Zum Frieden gibt es keine Alternative
Trotzdem sprechen
"Trotzdem sprechen" ist ein Sammelband, herausgegeben von Lena Gorelik, Miryam Schellbach und Mirjam Zadoff, der sich in verschiedenen Essays mit den schwierigen politischen und gesellschaftlichen Debatten ...
"Trotzdem sprechen" ist ein Sammelband, herausgegeben von Lena Gorelik, Miryam Schellbach und Mirjam Zadoff, der sich in verschiedenen Essays mit den schwierigen politischen und gesellschaftlichen Debatten nach dem Terroranschlag der Hamas am 7.10.2023 und dem darauf folgenden Krieg in Gaza beschäftigt. Unter anderem mit Beiträgen von Carolin Emcke, Lena Gorelik, Nazih Musharbash, Maryam Zaree, Kathrin Röggla und vielen anderen.
„Seit dem Hamas-Massaker des 7. Oktobers, der Geiselnahme und dem darauf folgenden Gaza-Krieg, der in seiner menschenrechtsverletzenden Kriegsführung unzählige zivile Opfer fordert, Menschen zur Flucht, in Armut, Hunger und Unterversorgung zwingt, beobachten wir mit großer Sorge eine drastische Polarisierung im deutschen Diskurs. Die Aufarbeitung der Geschehnisse sowie die fortlaufende Kommentierung des Kriegsgeschehens in den sozialen Medien, in Meinungsartikeln und in Talkshows sind von stetig wachsenden Grabenkämpfen geprägt: Wer steht auf welcher Seite? Wer spricht mit und für wen? Wer ist dementsprechend, scheinbar, nicht mehr tragbar im Diskurs?
Diese Stellvertreterdebatten erreichen eine bisher unbekannte Note der Endgültigkeit, die den zwingend notwendig schmerzvollen Versuch unmöglich macht, ungeachtet der Meinungsverschiedenheiten am Gespräch festzuhalten: an einem Gespräch, das Zuhören beinhaltet, den Wunsch zu verstehen oder doch zumindest eine Bereitschaft, die andere Position auszuhalten.
Es kommen verschiedene Perspektiven, darunter die von Israelis und Palästinensern, zu Wort, um einen Dialog zu ermöglichen. Es mag wie eine Utopie klingen, aber in der Hoffnung, diese greifbar zu machen.
„Was wäre, wenn Meinungsverschiedenheiten nicht zu Misstrauen, sondern zu einem Lern- und Verständnisprozess führten, wenn dadurch das gegenseitige Vertrauen bestärkt würde? Wenn wir gemeinsam für eine offene, pluralistische Gesellschaft einstehen, in der unterschiedliche Biografien, Lebenswelten, Narrative nebeneinander Platz finden? Ein Vertrauen darin entwickeln, dass es nicht leicht ist, immer zu einer verbindenden Resolution zu kommen, aber dass gleichzeitig das gemeinsame Ziel nicht infrage gestellt wird?“
„Juden und Jüdinnen, muslimische Menschen, Israelis und Palästinenser:innen kennen die Komplexität des Hasses, der in alle Richtungen geht. Es gibt für mich deshalb keine Hierarchie des Leids, sondern nur ein geteiltes. Dazu braucht es eine sich selbst zugewandte Haltung der Selbstkritik, ein Mit-Fühlen mit den anderen, womit ich keine Nächstenliebe meine oder Mitleid. Ich meine ein Mit-Gefühl, das auf eine Verbindung zu meinem Gegenüber in Beziehung zu mir selbst setzt. Das eigene Schicksal und die Perspektive des anderen in sich erkennen, ein Gleichgewicht herstellen und einen Schulterschluss – gegen die Polarisierung von zwei marginalisierten Gruppen, die auf unterschiedlichen Ebenen gegeneinander ausgespielt werden, während die Zahl antisemitischer und antimuslimisch motivierter Taten drastisch zunimmt.
Ob wir es schaffen, zusammen zu sein, -zuhalten und -zubleiben, hängt also davon ab, inwiefern wir als Gesellschaft bereit sind, unsere Unterschiede und Vergangenheiten zu akzeptieren – auch diejenigen, die wir familiär geprägt in uns tragen. Niemand in diesem Land ist neutral oder unbeteiligt an dem, was gerade mit uns passiert. Wir sind alle gesellschaftlich positioniert, und unser Handeln hat genauso Konsequenzen wie unser Nichtstun. Betrachten wir unsere Gegenwart von der Zukunft aus und hoffen, dass wir das verstanden haben werden. Dass wir mehr als der Kampf der einen gegen die anderen sind, der über uns erzählt wird.“
Das Buch bietet reichlich Stoff zum Nachdenken. Dass einen dabei, wie in einer Anthologie üblich, nicht alle Beiträge gleichermaßen ansprechen, ist natürlich; dennoch kann ich dieses kluge Buch unbedingt empfehlen.
„Die öffentlichen Erwartungen, sich auf eine Seite zu stellen, sich von diesem oder jenem zu distanzieren, führen zugleich zum Verschwinden oder Abtauchen von Positionen und Perspektiven statt der ernsthaften Durcharbeitung ebendieser. Für Trauer, ein Gefühl, das als kollektiver Prozess entstehen könnte oder müsste, als gemeinschaftsstiftende Emotion, bleibt keine Zeit und findet sich kein Raum. Diese Trauer wird ins Private und in eine Sphäre der Heimlichkeit verlegt. Von all diesen Prozessen profitieren währenddessen vor allem diejenigen, die an die Macht streben, uns unser aller Freiheitsrechte beschneiden und die Demokratie aushebeln wollen: die rechtsextremen Bewegungen.“
Zum Abschluss noch ein paar der meiner Meinung nach wichtigsten Aussagen:
„Wir alle müssen wieder lernen, uns mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen und ihnen mit Argumenten zu begegnen, ja sogar aus ihnen zu lernen.“
„Ich stimme der inzwischen 102-jährigen Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer zu, die einst sagte: ‚Es gibt kein jüdisches, kein christliches und kein islamisches Blut.‘ Wir sind alle Menschen. Das Blutvergießen muss beendet werden. Zum Frieden gibt es keine Alternative.“
Vielen Dank an den Ullstein Verlag und an NetGalley für dieses Rezensionsexemplar! 📚💚