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Veröffentlicht am 23.01.2022

Wenn der Feigenbaum erzählt

Das Flüstern der Feigenbäume
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Bildhafte Sprache, eine Geschichte zwischen Fabel und Realitä, Liebe, Trauma und Erinnerung - in Elif Shafaks "Das Flüstern der Feigenbäume" kommt viel zusammen. Ich wurde auf die Autorin erstmals aufmerksam, ...

Bildhafte Sprache, eine Geschichte zwischen Fabel und Realitä, Liebe, Trauma und Erinnerung - in Elif Shafaks "Das Flüstern der Feigenbäume" kommt viel zusammen. Ich wurde auf die Autorin erstmals aufmerksam, als ich ihren Roman "Unerhörte Stimmen" las, der mich begeisterte. Ihr neues Buch behandelt zwar ein ganz anderes Thema, hat aber ebenfalls eine metaphysische Ebene - nur dass diesmal keine Toten sprechen, sondern ein Feigenbaum, der in einem englischen Garten der Kälte trotzt.

Im Mittelpunkt steht die verbotene Liebe von Kosta und Defne, für die es in ihrer Heimat Zypern keinen Platz gibt: Kosta ist Grieche, Defne Türkin. Noch sind die Ethnien nicht durch Teilung und Vertreibung nicht getrennt in den Norden und den Süden, sondern leben neben- aber auch gegeneinander. Der sensible Kosta und die energische Defne können sich nur heimlich treffen. Ihre Zuflucht wird die Taverne "Zur glücklichen Feige", deren Wirte Jorgos und Yussuf, wie sich herausstellt, ebenfalls ein heimliches türkisch-griechisches Paar sind.

Doch als der Konflikt sich zuspitzt und der älteste Bruder Kostas von griechischen Nationalisten als Kommunist ermordet wird, während der jüngere sich dem nationalen Untergrund anschließt, schickt seine Mutter ihn zu ihrem Bruder nach England - wenigstens eines ihrer Kinder soll sicher vor dem Konflikt sein und leben. Der Kontakt zu Defne bricht ab und erst 20 Jahre später besucht Kosta wieder Zypern. Er ist inzwischen ein Wissenschaftler und Pflanzenexperte, während Defne als forensiche Archäologin die Massengräber des Bürgerkriegs sucht und dabei hilft, die Identität der Toten zu klären. Sie will nichts von ihm wissen - doch dann kommen sie erneut zusammen und gehen zusammen nach England. Im Gepäck: Ein Steckling des Feigenbaums der inzwischen zerstörten Taverne.

Ein Happy End, eine Liebe, die alle Grenzen und Widerstände überwindet? Nicht wirklich, denn die Liebesgeschichte wird als Retrospektive erzählt. Defne ist tot, Alkohol- und Tablettenmissbrauch spielten dabei eine Rolle und die 16jährige Tochter Ada steckt in einer schweren Krise, fühlt sich auch von ihrem Vater ernachlässigt, der mit dem Feigenbaum im Garten spricht, aber keine gemeinsame Sprache mit ihr zu finden scheint. Und dann ist da noch der gellende Schrei, den sie eines Tages im Unterricht ausgestoßen hat und der dank eines Handyvideos auf den sozialen Medien viral geht. Ada möchte sich am liebsten in ihrer Trauer vergraben, doch dann kommt ihre Tante zu Besuch, die energische, traditionsverhaftete, abergläubische Schwester ihrer Mutter.

Erst unwillig, geradezu feindselig, lässt sich das Mädchen nach und nach auf die redselige Tante ein, die ihr von der Liebesgeschichte ihrer Eltern erzählt. Und noch einer erzählt: Auch der Feigenbaum bekommt in diesem Buch eine Stimme, lässt sich aus über die Lebenswirklichkeit und die Philosophie der Bäume, seine Erinnerungen an die Taverne, an das junge Paar, an das Leben im Exil. Im Hörbuch gibt Eva Mattes dem Feigenbaum ihre Stimme, während Joachim Schönfeld die aus menschlicher Sichtweise geschriebenen Kapitel liest. Die ruhige Art der beiden Sprecher lässt das Gehörte nachschwingen und angesichts der bildhaften - manche Kritiker sagen auch blumigen - Sprache Shafaks fällt es leicht, sich beim Zuhören die Szenen vorzustellen.

Defne und Kosta wollten Ada unbelastet von der Vergangenheit aufwachsen lassen, sie sollte ein britisches Mädchen sein, nicht die Konflikte Zyperns und die Wunden ihrer Familie mit sich herumtragen. Eine falsche Entscheidung? Ada sucht jedenfalls Antworten, will die Geheimnisse der Vergangenheit ergründen. Manchmal klingt "Das Flüstern der Feigenbäume" wie ein esoterisch angehauchtes Märchen, dann wieder wie ein spannender Krimi: Was ist auf der Insel geschehen, nachdem Kosta Zypern verlassen hat? Welche Geheimnisse prägen die Geschichte der Familie? Und märchenhaft-poetisch ist auch das Ende, das hier nicht verraten soll. Wieder einmal hat Elif Shafak ein Buch geschrieben, dass bezaubert.

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Veröffentlicht am 22.01.2022

Die helle und die dunkle Seite der Physik

Das Zeitalter der Unschärfe
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Theoretische Physik, Quantenmechanik, Teilchenberechnung und Relativitätstheorie - das ist alles reichlich anspruchsvoller Stoff für alle, die nicht gerade einen Physik-Leistungskurs oder ein naturwissenschaftliches ...

Theoretische Physik, Quantenmechanik, Teilchenberechnung und Relativitätstheorie - das ist alles reichlich anspruchsvoller Stoff für alle, die nicht gerade einen Physik-Leistungskurs oder ein naturwissenschaftliches Studium hinter sich haben. Mit "Das Zeitalter der Unschärfe" schafft es Tobias Hürter aber, ein großes Stück Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts auch eher unbeschlagenen Lesern nachvollziehbar, interessant und nahe am Menschen, sprich den Wissenschaftlern jener Zeit, zu erzählen.

"Namen sind Nachrichten", hießt es im Journalismus und in diesem Fall beschreibt Hürter die Theorien und Persönlichkeiten der Wissenschaftler, die die Physik von 1900 bis 1945 entscheidend prägten, ihr Ringen um Theorien und Beweise, ihre Konkurrenz und ihre Freundschaften, ihre Eigenheiten und Vorlieben. Von den Forschungen Marie Curies bis zur Explosion der ersten Atombombe, von einsamen Denkern und dem Zwang, mit zunehmendem Nationalismus Position beziehen zu müssen oder, im Fall der jüdischen Wissenschaftler nach 1933, ins Exil gezwungen zu werden - Wissenschaft kann nicht einfach nur für sich im akademischen Elfenbeinturm bestehen.

Hürter beschreibt die, wie es im Epilog heißt, dunkle Seite der Physik, die von den (durch die Strahlenkrankheit verursachten) Rissen in den Fingerkuppen von Marie Curie zu Atombombe führt, die den zehntausendfachen Tod der Menschen in Hiroshima und Nagasaki brachte. "Die helle Seite der Geschichte ist die von all diesen erstaunlichen, unglaublich klugen und wissbegierigen Menschen und dem Zusammenspiel ihres Geistes", schreibt er.

Max Planck und Albert Einstein, Niels Bohr und Otto Hahn, Erwin Schrödinger (der übrigens nie eine Katze hatte) und Werner Heisenberg und viele andere werden beschrieben mit ihren Diskussionen und Eitelkeiten, Affären und Unsicherheiten, wissenschaflicher Konkurrenz und Solidarität. Episodenhaft wird der Fortschritt der Quantenphysik beschrieben, die mir inhaltlich zwar auch nach der Lektüre dieses Buches noch zu hoch ist, deren Protagonisten mir aber ein ganzes Stück näher gerückt sind. Nicht zuletzt ist die Frage nach der Verantwortung der Wissenschaft und nach ihrem Verhalten in zunehmender Zuspitzung der Gesellschaft aktueller denn je.

Veröffentlicht am 21.01.2022

Sirenenlieder und einsame Monster

Honey Girl
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Mit ihrem Debütroman "Honey Girl" hat die amerikanische Autorin Morgan Rogers gleichermaßen eine queere Liebesgeschichte, die Schmerzen des Erwachsenwerdens und die Herausforderungen für eine junge Schwarze ...

Mit ihrem Debütroman "Honey Girl" hat die amerikanische Autorin Morgan Rogers gleichermaßen eine queere Liebesgeschichte, die Schmerzen des Erwachsenwerdens und die Herausforderungen für eine junge Schwarze Frau, sich in der weißgeprägten Forschungswelt geschrieben. Ihre Protagonistin Grace und ihre Freunde sind wie sie - lesbische Millenials, People of Color, als Endzwanziger immer noch auf der Suche nach ihrem Platz im Leben und auf der Jagd nach ihren Träumen.

Grace ist die Tochter eines schwarzen Berufsoffiziers und einer weißen Mutter, der sie die honigblonde Farbe ihrer Haare verdankt. Während ihre Mutter, wenn sie nicht gerade Orangen in Florida züchtet, in Retreats in aller Welt spirituelle Erneuerung sucht, kommt Grace im Verhalten eher nach ihrem Vater, bei dem sie nach der Scheidung aufgewachsen ist. Colonel, wie er auch von Grace genannt wird, ist ein Mann, dessen Leben von Disziplin und fester Ordnung bestimmt ist - und so hat er auch Grace, die er militärisch-knapp bei ihrem Nachnamem Porter nennt erzogen: Nie klein beigeben, ehrgeizig sein, immer besser als die anderen sein.

Grace greift nach den Sternen - buchstäblich, Sie hat in Rekordzeit ihr Studium der Astronomie mit Auszeichnung abgeschlossen, im Eiltembo und ebenfalls herausragend promoviert und peilt nun eine wissenschaftliche Laufbahn an. Es passt so gar nicht zu ihre, dass sie nach einem Wochenende mit ihren beiden besten Freundinnen und Mitbewohnuerinnen in einem Hotel in Las Vegas völlig verkatert aufwacht, mit einem Filmriss und einem Ring am Finger. Eine Visitenkarte und ein Foto belegen: Grace hat in der Nacht eine ihr bis dahin völlig Unbekannte geheiratet. Dunkel erinnert sie sich an Wangen wie Rosenblätter und einem Geruch nach Meer und Kräutern. Und dass sie die Fremde Frau bezaubernd fand - sonst hätten sie ja wohl nicht geheiratet.

Eine solche Spontanhandlung - das passt so gar nicht zu der stets disziplinierten Grace, ist ihr sogar ein wenig heimlich. Und doch bekommt sie ihre fremde Ehefrau nicht aus dem Kopf, während ihre Suche nach einem Job in der Wissenschaft zunehmend frustrierend ist. Mal wird sie trotz beeindruckender - für manche zu beeindruckender - Leistungen noch nicht einmal zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen, mal muss sie befremdet feststellen, dass nicht-weiße Mitarbeiter in der Unternehmenskultur wohl nicht vorgesehen sind und ihre Zugehörigkeit zu Gruppen wie Schwarze in MINT-Fächern oder queere Wissenschaftler mit Befremden aufgenommen werden.

Mit Hilfe der Visitenkarte findet sie heraus, dass ihre unbekannte Ehefrau eine Radioshow in Brooklyn moderiert. Für Menschen, die einsam sind, anders sind, spricht sie über Monster und Alleinsein, über Sirenenlieder und Mythen. Grace lauscht, zunehmend fasziniert, bis sie schließlich den Mut findet Yuki eine Textnachricht zu schicken und schließlich sogar zu ihr nach New York reist. Doch ein happily ever after ist nicht möglich, solange Grace nicht ihre eigenen Monster konfrontiert.

Manchmal ist "Honey Girl" zuckersüße Romantik voller Kitsch und Verliebtheit, aber dabei irgendwie auch sehr liebenswert. Schmetterlinge im Bauch bringen halt auch eine mit militärischem Drill aufgewachsene Endzwanzigerin dazu, sich zu fühlen wie ein Teenager beim ersten großen Verliebtsein. Doch es geht auch um Einsamkeit, um Erwartungen von außen. Konflikte mit den Eltern, mit dem Umfeld. Wie kann man sich selbst finden, ohne andere zu verletzen und zurück zu lassen? Erfrischend geschrieben, mit liebenswerten Charakteren voller kleiner Macken, ist "Honey Girl" auch ein Loblied auf Freundschaft und Liebe in all ihren Formen. Nicht nur für Millenials nett, wenn es mal was fürs Herz sein soll.

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Veröffentlicht am 20.01.2022

Lebensgefährliche Wahrheitssuche

Todland
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Nach der Lektüre von "Winterland" des dänischen Autorengespanns Kim Faber und Janni Pedersen stand für mich fest: Ich will unbedingt wissen, wie es weiter geht? Warum wurden die Ermittler bei ihrer Arbeit ...

Nach der Lektüre von "Winterland" des dänischen Autorengespanns Kim Faber und Janni Pedersen stand für mich fest: Ich will unbedingt wissen, wie es weiter geht? Warum wurden die Ermittler bei ihrer Arbeit an der Aufklärung eines Teroranschlags auf den Kopenhagener Weihnachtsmarkt gestoppt? Der Tod eines Geheimdienstmannes, der die Polizistin Signe anonym kontaktiert hatte, er konnte doch kein Zufall gewesen sein?

Mit dem nun erschienenen zweiten Band "Todland" dauerte das Warten zum Glück nicht so lange - und es hat sich gelohnt. Denn Vertuschung und Verschleierung auf höchster Ebene bleiben hier eines der großen Themen. Wie im Vorgängerband kommt auch das Privatleben der Ermittler, vor allem von Signe und ihrem ehemaligen Kollegen Juncker, nicht zu kurz - und jenseits der politischen Ebene ist es ein Kriminalfall im semiprivaten Umfeld, der Juncker umtreibt.

Das Thema Aufklärung verlagert sich diesmal zunächst weg von den Polizisten und hin zu Junckers Noch-Ehefrau Charlotte, einer Investigativjourmalistin. Ein unbekannter Informant spielt ihr zwei Emails zu, die andeuten, dass Informationen zu dem geplanten Terroranschlag vorlagen und die Sicherheitsbehörden nicht rechtzeitig etwas unternahmen. Während Charlotte diese Information weiter verfolgt, wird bald klar, dass Wissen in diesem Fall tödlich sein könnte.

Eine junge Hackerin und Sinje verbünden sich mit Charlotte im Kampf um die Wahrheit, während Juncker im Fall eines ermordeten Anwalts ermittelt, der einst der Geschäftspartner seines Vaters war. Der Besuch seiner Tochter und die Neuigkeit, dass er Großvater wird, sind nicht nur eine willkommene Abwechslung, sie zwingen Juncker auch zur Auseinandersetzung mit seinem Vater, zu dem er ein Leben lang eine schwierige Beziehung hatte. Als seine Tochte die Tagebücher des toten Großvaters liest und auch Juncker zur Lektüre auffordert, findet er nicht nur einen neuen Zugang zu seinem Vater, sondern auch einen Hinweis, der mit seinem neuen Fall zu tun haben könnte.

Faber und Pedersen verbinden erneute Privates und Politisches, Polizeiarbeit und die ganz eigenen Interessen der Sicheheitsdienste. Einsamkeit, Beziehungen, Misstrauen in persönlichen und beruflichen Verhältnissen, viele Geheimnisse und Versuche, die Wahrheit um jeden Preis zu verhindern - Todland ist höchst spannend und gleichzeitig überzeugend auf der menschlichen Ebene. Die Figuren sind keine Supermänner und -frauen, sondern voller Schwächen und Unsicherheiten.

Die Autoren überzeugen mit realistischen Protagonisten und einer glaubwürdigen Schilderung von Polizeiarbeit und Journalismus - letzteres ist kein Wunder, da beide aus dem Bereich kommen und sich auch hauptberuflich mit Polizei und Justiz befasst haben. Fast ein wenig enttäuschend ist die Erkenntnis, warum die Nachricht über den bevorstehenden Terroranschlag keinen Alarm auslöste - hier verpufft ein wenig die Dramatik.

Doch Fragen bleiben, auch wenn Juncker, Signe und Charlotte mit hohem Risiko auf Wahrheiten stoßen - und mächtige, skrupellose Gegner. Auch manche Figur aus dem ersten Band ist verdächtig abwesend - wird es im dritten Band ein Wiedersehen geben? Und welche Konsequenzen wird die Hartnäckigkeit der drei haben? Durchatmen können sie noch nicht - und ich bin gespannt auf den dritten Teil der Triologie.

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Veröffentlicht am 15.01.2022

Queere Dystopie

Zum Paradies
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Was für eine Hammerschlag zum Auftakt des Bücherjahres! Mit Hanya Yanigharas "Zum Paradies" steht für mich jedenfalls fest, dass ich bereits ein Buchhighlight dieses Jahres gelesen habe und es schwer ...

Was für eine Hammerschlag zum Auftakt des Bücherjahres! Mit Hanya Yanigharas "Zum Paradies" steht für mich jedenfalls fest, dass ich bereits ein Buchhighlight dieses Jahres gelesen habe und es schwer ist, hier noch zu toppen. Trotz des Umfangs von mehr als 900 Seiten habe ich das Buch regelmäßig vershclungen - wobei hier eigentlich drei Romane in einem stecken, den ich als queere Dystopie bezeichnen würde, denn die meisten der Hauptfiguren sind schwul - und das ist im ersten, im Jahr 1893 handelnden Roman so normal und selbstverständlich, dass ich mich geradezu gewundert habe, als dann doch mal von heterosexuellen Beziehungen die Rede war.

Verbindendes Element der drei in sich abgeschlossenen Teile sind der Ort - ein Haus am Washington Square in New York - und die Namen der Hauptfiguren, die sich in wechselnden Konstellationen wiederholen. Ansonsten greift die Autorin durchaus zu unterschiedlichen Stilmitteln - erinnert der erste Teil in seinem Setting an einen Roman von Henry James, ist der letzte, im Jahr 2093 spielende Teil eine Schreckensutopie, die an Orwell und Huxley erinnern in ihrer Warnung vor den Möglichkeiten, die eine Gesellschaft zwischen Ängsten und Radikalisierung treffen können.

Yanagihara beschreibt Beziehungen, die Sehnsucht nach Nähe und die Einsamkeit und Entfremdung zwischen ehemals Liebenden,Abhängigkeiten und den Umgang mit Krankheit, die Suche, sich ein kleines irdisches Paradies als einen Kokon gegen die Schrecken der Außenwelt zu schaffen. Menschliches Verhalten zwischen Anpassung an Erwartungen und gesellschaftlichen Druck, die Verantwortung für andere und die Konsequenzen von Lebensentscheidungen werden gleichermaßen thematisiert, ebenso die Frage nach Identität.

Das Haus am Washington Square ist im ersten Teil des Buches Heim einer der reichsten Familien New Yorks. Nach dem frühen Tod der Eltern hat der dort lebende Großvater die drei verwaisten Enkel der Familie aufgezogen, der älteste lebt immer noch dort, aufgrund regelmäßig auftretender Krankheitsanfälle im Gegensatz zu seinen erfolgreichen Geschwistern ein Gentleman of leisure. Doch nun, so drängt der Großvater, sollte auch er sich nach einem Lebensgefährten umsehen, eine arrangierte Hochzeit wird angebahnt, als sich der reiche aber kunstbeflissene Müßiggänger in einen mittellosen Musiklehrer verliebt und vor der Entscheidung steht, ob er die vorgegebenen Bahnen verlässt oder aus den Erwartungen ausbricht und einer Liebe folgt, von der er nicht sicher sein kann, ob sie nicht nur einseitig ehrlich ist.

Hundert Jahre später im New York des Jahres 1993 ist es, klar, der große Schatten von AIDS, der das Leben der Protagonisten bestimmt. Ein junger Mann und sein deutlich älterer Partner leben nun in dem Haus am Washington Square. Es ist die Zeit, in der ein sterbender Freund schon fast dafür beneidet wird "nur" an Krebs und nicht an der "Seuche" zu sterben. Zugleich geht es um die Fragen von Herkunft und Identität, um kulturelle Aneignung, um die von den Eltern geerbten Traumata.

Konnten in den Jahren 1893 und 1993 die Probleme der Außenwelt in dem bequemen, von Dienstboten umsorgten Leben am Washington Square noch ausgeblendet werden, so ist die im Jahr 2093 beschriebene Welt eine völlig andere. Krankheiten und Viremutationen, der Klimawandel und seine Folgen haben das Leben und Überleben der Menschen schwer beeinflusst - und die Gesellschaft hat sich auf dramatische Weise verändert. Der Kampf um immer knapper werdende Ressourcen hat die nationalen Egoismen aufflammen lassen, schon aus Angst vor der Verbreitung von Krankheiten ist Reisen nicht mehr möglich. Peking dominiert die Welt, nur wenige Staaten im alten Europa haben noch innerhalb der Region offene Grenzen und bewahren einen Rest von Liberalität.

In New York, wo die junge Charlie mit ihrem Ehemann in einer der mittlerweile in acht Wohnungen aufgeteilten Haus am Washington Square lebt, bestimmen hingegen Überwachungsdrohnen, Lebensmittelrationierungen, und sogenannte Umsiedlungszentren für Infizierte das Bild. Wer infiziert ist, wird isoliert, mit der ganen Familie und dem Sterben überlassen. Sich draußen aufzuhalten, ist nur noch mit Schutzanzügen möglich. Homosexualität ist illegal und Charlies Großvater, der als Wissenschaftler Schuld und Verantwortung für den Umgang mit Kranken trägt, will wenigstens noch seine Enkelin retten. Es ist eine verstörende Zukunftsvision, die angesichts der Polemik eines Donald Trump in den vergangenen Jahren einerseits und der Debatten während der Corona-Pandemie andererseits nicht völlig abseitig klingt. Gerade weil bei aller Zuspitzung ein Hauch von Möglichkeit darin liegt, ist diese Dystopie so beeindruckend wie depremierend.

Sprachlich ud inhaltlich hat mich die Autorin mit diesem Mammutbuch völlig überzeugt. Für mich ist "zum Paradies" eine Wucht und ausgesprochen empfehlenswert.



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