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Veröffentlicht am 28.08.2020

Subtile Spannung

Die Nachbarin
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Wie gut kennt ihr eure Nachbarn?

Lexie und Harriet leben Tür an Tür, Wand an Wand in einem eleganten Apartmenthaus in London. Und obgleich sie einander nie persönlich kennengelernt haben, meint jede, ...

Wie gut kennt ihr eure Nachbarn?

Lexie und Harriet leben Tür an Tür, Wand an Wand in einem eleganten Apartmenthaus in London. Und obgleich sie einander nie persönlich kennengelernt haben, meint jede, ihre Nachbarin zu kennen, allein anhand dessen, was sie durch die Wände hört (und in den sozialen Medien recherchiert). Lexie beispielsweise hört Harriet Klavier spielen und singen und beinahe allabendlich wilde Partys feiern. Klar: die Nachbarin führt ein wahnsinnig aufregendes berufliches und soziales Leben, etwas, das sie selbst schmerzlich vermisst, seit sie ihren Job gekündigt hat, um mit ihrem Freund Tom endlich eine Familie zu gründen. Harriet wiederum „weiß“, dass Lexie total glücklich mit Tom zusammenlebt und allseits beliebt ist. Und das ist ihr ein Dorn im Auge. Denn eigentlich sehnt Harriet sich nach einer gescheiterten Beziehung nach einem Mann wie Tom. Nein, nicht nach einem Mann WIE Tom, sondern nach Tom. Und damit nicht nur nach einem Leben wie Lexies, sondern genau nach dem Leben Lexies. Das einzige, was sie, wie Harriet meint, von diesem Ziel trennt, ist – Lexie.

Ich habe „Die Nachbarin“ verschlungen! Und das nicht etwa, weil dieser Thriller eine Spannungsgranate ist, sondern weil er packend und durchaus tiefgründig die Eindrücke, Fantasien und Seelenleben seiner beiden Protagonistinnen auslotet. Der Roman ist abwechselnd aus Lexies und Harriets Sicht jeweils in der Ich-Perspektive geschrieben, wobei jeweils das, was die eine sich zusammenfantasiert und die andere tatsächlich fühlt und erlebt, in einem überaus reizvollen Kontrast steht. Ich habe mir während der Lektüre immer wieder die Frage gestellt, wie viel wir von jemandem tatsächlich wissen können, von dem wir nur den äußeren Schein kennen, wie viele Abgründe sich hinter einer scheinbar perfekten Fassade verbergen. Denn sich rasch zeigt, ist die wunderschöne, erfolgreiche Harriet alles andere als seelisch stabil, ihre Vergangenheit obskur. Die fröhliche und liebenswerte Lexie wiederum entwickelt sich zu einem zunehmend gereizten Nervenbündel, dessen Gedanken nur noch um die schwierige Familienplanung kreist. Neid einerseits und Bewunderung andererseits: das ist, was die beiden jungen Frauen – deren Figuren angenehm nuanciert gezeichnet sind – bewegt. Nur dass beide höchst unterschiedliche Wege der „Bewältigung“ einschlagen. Wie Harriet unbemerkt immer tiefer in Lexies Leben eindringt, wie Lexie zunehmend an ihrer Wahrnehmung zweifelt, fand ich ausgesprochen fesselnd.

Wer einen spannungsgeladenen Thriller erwartet, in dem ein dramatischer Höhepunkt den nächsten jagt, wird von diesem Roman vermutlich eher enttäuscht sein. Wer indes eine Story zu schätzen weiß, in der sich, je nach Perspektive, Schein und Sein, Fantasie und Realität abwechseln, ergänzen, widersprechen, wird „Die Nachbarin“ mit Sicherheit ebenso gerne lesen wie ich.

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Veröffentlicht am 28.08.2020

Wie "Golden Cage" - nur in Silber

Wings of Silver. Die Rache einer Frau ist schön und brutal (Golden Cage 2)
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Die Story von Faye, die in „Golden Cage“ erst von ihrem Mann arglistig hintergangen wurde und dafür umso arglistiger Rache an ihm übte, geht weiter, und ich kann schon so viel verraten: Wer den ersten ...

Die Story von Faye, die in „Golden Cage“ erst von ihrem Mann arglistig hintergangen wurde und dafür umso arglistiger Rache an ihm übte, geht weiter, und ich kann schon so viel verraten: Wer den ersten Band mochte, der wird auch diesen mögen – wer nicht, der nicht. Denn beide Romane ähneln einander sehr: in Aufbau, Duktus, Luxuslabel-Namedropping und expliziten Erotikszenen.

Auch in diesem Roman finden sich unterschiedliche Handlungsstränge: Fayes Kosmetikmarke, die sie in „Golden Cage“ mithilfe eines Netzwerks aus betrogenen und enttäuschten Frauen aufgebaut und in Blitzgeschwindigkeit zu Weltruhm gebracht hat, ist in Gefahr. Ein anonymer Käufer strebt nach der Aktienmehrheit, Fayes Aktionärinnen, deren Loyalität sie sich eigentlich sicher war, verkaufen unerklärlicherweise eine nach der anderen. Fayes Verbleib in der Firma ist in Gefahr, und so sucht sie fieberhaft nach einer Lösung. Währenddessen leben Fayes totgeglaubte Mutter und Tochter in Fayes luxuriösem Haus in Italien, geheim und unerkannt, doch glücklich. Doch ihr unbeschwertes Dasein gerät in Gefahr, als Fayes für den Mord an der gemeinsamen Tochter verurteilter Mann mit einem Mitinsassen aus dem Gefängnis ausbricht. Und dann ist da noch dieser attraktive Geschäftsmann, den Faye in einer Hotelbar kennenlernt und der ein mehr als platonisches Interesse an ihr hat – und sie an ihm. Ach ja: auch Fayes Kindheit und Jugend wird, wie schon im ersten Band, in zahlreichen Rückblicken thematisiert, und auch diese Enthüllungen zeichnen alles andere als das Bild einer unbeschwerten Kindheit.

Das klingt nach ziemlich viel Handlung für einen einzigen Roman? Ja, das ist es auch. Und vielleicht liegt es an dieser Fülle der Ereignisse, dass Fayes Schicksal mich persönlich – genau wie in „Golden Cage“ – alles in allem leider ziemlich kaltließ, denn hier wie dort blieb Faye für mich als Person wenig greifbar und als Charakter leider ohne nennenswerten Tiefgang. Und auch wenn ein Roman nicht zwangsläufig realitätsnah gestaltet sein muss: Wie zielstrebig und erfolgreich Faye auf ihren Stilettos hier durch den tiefen Sumpf unzähliger Schwierigkeiten schreitet und sie eine nach der anderen resolut angeht, ist dermaßen an den Haaren herbeigezogen, dass ich selbst mit dem größten Wohlwollen so manches Mal entnervt aufseufzte.
Des ungeachtet lässt sich „Wings of Silver“ locker wegschmökern und ist insgesamt auch durchaus unterhaltsam. Und ich muss zugeben: der Cliffhanger am Ende des Romans macht mich doch neugierig, wie es wohl weitergeht …

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Veröffentlicht am 18.08.2020

Weit mehr als nur die "Schwarze Bridget Jones"

Queenie
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Wie man dem Blurb entnehmen kann, schrieb die "Sunday Times" über diesen Roman:

„‚Queenie‘ wurde die ‚Schwarze Bridget Jones‘ genannt. Aber dieses Buch ist noch viel besser.“

Liest man den Klappentext, ...

Wie man dem Blurb entnehmen kann, schrieb die "Sunday Times" über diesen Roman:

„‚Queenie‘ wurde die ‚Schwarze Bridget Jones‘ genannt. Aber dieses Buch ist noch viel besser.“

Liest man den Klappentext, drängt sich der Vergleich mit der lustigen, chaotischen, liebenswerten und etwas verpeilten Bridget tatsächlich auf:

„Queenie ist ein Naturtalent. Darin, sich Ärger einzuhandeln. Zum Beispiel in der Zeitungsredaktion, wo sie die Zeit vertrödelt, anstatt endlich über die Themen zu schreiben, die ihr wichtig sind: Black Lives Matter, Feminismus, seelische Gesundheit. Oder mit ihrem braven weißen Boyfriend, der sie nicht gegen seinen (»Er hat’s nicht so gemeint«) rassistischen Onkel verteidigt. Als die Beziehung zerbricht, sucht Queenie Trost in der digitalen Datinghölle und trifft eine falsche Entscheidung nach der anderen. Die Welt schaut ihr zufrieden dabei zu: ist denn von jungen (Schwarzen) Frauen anderes zu erwarten? Eben. Erst als man schon kaum mehr hinschauen kann, stellt sich Queenie den wichtigen Fragen: Wie kann ich die Welt zu einem besseren, gerechteren Ort machen? Und mich in ihr ein bisschen glücklicher?“

Ich muss sagen: Selten hat eine Inhaltsangabe – nicht zuletzt in ihrem Tonfall – den Wesenskern eines Buches so verfehlt wie diese. Ja, es gibt die eine oder andere Parallele zu Bridget: Queenie ist Single, Queenie hat (hauptsächlich doofe) Dates, Queenie erlebt manche Turbulenzen im Job, setzt sich mit ihrer Familie auseinander und hat sehr liebe Freundinnen, die ihr als Anker in der Not dienen. Und zwischenzeitlich lässt die Story einen auch ein wenig Schmunzeln (insbesondere, wenn es um Queenies Familie geht). Doch nahezu alles, was bei Bridget Jones kurios, witzig oder spaßig-peinlich ist, ist bei Queenie bestürzend, selbstzerstörerisch, verheerend. Denn Queenie ist seit ihrer Kindheit traumatisiert und Queenie ist, im Gegensatz zu Bridget Jones, Schwarz. Und wer meint, dass dies doch keinen Unterschied macht, wird während der Lektüre bald eines Besseren belehrt. Das beginnt bei der wohlmeinenden Schwärmerei der weißen Großmutter ihres weißen Freundes, was für schöne Kinder sie einst haben würden:

„Deine hübsche, glatte braune Haut, Queenie, aber heller. Wie ein schöner Milchkaffee. Nicht zu dunkel“ Und Toms grüne Augen. Dein dichtes Haar, Queenie, diese dunklen Wimpern, aber Toms hübsche gerade Nase.“

... Und nein, außer Queenie ist keiner der anderen Anwesenden schockiert. Was auch immer Queenie tut, was auch immer sie sagt – alles wird unter dem Gesichtspunkt ihrer Hautfarbe (meist tendenziell negativ) konnotiert. Denn, wie Queenie erklärt:

„Ich kann nicht aufwachen und keine Schwarze Frau mehr sein […]. Ich kann nicht einen Raum betreten und keine Schwarze Frau sein […]. Im Bus, in der U-Bahn, bei der Arbeit, in der Kantine. Laut, auffällig, frech, wütend, vorlaut, streitlustig, bitchy.“

„Queenie“ ist – trotz und Gott sei Dank entgegen des unsäglichen Klappentextes – einer der intensivsten und wichtigsten Romane, die ich in diesem Jahr gelesen habe. Ganz große Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 06.08.2020

Die wechselvolle Geschichte eines besonderen Hauses

Das Gartenzimmer
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Berlin, 1908. Der junge Architekt Max Taubert kann sein Glück kaum fassen, als Professor Adam Rosen und seine Frau Elsa ausgerechnet ihn bitten, ihre Villa im Grunewald zu entwerfen. Sie wollen raus aus ...

Berlin, 1908. Der junge Architekt Max Taubert kann sein Glück kaum fassen, als Professor Adam Rosen und seine Frau Elsa ausgerechnet ihn bitten, ihre Villa im Grunewald zu entwerfen. Sie wollen raus aus der Stadt, ja, auch raus aus ihrem bisherigen Leben, das von einer kaum überwundenen Tragödie überschattet wird. Einen Platz der Ruhe, des Friedens, das ist es, was die Rosens sich wünschen, was sie brauchen. Das kultivierte Ehepaar ist Tauberts innovativen, außergewöhnlichen Ideen überaus aufgeschlossen, Max darf seine für jene Zeit nahezu verwegenen gestalterischen Ideen umsetzen und schafft einen beinahe magischen Ort.
Berlin, Mitte der 1990er Jahre. Frieder und Hannah Lekebusch verlieben sich auf den ersten Blick in die verwunschene „Villa Rosen“. Mit viel Elan, Ausdauer und nicht zuletzt Geld machen sie sich daran, den Originalzustand wiederherzustellen. Vor allem Hannah scheint dem Haus, das mittlerweile eine wechselvolle Geschichte aufzuweisen hat, regelrecht zu verfallen. Der Erhalt der Villa, ihre Präsentation vor einem mehr oder minder auserwählten Publikum verdrängen nach und nach alle anderen Gedanken, jeden anderen Aspekt ihres Lebens – ihren Mann und Sohn eingeschlossen.

Die auf mehreren Zeitebenen erzählte Geschichte eines außergewöhnlichen Hauses und seiner Bewohner hat mich von der ersten Seite an in ihren Bann gezogen. Ausgehend von der im Zentrum des Geschehens stehenden Villa entfaltet sich nach und nach ein mehrere Jahrzehnte überspannendes Panorama aus Architektur und Kunst, Verantwortung und Moral, Einzelschicksal und Politik.

Besonders hervorzuheben ist die schnörkellose und zugleich eindringliche, bisweilen gar suggestive Sprache, die „Das Gartenzimmer“ für mich nicht nur inhaltlich, sondern in besonderer Weise auch sprachlich zu einem Lesegenuss machte.

Deshalb gibt es von mir eine klare Leseempfehlung an alle, die einen klugen, vielschichtigen und subtilen Roman zu schätzen wissen.

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Veröffentlicht am 29.06.2020

Leider nicht gänzlich überzeugend

Offene See
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Eine charmante Grundidee, deren Umsetzung mich leider nicht gänzlich überzeugen konnte
Nordengland, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Leben des sechzehnjährigen Robert scheint unverrückbar vorgezeichnet: ...

Eine charmante Grundidee, deren Umsetzung mich leider nicht gänzlich überzeugen konnte
Nordengland, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Leben des sechzehnjährigen Robert scheint unverrückbar vorgezeichnet: Er wird, wie alle Männer seiner Familie, Bergarbeiter werden. Doch in diesem Sommer will er ein einziges Mal Freiheit spüren, seiner Sehnsucht nach Weite und Ferne und dem Meer nachgeben. Auf seiner Wanderschaft begegnet er Dulcie: Sie ist bedeutend älter als er, lebt in einem etwas heruntergekommenen Cottage, verfügt zu Roberts Erstaunen über eine scheinbar nie versiegende Speisekammer und hat solch außergewöhnliche Ansichten über das Leben und die Liebe, wie Robert sie nie zuvor erlebt hat. Dulcie lädt ihn ein, eine Weile bei ihr zu bleiben, und sie macht ihn mit einer ihm bis dato völlig unbekannten Welt bekannt: Literatur, Kunst, Musik, Philosophie und so manche kulinarische Genüsse – dem jungen Mann eröffnen sich völlig neue Horizonte. Im Gegenzug kümmert er sich um Dulcies verwilderten Garten, renoviert das baufällige Gartenhäuschen – und stößt auf ein Manuskript bislang unveröffentlichter Gedichte. Wer ist die rätselhafte Autorin? Woher kennt Dulcie sie? Und warum meidet sie die offene See, ja selbst den Blick auf das Meer?

Benjamin Myers‘ Roman über das ungleiche Gespann Robert-Dulcie könnte eine poetische, verzaubernde, berührende Geschichte über die Freundschaft, die Liebe und das Leben sein. Und tatsächlich weist sie einige wunderbare Momente auf, die mich beim Lesen keineswegs kaltgelassen haben: Die sich entwickelnde Freundschaft von Dulcie und Robert ist charmant und bisweilen humorvoll erzählt, die Geschichte, die sich hinter dem Manuskript und Dulcies Abneigung gegen das Meer verbirgt, bittersüß und ergreifend. Und dennoch vermochte der Roman mich nicht vollends zu überzeugen, denn es ist für meinen Geschmack von allem etwas zu viel vorhanden: Die Figur des unbedarften Robert ist etwas zu naiv gezeichnet, die der unkonventionellen Dulcie hingegen zu nassforsch; die poetische Sprache (aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann) rutscht leider nur allzu oft in Pathos ab.

Allerdings muss ich einräumen, dass mein eher durchwachsenes Urteil durchaus meiner Erwartungshaltung geschuldet sein könnte. Die zahlreichen begeisterten Rezensionen, die ich vor der Lektüre las, mögen meine Erwartungen an das Buch dermaßen geschürt haben, dass eine leise Enttäuschung vielleicht unausweichlich war.

Aus diesem Grund kann ich „Offene See“ basierend auf meiner Lektüreerfahrung zwar nicht uneingeschränkt empfehlen, ich kann aber auch nicht guten Gewissens davon abraten. Aus meiner Sicht handelt es sich um eines jener Bücher, die je nach Leser bzw. Leserin entweder begeistern oder enttäuschen, und von denen man sich unbedingt sein eigenes Bild machen sollte.

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