach der Erweiterung ihrer Welt wichtig bleiben. Egal, welche Perspektiven und Sichtweisen ihr logisch hergeleitet werden, von einigen Ansichten kann sie sich nicht lösen. Bernhard Schlink beschreibt sehr deutlich, dass Zukunft eine Herkunft hat. Nicht jedem Menschen ist jede beliebig positive Entwicklung möglich. Manchmal sind durch Erziehung, Glaube oder auch besondere Ereignisse einige Wege bereits versperrt.

Mit Svenja tat ich mich da schon schwerer. Sie war mir einfach zu passiv. Ich verstehe, dass sie Björn dankbar ist für ihre Rettung aus dem dunkelsten Tal ihres Lebens. Dennoch hätte ich mir von einer in der DDR sozialisierten Frau weniger Hörigkeit gewünscht.

Am Ende ist „Die Enkelin“ für mich ein nachdenklicher Roman, über Verlust von geliebten Menschen, Verlust von Identität. Der Roman ruft auf, sich vor zu schnellem Urteilen zu hüten. Schön fand ich Kaspars Einsicht, Sigrun so lieben zu müssen wie sie ist, bedingungslos oder gar nicht. Echte Zuneigung kann nicht an die „richtigen“ politischen Ansichten geknüpft werden. Somit konnte ich letztlich auch die klischeebedienende Rollenverteilung verzeihen, die mir in der ersten Hälfte des Romans sauer aufgestoßen war.

Der gut lesbare Roman zog mich immer tiefer in seinen Bann. Ich war erschrocken, gleichzeitig fasziniert von einer mir bisher unbekannten Welt innerhalb unseres Landes. Für mich ist erstaunlich, wie bestimmte Gruppierungen die Bedürfnisse und Sehnsüchte der Menschen offensichtlich besser bedienen als unsere Gesellschaft an sich. Der Einblick, den uns der Autor gewährt, war interessant, hatte einen aufklärenden Touch. Ich kann die Lektüre nur empfehlen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 15.11.2021

Schwere Kost als Augenöffner

Das Archiv der Träume
0


Zunächst war ich mir nicht ganz sicher, ob ich tatsächlich einen Roman lesen möchte, der die Misshandlung einer Frau zum Inhalt hat. Letztlich hat mich dann doch die Möglichkeit, toxische Szenarien in ...


Zunächst war ich mir nicht ganz sicher, ob ich tatsächlich einen Roman lesen möchte, der die Misshandlung einer Frau zum Inhalt hat. Letztlich hat mich dann doch die Möglichkeit, toxische Szenarien in Zukunft besser zu erkennen, überzeugt. Darüber hinaus hat mich die Umsetzung interessiert. Schließlich war der Roman vielschichtig, genrewechselnd und in diesem stressigem Kontext mit witzigem Charme angekündigt. So wagte ich den Einstieg in Carmens gerade erst erwachendes Liebesleben.

Natürlich ist es keine leichte Kost. Anfangs betrachten wir Carmen in verschiedenen Liebschaften zu Männern, begleiten sie dann beim Comingout und lernen Carmen in ihrer queeren Beziehung richtig kennen. Langsam sehen wir die Beziehung ins Toxische abgleiten. Erste Anzeichen sind schnell vorhanden, aber genau wie Carmen möchte man diesen Fakt nicht richtig wahr haben. Vielmehr fühlte ich mit Carmen und ging den eingeschlagenen Weg mit. Zwei Schlüsselmomente haben mich dann allerdings innerlich mit der toxischen Frau Schluss machen lassen. Es waren zutiefst verletzende, gleichzeitig schockierende Situationen, die mich wachgerüttelt haben. Carmen hatte dieses Loslösen für sich nicht umsetzen können, wodurch sich letztlich ihr Martyrium manifestiert hat.

Carmen Maria Machado wählt kurze Kapitel mit immer gleich startenden Titeln, wodurch sich ein Kaskadeneffekt generiert. Über weite Strecken liest sich der Roman fast wie ein Thriller. Es ist gefährlich, die Spannung ist ansteigend. In sachbuchähnlichen Kapiteln werden verschiedenste Aspekte des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die Carmen Maria Machado für ihre Geschichte als Einflussfaktionen wahrnimmt, erklärt. Sie bemüht unzählige Gleichnisse aus der Popkultur, um uns Leser:innen ihre emotionale Lage transparent zu machen. Diese eher sachlich orientierten Kapitel ließen mich innehalten, ermöglichten mir ein Verdauen der psychischen Schreckensmomente.

Die meiste Zeit konnte mich die Autorin in dieser Weise erfolgreich mitnehmen. Nur zum Ende hin habe ich ihren Stil mit Langatmigkeit verbunden. Hier wäre mir weniger Erklärung lieber gewesen. Dafür hätte ich mir einen gefühlsmäßig nachvollziehbar positiven Fokus auf ihr Leben nach der toxischen Beziehung gewünscht. Es war ein bisschen schade, dass darauf nicht intensiver eingegangen wurden. Dadurch behält der Roman seinen eher hoffnungslosen Touch. Insgesamt hat mir die Auseinandersetzung dennoch gefallen. Ich habe jetzt eine andere Sichtweise auf ein Tabuthema unserer Zeit.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere