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Veröffentlicht am 30.04.2022

Ein leider nur allzu realistischer Roman

Hundepark
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Helsinki, 2016. Immer wieder sitzt sie auf derselben Bank im „Hundepark“ und beobachtet die Leute. Nun, nicht irgendwelche Leute, sondern stets diese eine Familie, die dort ihren Hund ausführt. Die adrette ...

Helsinki, 2016. Immer wieder sitzt sie auf derselben Bank im „Hundepark“ und beobachtet die Leute. Nun, nicht irgendwelche Leute, sondern stets diese eine Familie, die dort ihren Hund ausführt. Die adrette Mutter. Den engagierten Vater. Die entzückenden Kinder. Sie: Das ist Olenka, eine einst schöne, einst erfolgreiche junge Ukrainerin. Einst glaubte sie an eine glückliche Zukunft ohne Geldsorgen und mit einem geliebten Mann an ihrer Seite. Jetzt ist sie sichtlich vom Leben gezeichnet, auf der Flucht vor ihrer Vergangenheit, in Angst um ihr Leben. Und es soll noch schlimmer kommen, denn eines Tages sitzt Olenka nicht mehr allein auf ihrer Bank. Unvermittelt taucht Dana auf, genauso abgezehrt und heruntergekommen wie sie selbst. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass es Olenka war, die Dana ins Unglück stürzte. Und die scheint nun auf Rache aus zu sein …

„Hundepark“ mutet anfänglich wie ein Thriller an – und es gelingt Sofi Oksanen vortrefflich, die Spannung subtil aufrechtzuerhalten –, doch der Roman ist weit mehr als das. In Rückblenden zeichnet die Ich-Erzählerin Olenka ihr Leben bis zu dem schicksalhaften Wiedersehen mit Dana nach: ihre Kindheit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, die Versuche der Menschen, sich in der plötzlich veränderten politischen und gesellschaftlichen Ordnung zurechtzufinden, die alten Seilschaften und Mentalitäten, die sich nicht mit einem Handstreich wegwischen lassen – und die neuen „Geschäftsmodelle“, die sich unvermutet daraus ergeben.

Und damit eröffnet sich der eigentliche Themenkomplex des Romans, denn in ein solches „Geschäftsmodell“ gerät unversehens Olenka, das erfolglose Model, das zwar keine nennenswerte Ausbildung besitzt, dafür aber über etwas anderes verfügt: gesunde Eizellen. Ein Gut, für das wohlhabende europäische Paare, deren Kinderwunsch bislang unerfüllt blieb, bereit sind, sehr viel Geld zu zahlen. Und das ansonsten chancenlosen jungen Frauen eine vermeintliche Perspektive bietet. Doch wo große Umsätze locken, ist gemeinhin die Ausbeutung nicht fern, wird aus der Medizin eine Industrie. Mit Gewinnern auf der einen – und Verliererinnen auf der anderen Seite.

Bis ich „Hundepark“ von Sofi Oksanen (aus dem Finnischen von Angela Plöger) vor einigen Wochen las, war mir nicht bekannt, dass die Ukraine eines der wenigen Länder ist, in denen eine kommerzielle Leihmutterschaft gesetzlich erlaubt ist. Noch hätte ich vermutet, was diese Kommerzialisierung für die Leihmütter mitunter bedeuten kann. Und am allerwenigsten hätte ich geahnt, wie grundlegend und dramatisch sich die Situation in der Ukraine kurz nach meiner Lektüre ändern sollte. Ein brutaleres Zusammentreffen von Fiktion und Realität ist kaum vorstellbar, denn natürlich sind auch die ukrainischen Leihmütter von dem Angriffskrieg betroffen (in den Medien finden sich wiederholt Beiträge und Berichte zu ihrer Situation).

Eine Leseempfehlung ist in diesem Kontext für mich nur schwer uneingeschränkt auszusprechen, doch möchte ich betonen, dass das ausschließlich an der grausamen Lebenswirklichkeit liegt, und keineswegs an dem Roman. Der ist in ganz besonderem Maße lesenswert!

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Veröffentlicht am 29.03.2022

Mitreißend und aktuell

Die Kinder sind Könige
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Nichts wünscht sie sich sehnlicher, als berühmt zu werden. Bekannt. Begehrt. Bewundert. Und: geliebt. Denn das ist es doch, was Berühmtheit bringt, oder nicht? Mit dem Aufkommen neuer Fernsehformate wie ...

Nichts wünscht sie sich sehnlicher, als berühmt zu werden. Bekannt. Begehrt. Bewundert. Und: geliebt. Denn das ist es doch, was Berühmtheit bringt, oder nicht? Mit dem Aufkommen neuer Fernsehformate wie „Big Brother“ scheint Mélanies Traum zum Greifen nah: Um im Reality-TV durchzustarten, bedarf es weder einer Modelfigur noch ausgeprägter Talente. Ihr erster Versuch scheitert kläglich; Mélanie ist, wie es scheint, nicht schön genug, nicht sexy genug, nicht extrovertiert genug, einfach: „nicht genug“. Das ändert sich, als Mélanie Mutter zweier entzückender Kinder wird – und entdeckt, dass ein süßes kleines Mädchen und ein aufgeweckter kleiner Junge in jeglicher Hinsicht „genug“ sind, und sogar mehr als das. Innerhalb kurzer Zeit wird Mélanie dank der – immer professioneller gestalteten – Videos und Storys ihrer Kleinen zu einer der bekanntesten und (einfluss-)reichsten „Momfluencerinnen“ Frankreichs. Endlich ist sie am Ziel ihrer Träume. Endlich ist sie bekannt. Endlich ist sie berühmt. Endlich wird sie von allen bewundert und geliebt … Von allen? Mit der Berühmtheit kommen die ersten kritischen Stimmen. Denn ausgerechnet ihre kleine Tochter Kimmy, der Star ihres YouTube-Kanals, wirkt immer lustloser, immer unwilliger, immer – unglücklicher. Und eines Tages ist Kimmy verschwunden …

Mit „Die Kinder sind Könige“ (aus dem Französischen von Doris Heinemann) nimmt die wie stets großartige Delphine de Vigan sich eines ebenso aktuellen wie brisanten Themas an: der kommerziellen Vermarktung, um nicht zu sagen Ausbeutung, von Kindern im Netz an. Dabei beweist sie nicht nur eine bemerkenswert scharfe Beobachtungsgabe, sondern spinnt den nur allzu realistischen Erzählfaden weiter in die Zukunft: Was wird einst aus diesen Kindern, deren Aufwachsen sich unter einem alles aufzeichnenden Auge und unter den Blicken von Millionen vollzogen hat? Wie entwickeln sie sich, wenn nahezu jedermann sie kennt? Kurzum: Was ist der Preis, den sie zahlen? Er ist, so viel sei verraten, astronomisch, denn:

„Nie werden all die Blicke abgewaschen sein, die sie durch einen Bildschirm hindurch beschmutzt, abgenutzt und beschädigt haben.“

Fazit: Ein großartiger, kluger Roman, der bereits jetzt zu meinen Lesehighlights des Jahres gehört.

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Veröffentlicht am 14.03.2022

Wer hätte ich sein können?

Ein völlig anderes Leben
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Nein, sie hatten wahrlich nicht das beste Verhältnis. Seit der Vater die Familie verlassen hat und ihre Schwester „verschwand“, bestand Jules Familie nur noch aus ihrer Mutter, und die zog sich nur allzu ...

Nein, sie hatten wahrlich nicht das beste Verhältnis. Seit der Vater die Familie verlassen hat und ihre Schwester „verschwand“, bestand Jules Familie nur noch aus ihrer Mutter, und die zog sich nur allzu oft in schwermütigen Phasen von ihrer Arbeit, ihrem Leben, ihrer Tochter zurück. Dennoch fühlt Jule sich nun, da ihre Mutter gestorben ist, einsam. Verlassen. Man könnte sagen, „entwurzelt“ – wenn es denn je so etwas wie echte Wurzeln – familiäre, soziale, emotionale – gegeben hätte. Bei der Wohnungsauflösung stößt sie indes auf Dokumente, die darauf hinweisen, dass ihre Mutter gar nicht ihre Mutter war, zumindest nicht ihre leibliche. Jule wurde, ohne dass sie je davon erfuhr, adoptiert, und das auf höchst umstrittenen Wegen. Erklärt das die Distanz, die sie immer zu spüren meinte? Und wäre ihr Leben „ein völlig anderes Leben“ geworden, wenn sie bei ihren leiblichen Eltern aufgewachsen wäre? Jule beschließt, diesen Fragen auf den Grund zu gehen, und macht sich auf die Suche nach ihren Wurzeln – und damit letztlich nach sich selbst.

In ihrem Debütroman „Ein völlig anderes Leben“ nimmt Lisa Quentin sich eines aufwühlenden Themas und damit zugleich eines Aspekts der jüngeren deutschen Geschichte an, der – zumindest meinem Empfinden nach – in der öffentlichen Wahrnehmung eine erstaunlich, vielleicht sogar erschreckend untergeordnete Rolle einnimmt. Aus zwei Erzählperspektiven schildert sie eindrücklich die Geschichte zweier Frauen, die zugleich so viel mehr ist als der literarische Bericht zweier Einzelschicksale. Die Umstände, die zu der Adoption führten, die von ihr verursachten seelischen Wunden und tiefen Spuren, die sie in den beiden Protagonistinnen hinterließ, bieten nicht nur den Hintergrund für ein aufwühlendes, emotionales und intensives Leseerlebnis, sondern zugleich ein literarisiertes Stück Zeitgeschichte, das noch lange nachwirkt.

Ein bemerkenswertes Debüt und eine lohnenswerte Lektüre!

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Veröffentlicht am 15.02.2022

Ein Ausnahmeroman

Como. 30 Tage.
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Sie forschen über den Einfluss Sri Lankas auf die thailändische Kunst zwischen dem dreizehnten und fünfzehnten Jahrhundert oder die Unterschiede zwischen Privatleben und Öffentlichkeit aus religiöser Sicht. ...

Sie forschen über den Einfluss Sri Lankas auf die thailändische Kunst zwischen dem dreizehnten und fünfzehnten Jahrhundert oder die Unterschiede zwischen Privatleben und Öffentlichkeit aus religiöser Sicht. Sie: Das sind die illustren Gäste in der mondänen Villa am Comer See, eine jede Meisterin ihres Fachs, ein jeder ein Schwergewicht seiner Zunft. 30 Tage werden sie dort verbringen, arbeiten, forschen, schreiben, sich bei feudalen Abendessen zusammenfinden und bei ebenso anregenden wie sterbenslangweiligen Vorträgen Intelligenz und Interesse demonstrieren. Und mitten unter ihnen ist er, der namenlose Ich-Erzähler, der nicht so recht weiß, wie er in den elitären Genuss eines Monatsstipendiums gekommen ist. Er, der in Belgrad in einer Bruchbude haust, in die es auch noch hineinregnet. Er, der nichts so recht mit dieser geschenkten Zeit anzufangen weiß. Arbeiten? – Woran? Forschen? – Worüber? Und so schläft er lieber lange, raucht Kette, trinkt die hervorragenden Weine und Spirituosen, verbrüdert sich mit dem Personal und lässt sich allabendlich ins Dorf spülen, dessen Bewohner noch nie einen Fuß auf das gediegene Parkett der Villa setzen durften. Auch so kann man 30 Tage in Como verbringen.

Es gibt sie, diese Bücher, die ihren ganz eigenen Zauber haben, ihre eigene, ebenso lakonische wie liebenswerte Stimme, einen besonderen Tonfall, eine exakte Beobachtung der feinen Unterschiede und einen Protagonisten mit Charakter. Srdan Valjarevićs „Como. 30 Tage“ (aus dem Serbischen von Susanne Böhm) ist ein solches Buch. Ich habe mit der Hauptfigur geraucht, gesoffen und in der Dorfkneipe gefeiert. Ich gemeinsam mit ihm Freunde gefunden und die anderen Gäste fasziniert beobachtet. Und ich kam gemeinsam mit ihm zu dem Schluss:

„Es ist nicht schlecht, reich zu sein, dachte ich, eine Jacht zu besitzen, ein Haus an diesem See, all diese Mäntel, Hemden, Jacken, Schuhe und Pullover für mehrere hindert oder gar tausend Dollar zu kaufen. Aber es ist auch nicht schlecht, wenn man nicht reich ist und nicht nichts von all dem hat, weil all das nicht wirklich etwas mit dem Leben an sich zu tun hat.“

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Veröffentlicht am 05.01.2022

Fesselnde Lektüre

Q
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Die Vereinigten Staaten in einer nicht allzu fernen Zukunft: Eigentlich hat Elena keinen Grund zur Klage. Sie liebt ihren Beruf als Lehrerin, ihr Mann ist als Regierungsmitarbeiter überaus erfolgreich, ...

Die Vereinigten Staaten in einer nicht allzu fernen Zukunft: Eigentlich hat Elena keinen Grund zur Klage. Sie liebt ihren Beruf als Lehrerin, ihr Mann ist als Regierungsmitarbeiter überaus erfolgreich, die ältere Tochter Anne bringt Bestnoten nach Hause. Allein die jüngere Tochter Freddie tut sich etwas schwerer. Mit der Schule. Mit dem Leben. Das wäre im Grunde genommen kein Problem, wenn … ja, wenn es da nicht die „Kampagne für wertvollere Familien“ gäbe, eine Art Bildungs- und Sozialprogramm, bei dem jedem Menschen sein persönlicher „Q“-Wert zugeordnet wird, errechnet anhand der individuellen akademischen Leistung sowie dem sozialen Status. Allmonatlich werden die Leistungen in Tests überprüft: Wer besteht, bleibt auf seiner Schule, auf seinem Posten, in seinem Beruf, wer versagt, rutscht automatisch eine Kategorie tiefer. Und alle scheinen damit gut leben zu können – nun ja, zumindest alle, die einen hohen Q-Wert aufzuweisen haben.
Als Freddie eines Tages tatsächlich ihren Test nicht besteht und auf ein Internat der untersten Kategorie muss – Besuche sind während der gesamten Schulzeit verboten, selbstverständlich zum „Besten“ der Kinder –, kann Elena nicht länger die Augen vor der Grausamkeit dieses Systems verschließen. Und so setzt sie alles daran, ihre kleine Tochter zurückzubekommen – auch wenn das bedeutet, sich mit dem System selbst anzulegen.

Wie schon in ihrem Vorgängerroman „Vox“ entwirft Christine Dalcher in „Q“ eine Dystopie, die – wie jede überzeugende Dystopie – in mancherlei Hinsicht schaurig nah an der Wirklichkeit ist: Dass Entwicklungschancen von Kindern in nicht unerheblichem Maße von ihrem sozialen Milieu abhängen, dass, wer einmal „unten“ ist, nur schwer wieder hochkommt, ist in vielen Teilen der Welt die Realität. Christine Dalcher spinnt diese Realität weiter: Mittels des weit verbreiteten Narrativs, dass jeder etwas erreichen kann, wenn ersie sich nur ordentlich ins Zeug legt, Einsatzbereitschaft und Leistungswillen zeigt, legt sie schonungslos verbrämte Mechanismen offen, in denen man nur allzu sehr die Wirklichkeit widergespiegelt sieht.

Ich habe „Q“ förmlich verschlugen, von der ersten Seite an hat mich die Story in ihren Bann gezogen. Und wenngleich ich mit dem Ende etwas gefremdelt habe (es war mir persönlich in jeglicher Hinsicht etwas zu dick aufgetragen), kann ich die Lektüre nur empfehlen!

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