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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 04.10.2021

Literarischer Danny Boy

Reise durch ein fremdes Land
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Es ist Winter, Weihnachten steht kurz vor der Tür. Nach tagelangen Schneefällen sind die Flughäfen dicht. Toms Sohn, Luke, der außerhalb studiert ist fiebrig krank, soll nicht in seiner Studenten-WG einsam ...

Es ist Winter, Weihnachten steht kurz vor der Tür. Nach tagelangen Schneefällen sind die Flughäfen dicht. Toms Sohn, Luke, der außerhalb studiert ist fiebrig krank, soll nicht in seiner Studenten-WG einsam zurückbleiben. Deshalb macht sich Tom mit ordentlich Proviant und guter Musik auf den Weg durch die winterliche Landschaft, um seinen Sohn nach Hause zu holen. Doch schnell wird klar, dass irgendetwas nicht stimmt in Toms Familie, vielleicht auch zwischen Vater und Sohn.
 
Die eigentliche Handlung des Romans ist begrenzt auf die Autofahrt mit ihren winterlichen Herausforderungen. Spannender sind die Gedanken, denen Tom währenddessen nachhängt, die Visionen, die sich ihm dabei immer wieder aufdrängen. Die Stimmung ist düster, fast ein bisschen morbide. Depression und Schwermut werden thematisiert, einige Überlegungen auf  Nordirlandkonflikt gerichtet. Die Betrachtungsweise entspricht dem Blick durch die Linse beim Fotografieren. Es entsteht also auch im Rückblick keine durchgehende Geschichte. Stattdessen wird der Fokus auf einzelne, ausschlaggebende Situationen gerichtet, die das Leben in Toms Familie maßgeblich beeinflusst haben. Am Ende betrachtet man ein Gesamtgebilde, in dem die bittere Wahrheit offen liegt.
 
Der Blickwinkel des Autors hat mich eine ganze Weile irritiert. Ich brauchte etwas, um das eigentliche Problem einzugrenzen. Letztlich war dieses Schwammige zu Beginn dennoch förderlich. Nur so konnte ich mich in Tom richtig einfühlen, meine Perspektive für seine Situation schärfen. Typen wie ihn steckt man gern in eine Schublade, die nicht gerechtfertigt ist. Sprachlich habe ich den Roman als angenehm empfunden, schon irgendwie schön, obwohl das Lesen an sich durch die bedrückende Atmosphäre nicht so vergnüglich war. Die ein oder andere Pause war notwendig, um das Gelesene wirken zu lassen. Auch wenn thematisch nicht so erfreulich, habe ich meine Gedanken zum Roman gern weiterfließen lassen.
 
Insgesamt mochte ich diesen traurigen Roman, der auch die ganze Zeit über etwas von Abschied hatte, Abschied vom Fotografen-Beruf als aussterbende Spezies, Abschied vom Sohn, aber auch Abschied von einer lebenslangen schweren Last. In diesem Sinne hatte der Roman etwas von der inoffizielle Hymne der Iren, Danny Boy. Diese Assoziation hat sich mir gerade zum Ende hin regelrecht aufgedrängt. Passend zur dunkleren Jahreszeit empfehle ich David Parks Roman gern.

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Veröffentlicht am 27.09.2021

Sensibler Typ in der Rüstung des harten Mannes

Barbara stirbt nicht
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Walter Schmidt liebt seine Ehefrau Barbara, auch wenn ihm das in all den Jahren, die sie nun schon verheiratet sind, nicht immer gleichermaßen bewusst gewesen ist. Geheiratet hatten sie, weil ein Kind ...

Walter Schmidt liebt seine Ehefrau Barbara, auch wenn ihm das in all den Jahren, die sie nun schon verheiratet sind, nicht immer gleichermaßen bewusst gewesen ist. Geheiratet hatten sie, weil ein Kind unterwegs war. Die folgenden Jahre der gegenseitigen Pflichterfüllung hat das Paar in der klassischen Rollenverteilung verbracht und später vergessen, diese Routine aufzulösen. Als Barbara eines Tages, als sie längst in Rente sind, am Boden liegt und nicht mehr aufstehen kann, ist Walter von einem Moment auf den anderen als Hausmann gefragt.

Es beginnt eine verrückte Odyssee. Die alltägliche Versorgung von Mensch und Tier stellt Walter vor ungeahnte Herausforderungen. Mit dem Charme von Ekel-Alfred ergründet er die Geheimnisse der Küche, merkt wie viel Aufwand schon allein Einkaufen und Kochen macht. Obwohl sie ihn nicht mehr unterstützen kann, wächst Walters Respekt und Achtung vor seiner Frau immer weiter. Ich mag diesen grummelnden Alten. Nicht nur sein Durchhaltevermögen finde ich bewundernswert, sondern auch, dass er mindestens in seiner Innensicht, Gefühle zulassen kann, die er sich all die Jahre nicht erlaubt, die er unterdrückt hat. Es schickt sich halt nicht für einen Mann.

Alina Bronsky hat wieder alles gegeben und ihren besonderen Humor hoch leben lassen. Sie legt Walters bitterböse Gedanken, die jeder von uns manchmal, Walter allerdings bei jeder Kommunikation mit seinen Mitmenschen hat, ungeschönt offen. Sein Weltbild wurde in der Nachkriegszeit geformt, hat nie eine Modernisierung erfahren. Die Autorin übt an gewissen, antiquierten, noch weit verbreiteten Verhaltensweisen Kritik, indem sie die Figur des Walters total überzeichnet. Alina Bronsky macht aber ebenso deutlich, dass unter der harten Schale dieses Mannes auch ein liebenswerter weicher Kern steckt.

Neben Walter spielen auch die Kinder, Sebastian und Karin, eine kritische Rolle. Die Zusammenkünfte als ganze Familie beschränken sich auf hohe Feiertage bis zu dem Moment als Barbara nicht mehr aufstehen kann. Plötzlich stehen sie ständig vor der Tür und überfordern damit nicht nur sich selbst, sondern auch Walter, wahrscheinlich auch Barbara. Dieser Teil von Alina Bronskys Gesellschaftskritik gibt mir auch persönlich zu denken.

Insgesamt war es ein Feuerwerk der bitterbösen Komik, das ich gern weiterempfehle. Das i-Tüpfelchen des Romans ist übrigens der Name des Hundes, den ich natürlich nicht verrate.

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Veröffentlicht am 23.09.2021

Das Schicksal kann gemein sein

Der Kolibri
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Nachdem ich ein paar Seiten in den Roman von Sandro Veronesi hineingelesen hatte, vermutete ich eine eine Dreiecksgeschichte zwischen Marco Carrera und zwei Frauen. Angekündigt als Komödie und Tragödie ...

Nachdem ich ein paar Seiten in den Roman von Sandro Veronesi hineingelesen hatte, vermutete ich eine eine Dreiecksgeschichte zwischen Marco Carrera und zwei Frauen. Angekündigt als Komödie und Tragödie zugleich, hatte ich einen bequem lesbaren, von Liebe und Eifersucht getragenen Roman erwartet. Bekommen habe ich etwas ganz anderes, mehr Realität, mehr echtes Leben, eine ganze Familie.

Der Kolibri, das ist der Protagonist dieser Geschichte, seiner Lebensgeschichte, der Augenarzt Marco Carrera. Wir begleiten ihn von der frühen Jugend bis ins Alter, jedoch nicht in der Reihenfolge wie sein Leben wirklich stattfindet, sondern bruchstückhaft in bunt gemischten Puzzleteilen. Dabei starten wir in den 1970ern, tangieren die Gegenwart und tauchen auch ein Stück weit in die Zukunft ein. Durch den Kunstgriff des fortgesetzten Zeitstrahls kann der Autor aktuelle Geschehnisse, Themen und Formate rückblickend aus der Zukunft betrachten. Das hat mir besonders im Kapitel „Der neue Mensch“ gefallen.

Marco Carrera selbst ist ein Mann ganz nach meinem Geschmack: gebildet, trotzdem bodenständig, ein Familientyp, pflichtbewusst und liebevoll. Obwohl Marco seine Jugendliebe niemals vergessen konnte und sie sein Leben lang letztlich doch geliebt hat, blieb er seiner Familie, Frau und Kind, treu ergeben. Mit Demut ertrug er die Schicksalsschläge, die das Leben für ihn bereit hielt, fügte sich fortwährend in seine Rolle und bereicherte das Leben seiner Mitmenschen. Ich hatte Marco sehr gern. Schließlich hätte er sich auch in eine negative Richtung ähnlich wie sein bester Freund entwickeln können.

Etwas hadern tue ich mit dem Geständnis des Psychoanalytikers von Marcos Frau zu Beginn des Romans in Kombination mit der Geschichte, die dann folgt. Er behauptet nämlich, Marco sei in Gefahr. Gleichzeitig teilt er ihm mit, dass Marcos Ehefrau schwanger von einem deutschen Piloten ist. Ein extremer Aufschlag, auf den später gefühlt nicht mehr eingegangen wird. Dennoch hat der Psychoanalytiker von Beginn an Recht, als könnte er hellsehen. Ein bisschen verwirrend, insgesamt aber stimmig. Genossen habe ich in diesem Zusammenhang die Gespräche zwischen dem Augenarzt und dem Psychoanalytiker. Sehr komisch, vielleicht typisch kurz und knapp, wo auf ein Schweigen ein Schweigen folgt und auch dies einen Teil des Dialogs darstellt.

Am Ende habe ich einen komplexen Roman gelesen, der mich zwischendurch fast abgehängt hätte. Freundlicherweise hat Sandro Veronesi seine Kapitelüberschriften mit Jahreszahlen ergänzt, so dass eine Orientierung noch möglich war. Sprachlich waren manche Formulierungen etwas holprig für mich, manche Aufzählungsarie war mir zu viel, weil dann mein Lesen eine zu starke Beschleunigung erfuhr, bis ich ins Stolpern geriet. Die literarische Herausforderung hat sich für mich gelohnt, da sich wie erhofft ein Gesamtbild der Geschichte ergibt, das mir gefällt. Zudem war ich nach der Lektüre so gerührt, dass ich ein, zwei Tränen nicht halten konnte.

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Veröffentlicht am 23.09.2021

Spannender Klimathriller

Dürre
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In seinem neuen Thriller beschäftigt sich Uwe Laub mit dem Klimawandel und gibt damit einer der größten Herausforderungen unserer Zeit genau den Raum, den sie verdient. Die Notwendigkeit zum Aufhalten ...

In seinem neuen Thriller beschäftigt sich Uwe Laub mit dem Klimawandel und gibt damit einer der größten Herausforderungen unserer Zeit genau den Raum, den sie verdient. Die Notwendigkeit zum Aufhalten bzw. zum Verlangsamen der Erderwärmung ist fast jedem heute klar. Doch wo und wie ansetzen, damit es wirklich funktioniert und gleichzeitig gerecht zugeht?

Ausgehend von den wiederkehrenden Dürren, die es inzwischen auch in Europa gibt, setzt der Autor das heutige Szenario glaubwürdig in die nahe Zukunft fort. Europa kämpft mit Hungersnot. Erzeugte Lebensmittel sind Staatseigentum, das dann auf die Bevölkerung verteilt wird. Satt wird kaum einer. Gleichzeitig wird alles, was man tut, hinsichtlich des CO2-Abdrucks von einer App überwacht und bewertet. Verbraucht man zu viel CO2-Credits drohen Strafzahlungen, die sich kein Otto Normalverbraucher mehr leisten kann.

Vor diesem Hintergrund geraten Julian und Leni ins Visier der Behörden, nachdem ein Kurzschluss an den Solarpanels ihrer Scheune einen Brand verursacht. Obwohl die beiden jungen Leute eigentlich ganz gut mit den alltäglichen Widrigkeiten zurecht gekommen waren, werden sie jetzt regelrecht aus der Bahn geschleudert. Dabei wirkt Julian zunächst unerwartet naiv. Seine menschliche Seite und seine Gutmütigkeit erzeugen ein Verhalten, das ihn immer tiefer in die Spirale der staatlichen Sanktionen hineintreibt. Es dauerte aus meiner Sicht recht lange, bis Julian in seiner Bedrohungslage wieder vernünftige Entscheidungen treffen kann. Da Leni nicht so stark im Vordergrund steht, ist bei ihr die Unbedarftheit auch nicht so auffällig. Als Helden, die in ihre Rolle erst hineinwachsen müssen, mochte ich die beiden sehr gern.

Noch interessanter war für mich allerdings Alex Baumgart. Nerds wie er sind für mich immer mit einer gewissen Faszination verbunden. Ich mag das technische Know-How, das ihm innewohnt. Seine ungelenke Art verschleiert die überdurchschnittliche Intelligenz, den Gedanken- und Erinnerungspalast, aus dem er MacGyver-mäßig eine Lösung hervorzaubert, obwohl er gerade unter absolutem Stress steht. Gefallen hat mir darüberhinaus, dass er die sich bietende Challenge aufnimmt, ohne an damit einhergehende Gefahren zu denken. Für mich ist er der wahre Held. Seine Unzulänglichkeiten habe ich ihm gern verziehen.

Insgesamt hat mir der neue Thriller gut gefallen. Wie auch schon bei Leben ist das Geschehen immer spannender geworden, bis ich in der zweiten Buchhälfte gar nicht mehr aufhören konnte zu lesen. Lediglich auf die Figur des Diego und die Wandlung seiner Rolle hätte ich verzichten können.

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Veröffentlicht am 13.09.2021

Zerstörerischer Alkohol

Shuggie Bain
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Die Geschichte bewegt sich im Glasgow der 80er Jahre. Die Zechen haben längst dicht gemacht, Arbeitslosigkeit ist weit verbreitet, ein Leben von der Stütze ist an der Tagesordnung. Die Armut und Perspektivlosigkeit ...

Die Geschichte bewegt sich im Glasgow der 80er Jahre. Die Zechen haben längst dicht gemacht, Arbeitslosigkeit ist weit verbreitet, ein Leben von der Stütze ist an der Tagesordnung. Die Armut und Perspektivlosigkeit sind schier unerträglich, so dass viele Menschen ihre Sorgen betäuben.
 
So auch Shuggie’s Mutter, Agnes, die vom Ehemann verlassen wurde und nun mit ihren drei Kindern und sich selbst total überfordert ist. Abgeschoben in eine dreckige Sozialsiedlung wartet die einstmals schöne und immer noch auf ihr Äußeres bedachte Frau auf die nächste Zuteilung vom Amt, die umgehend in Alkohol investiert wird. Für Lebensmittel reicht das Restgeld dann nicht immer, was für die Kinder einen leeren Magen bedeutet. Neue Kleidung gehört zu den Luxusgütern, die im Katalog auf Pump angeschafft werden muss. Schlimmer als die Armut an sich habe ich allerdings die Umkehr in der Fürsorge empfunden. Die noch sehr jungen Kinder, insbesondere der zunächst 8-Jährige Shuggie, müssen auf die Mutter achten, dass sie sich nichts antut, dass sie nicht verunfallt, dass sie wenigsten ein paar Münzen zum Füllen der Mägen mit einfachsten, sättigenden Nahrungsmitteln erübrigt.
 
Mein liebster und der gleichzeitig titelgebende Charakter Shuggie liebt seine Mutter nicht nur, sondern er vergöttert sie. Er gibt ihr mehr als sie ihm Fürsorge, Wärme und Geborgenheit. Nach seinen Möglichkeiten deckt er Agnes Fehlverhalten, verteidigt sie gegenüber anderen. All das tut Shuggie in einer so zarten Art und Weise, dass mir mein Herz aufging. Vor meinem inneren Auge konnte ich regelrecht diesen hübschen Jungen mit seiner stark ausgeprägten femininen Seite wahrnehmen. Es hat mich jedes Mal durchzuckt, wenn Shuggie dafür, für seine Liebenswürdigkeit in Person, Schläge einstecken musste.

Besonders wird der Roman durch den Schreibstil. Douglas Stuart schreibt aus meiner Sicht sehr atmosphärisch. Das Grau in Grau der Sozialsiedlung, der Kohlestaub sind allgegenwärtig. Die Darstellung von herrschendem Neid und Missgunst fand ich wirklich glaubwürdig. Die Übersetzung des Sprachgebrauchs der glasgower Unterschicht kommt einem in deutsch gelesen zwar erstmal etwas seltsam vor, wirkte auf mich dennoch passend. So wurde direkt vermittelt, wie unsauber die Sprache in Shuggie‘s Umfeld ist.

Letztlich ist dieser Booker Preis prämierte Roman weit entfernt von leichter Kost. Der Autor steigt tief in die Abgründe der Alkoholsucht hinab, arbeitet die Problematik der Co-Abhängigkeit von Agnes‘ Kindern deutlich heraus. Es ist kein Thema, mit dem man sich gern beschäftigt, dem man sich dennoch mit diesem Roman ein Stück weit annähern kann.

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