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Veröffentlicht am 03.01.2022

U-Bahn Fahrt der Alpträume

U
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Er ist wieder da: Mit "U" hat Timur Vermes seinen dritten Roman veröffentlicht, im Gegensatz zu "Er ist wieder da" und "Die Hungrigen und die Satten" handelt es sich aber nicht um eine Politsatire, sondern ...

Er ist wieder da: Mit "U" hat Timur Vermes seinen dritten Roman veröffentlicht, im Gegensatz zu "Er ist wieder da" und "Die Hungrigen und die Satten" handelt es sich aber nicht um eine Politsatire, sondern um ein Stück fantastischer Literatur mit einem gewissen Horroreffekt. Dennn als die Ich-Erzählerin in einer namenlosen Großstadt in eine U-Bahn steigt, nur fünf Haltestellen von der Wohnung einer Freundin und der bereits herbeigesehnten Dusche entfernt, wird aus der vermeintlich kurzen Strecke ein Fahrt des Schreckens.

In der zweistündigen Hörbuchfassung dominiert die Gedankenwelt der Erzählerin, gesprochen von Eva Meckbach, den Erzählfluss, auch wenn mit Shenja Lacher, Timo Weißschnur und Katharina Pütter noch drei weitere SprecherInnen vertreten sind. Doch neben den Dialogen ist es vor allem der in atemlosen Staccato und Minisätzen vorgetragene innere Monolog, der "U" prägt. So wie Gedankn von einem Punkt zum nächsten fliegen, so geschieht es auch in diesem Text.

Lektorin und Ich-Stimme Anke Lohm will nur noch zu ihrer Freundin, nach einem langen Reisetag ausspannen. Der sperrige Koffer mit quietschenden Rollen nervt, der junge Mann, der sich ausgerechnet im gleichen Viererabschnitt des ansonsten leeren Waggong ihr gegenüber niederlässt, nervt ebenfalls, aber er steigt ja gleich aus. Doch fährt die Bahn und fährt und fährt, ohne dass sich irgendwo ein Halt abzeichnet. Nach zehn Minuten kommt das den beiden dann doch sehr seltsam vor.

Stumme Dritte der Schiclsalsgemeinshaft ist eine hochschwangere Frau im Folgewaggon, mit der zunächst nur pantomimische Verständigung durch die Glasscheibe möglich ist. Geneinsam sind sie erst irritiert, dann zunehmend verstört. Ist das ein Spiel mit der "Versteckten Kamera", alles nur ein Trick? Oder fährt die Bahn tatsächlich im Nirgendwo, irgendwo zwischen Raum und Zeit? Ist das alles ein Alptraum, eine Illusion? Beim Notruf wird den zunehmend verzweifelten Fahrgästen ebenso wenig geglaubt wie in der Alarmzentrale der Verkehrswerke.

Ist es Wirklichkeit, oder ist es Wahn? Autor und Sprecherinnen führen die Hörer in die zunehmende emotionale Zerrüttung der Erzählerin in der Dauerkrise. So wie Eva Meckbach in der Lage scheint, ohne Luft zu holen sprechen zu können, bleibt beim Zuhören die Puste weg angesichts des rapiden Tempos.

Der politische Biss der Vorgänger fehlt "U", dafür handelt es sich nun mal um ein ganz anderes Genre. Dafür gelingt das Spiel mit der Fantasie, der grotesken Situation und dem Kontrollverlust der U-Bahn-Passagiere, die ihren eigenen Visionen nicht mehr trauen können- Dabei sind es vor allem die Sprecherinnen und Sprecher, die hie "mitnehmen" auf die verrückte Fahrt.

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Veröffentlicht am 30.12.2021

Ölbarone und Bolschewiken

Kaukasische Tage
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Frühreif, lebenshungrig und immer auf der Suche nach Liebe: Die 1905 geborene Banine wächst als Tochter eines "Ölbarons" in Baku in einer weitverzweigten Familie auf, in der sich alles um Geld, Geschäfte, ...

Frühreif, lebenshungrig und immer auf der Suche nach Liebe: Die 1905 geborene Banine wächst als Tochter eines "Ölbarons" in Baku in einer weitverzweigten Familie auf, in der sich alles um Geld, Geschäfte, Glückspiel und Erbstreitigkeiten dreht. In dem autobiographischen Roman "Kaukasische Tage", der nach der Erstveröffentlichung im Jahr 1949 nun mit neuer Übersetzung wieder erschienen ist, gibt sie einen Einblick in eine Zeit voller Umbrüche und in die vorrevolutionäre Gesellschaft. Der Blick zurück fällt wenig milde aus:" Wir alle kennen Familien, die als arm, aber anständig gelten. Meine hingegen war extrem reich, aber alles andere als anständig."

Der verwitwete Vater - die Mutter starb bei Banines Geburt - ist eine distante, aber nichtsdestoweniger dominierende Erscheinung. Banine und ihre drei älteren Schwestern wachsen auf in einer Welt die von Hinwendung an westliche Ideen - die Kinder werden von einem deutschbaltischen Kindermädchen aufgezogen und sprechen besser russisch als aserbaischanisch - und islamischer Tradition gleichermaßen geprägt ist.

Als Bewahrerin der Tradition spielt vor allem die Großmutter eine Rolle, eine beherrschende Matriarchin, deren herzhafte und fantasievolle Flüche den Soundvorhang von Banines Kindheit bilden. Banine träumt von der großen weite Welt, ihr Sehnsuchtsort ist Paris, vor allem aber sehnt sie sich nach Liebe. Unter dem Einfluss ihrer Schwestern und vor allem ihrer Cousine erwacht schon früh das Interesse am anderen Geschlecht.

Anders als die Cousine, die es kaum erwarten kann, verheiratet zu werden und ihre Jungfräulichkeit zu verlieren, nur um dann bei jeder Gelegenheit fremdzugeheb, ist Banine eine Romantikerin. Sie schwelgt in Tagträumen über das Objekt ihrer Leidenschaft, zunächst gemeinsam mit den Schwestern, später ganz allein für den Revolutionär Andrej.

Banine schildert Sommerfrische auf dem Landsitz der Familie, die Streitigkeiten der exzentrischen Verwandtschaft, das vergebliche Ringen um die Liebe der mondänen und bewunderten Stiefmutter, die kurze Zeit aserbaidschanischer Unabhängigkeit und die Turbulenzen der russischen Revolution, die auch den Kaukasus erreichen - erst in Form der geflohenen Emigranten, dann der Bolschewiki.

Banines Familie wird, wenig überraschend, als Klassenfeind gesehen. Doch auch wenn die Verhaftung des Vaters Sorge bereitet - die Jahre des stalinistischen Terrors sind noch fern und auch die Enteignung des Familienbesitzes kann Banines Faszination für die russischen Revolutionäre nicht trüben. Da hilfst sie auch als neu konvertierte Nachwuchskommunistin mit erwachtem sozialen Gewissen, Inventarlisten des zu enteignenden Besitzes von entfernten Verwandten und Bekannten anzufertigen.

Dennoch fügt sie sich in eine arrangierte Heirat mit einem 20 Jahre älteren Mann und entscheidet sich gegen die Liebe zu Andrej.

Beeindruckend an dieser Biografie ist, dass die Erzählerin bei aller Dramatik der Ereignisse nicht resigniert, sondern unbekümmert, bildhaft, mitunter ironisch über die Wirren ihrer Jugend berichtet. Das ist anschaulich zu lesen, höchst unterhaltsam und zeichnet zugleich ein Sittengemälde einer untergegangenen Welt. Da verwundert es überhaupt nicht, dass die unter einem Pseudonym schreibende Banine, die am Ende des Buches den Orient-Express nach Paris besteigt, in ihrer Wahlheimat Frankreich der dortigen Boheme angehörte.

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Veröffentlicht am 29.12.2021

Ein Weihnachtsmann auf Abwegen?

Geld oder Lebkuchen
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Ein Weihnachtsmann als Bankräuber, verschwundene Spenden und eine stoische Bankangestellte, die auch ganz anders kann - in Dora Heldts "Geld oder Lebkuchen" wird Sylt einmal ganz anders als in den anderen ...

Ein Weihnachtsmann als Bankräuber, verschwundene Spenden und eine stoische Bankangestellte, die auch ganz anders kann - in Dora Heldts "Geld oder Lebkuchen" wird Sylt einmal ganz anders als in den anderen Romanen gezeigt. Schon der Titel verrät - es weihnachtet hier sehr, für den Rentner Ernst Mannsen fast schon zu sehr, denn auf der Insel ist nichts los, Ehefrau Gudrun höchst beschäftigt im Festkomittee des Weihnachtsmarkts und Kinder-Clubs, und Ernst langweilt sich. Nicht, dass er sich von Engagement für Kinder aus sozial schwachen Familien gedrückt hätte - aber er wurde gar nicht erst gefragt, vermutlich als zu alt befunden. Statt dessen ist es Bankdirektor Dietrich, der den Weihnachtsmann spielt und als einziger Mann im Festkomittee vertreten ist. Man ahnt schnell - Ernst kann Dietrich nicht sonderlich gut leiden.

Plötzlich aber ist Ernst gefragt, denn Dietrich ist verschwunden. Telefonisch nicht erreichbar, bei der Bank nach Angaben seiner Angestellten Martina seit Wochen nicht gesichtet und obendrei beurlaubt. Hat Dietrich Dreck am Stecken? Und was bedeutet das für die Weihnachtsfeier und Geschenke der Kinder des Kinder-Clubs? Dietrich war es, der die Spenden verwaltete - Gelder, die nun dringender denn je gefragt sind, hat der Bürgermeister doch den Etat für das kostenlose Mittagessen im Club für diejenigen, deren Mütter arbeiten, gestrichen.

Gudrun und ihre Mitstreiterinnen Minna, eine ehemalige Lehrerin und Hella, einstige Schauspielerin, sind entsetzt. Keine Weihnachtsgeschenke für die Kinder, die gerade mit Feuereifer im Chor Weihnachtslieder üben? Nicht alle auf Sylt sind reich, der kleine Anton und seine alleinerziehende, aus der Ukraine stammende Mutter sind das beste Beispiel. Die Versuche, auf den letzten Drücker Spenden zu sammeln, scheitern kläglich. Neu-Weihnachtsmann Ernst will nicht aufgeben, und die exzentrische Hella erst recht nicht. Sie überredet den eher behäbigen Ernst, die Dorfbank zu überfallen - als Weihnachtsmann verkleidet. Dank Hellas Schauspielunntericht wirkt der Robin Hood im roten Weihnachtsmannkostüm zwar überzeugend, trotzdem geht alles schief.

Wer die Romane von Dora Heldt kennt, weiß: Am Ende wartet doch ein Happy End, und gerade zur Weihnachtszeit darf und will sie nicht enttäuschen. Es ist daher kaum ein Spoiler zu verraten, dass bei allen Pannen dann doch noch alles gut wird, ja eigentlich noch besser als erwatet. Bis dahin aber dürfen die rüstigen Damen und Herren genüsslich ihre Schrullen ausleben, gibt es Verwicklungen und Überraschungen, ein bißchen Romantik, neue Freundschaften und späten Ruhm für Ernst.

Fast ein Krimi, heißt es zu "Geld oder Lebkuchen" und ein wenig erinnert der Roman an die 50-er Jahre Kiminalkomödien - manchmal ein bißchen Slapstick, dann wieder was fürs Herz und das ganze gewürzt mit einer Prise liebenswerter Exzentrik.

Katja Danowski als Sprecherin findet dafür als Sprecherin genau den passenden Ton, allerdings hochdeutsch und nicht wie an der Waterkant gesnakkt. Egal, so ist "Geld oder Lebkuchen" auch für Hörer aus dem Alpenraum oder dem Schwabenland nicht mit Dialekt-Tücken versehen. Ich habe "Geld oder Lebkuchen" jedenfalls sehr genossen. Lebkuchenkonsum inklusive.

Veröffentlicht am 27.12.2021

Tour de Force durch die Erdzeitalter

Eine (sehr) kurze Geschichte des Lebens
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4,6 Milliarden Jahre Erdgeschichte komprimiert auf gerade mal gut 300 Seiten - da hat der langjährige "Nature" Chefredakteur Henry Gee in der Tat "Eine (sehr) kurze Geschichte des Lebens" aufgeschrieben, ...

4,6 Milliarden Jahre Erdgeschichte komprimiert auf gerade mal gut 300 Seiten - da hat der langjährige "Nature" Chefredakteur Henry Gee in der Tat "Eine (sehr) kurze Geschichte des Lebens" aufgeschrieben, aus der ersichtlich wird, dass der Homo Sapiens, also unsere Spezies, letztlich nur eine winzige Fußnote in der Geschichte des Planeten ist. Mit der Mischung aus unterhaltsam und aufklärerisch, einem Ton leichten Understatements ist dieses Sachbuch im besten Sinne sehr britisch. Man kann sich geradezu die hochgezogene Augenbrauc des Autors vorstellen, während er Betrachtungen über die faszinierenden Wesen anstellt, die die Erde einst bevölkert haben und immer noch Nachfahren haben, die auf der Erde leben - nur, wie lange noch?

Die Karriere aller Lebewesen ende mit dem Aussterben, zitiert Gee in seinem Nachwort den britischen Politiker Enoch Powell. Und Homo Sapiens werde dabei keine Ausnahme sein. Das liegt nicht nur allein an den Zerstörungen, die die Menschen gerade in den letzten Jahren und Jahrzehnten angerichtet haben, sondern in der Natur des Planeten und des Universums. Die Massensterben, die die Erde schon erlebt hat, sind das beste Beispiel. Fast schon tröstlich, dass bei allen negativen Beiträgen unserer Spezies die befürchtete sixth extinction danach nicht allein auf menschliches Fehlbetragen zurückgeht, sondern eben auch in der Natur der Dinge liegt, dem Wechsel von Warm und Kaltzeiten.

Ein Paläontologe wie Gee blickt anders auf Zeiträume als andere Menschen, er denkt in Zeitreihen, die mehrere Millionen Jahre umfassen. Da stellt sich vielleicht eine gewisse Gelassenheit an, schließlich ist alles relativ, wenn Magmablasen und giftige Gase, Asteroiden und Riesentsunamis das Leben schon ein paarmal fast vollständig von der Erde gefegt haben. Dass Leben trotzdem entsteht und immer wieder entstanden ist, von winzigen Organismen bis hin zu hochkomplexen Arten, zeigt Gee in diesem Buch, dem die Faszination anzumerken ist, die auch der Autor angesichts der Vielfalt des Lebens lange vor unseer Zeit spürt.

Schade, dass es außer den schematischen Karten der Erdzeitalter keine Illustrationen gibt, die diese Vielfalt auch optisch verdeutlichen, obwohl die für ein Sachbuch durchaus bildhafte Schreibweise doch die Vorstellungskraft anregt. Wer als Kind mit Dinosauriern auf du und du war, ist hier klar im Vorteil. Der Anspruch, das zeigt schon der Titel, ist nicht, das endgültige Buch über die Geschichte des Lebens auf der Erde zu schreiben, sondern einen Abriss in für Laien verständlicher Form zu geben und eine Einordnung zu versuchen.

Und genau das ist sehr gut gelungen - mit ein paar Anekdoten, Fußnoten, die den interessierten Leser bei weiterem Eindringen in die Materie unterstützen und einer gewisen Leichtigkeit des Seins in dem Wissen, dass irgendwann einmal die Zeit für unsere Art ebenso abgelaufen sein wird wie für die Dinosaurier. Doch für Gee ist das kein Grund, Trübsal zu blasen (wir werden das ohnehin nicht erleben). Dum vivimus vivamus, sagten schon die alten Römer. Ganz ähnlich muntert Gee seine Leser mit den letztzen Worten seines Buchs auf: "Deshalb verzagt nicht. Noch dreht sich unsere Erde, und das Leben dauert an."

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Veröffentlicht am 20.12.2021

Monumental

Stalingrad
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Monumental - das ist Wassili Grossmans Roman, man könnte auch sagen Epos, gleich in mehrfacher Hinsicht. Mit einem Umfang von fast 1300 Seiten hat das Buch nicht gerade Standard-Format. Mit seinem verzweigten ...

Monumental - das ist Wassili Grossmans Roman, man könnte auch sagen Epos, gleich in mehrfacher Hinsicht. Mit einem Umfang von fast 1300 Seiten hat das Buch nicht gerade Standard-Format. Mit seinem verzweigten Figurendickicht steht Grossman zum anderen ganz in der Tradition der klassischen russischen Literatur mit ihrem vielfältigen Personal. Und dann ist da natürlich noch das Thema selbst, der Kampf um Stalingrad, für Deutsche wie für Russen gleichermaßen traumatisch angesichts der ungeheuren Menschenverluste, ein Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs.

Monumental ist aber auch die Schreibweise, die wie eine literarische Umsetzung der Historienmalerei eines Jan Matejko wirkt und zugleich stark geprägt ist von der Sprache und dem Klima der Entstehung des Romans, der erstmals 1952 veröffentlicht wurde. Stalin lebte noch, und entsprechend zurückhaltend werden die Verhaftungs- und Säuberungswellem der vorangegangenen Jahre angedeutet.

Beipielhaft für die vielen vom Krieg betroffenen Menschen ist die Familie Schaposchnikow und ihr Umfeld, Zivilisten wie Militärangehörige. Das Bangen um Angehörige, der Glaube an den Sieg über den Faschismus, die Härten des Alltags in der Belagerung, die Flucht der Menschen aus den eroberten Gebieten, all das wird teils im reportageartigen Stil, teils in den Erzählungen der Figuren geschildert. Dabei schwankt die Darstellung zwischen Heldenpathos und unverschnörkeltem Bericht über die Grausamkeiten des Kriegs und den Fatalismus von Menschen, denen klar ist, dass sie aller Wahrscheinlichkeit dem Tod geweihnt sind.

Manches ist mir hier zu bombastisch. Ein Beispiel:

"Ehrfurcht einflößend hallte die erste Salve der Batterie über die Wolga. Das war keine gewöhnliche Artilleriesalve, und ringsum erstarrte alles, horchte auf; die russische Erde, der riesige Himmel und der blaue Fluss nahmen den Geschützdonner auf, vervielfachten ihn in einem vielstimmigen Echo. Steppe, Himmel und Wolga, so schien es, legten ihre Seele in dieses Echo, es grollte feierlich und breit wie der Donner, erfüllt von Trauer und finsterem Zorn...

Doch dann findet Grossman Worte über die von Vernichtung bedrohte Stadt, die in wenigen, wie skizzierten Sätzen, die Schrecklichkeit des Krieges ausdrücken:

"Im Rauch, Staub und Flammen, begleitet von einem Krachen, das Himmel, Wasser und Erde erschütterte, ging die große Stadt zugurnde. Es war ein entsetzliches Bild, aber noch entsetzlicher war der brechende Blick eines sechsjährigen Menschen, den ein Eisenträger zerquetscht hatte. Es gibt Kräfte, die gewaltige Städte aus der Asche heben können, aber keine Kraft der Welt kann das Augenlid, kann die leichten Wimpern eines toten Kindes anheben."

Episch ist "Stalingrad" auch deshalb, weil Grossman die Kriegserlebnisse quer durch alle Gesellschaftsschichte beschreibt, in den Kommandostäben und den Schützengräben gleichermaßen schildert. Grossman wusste, wovon er schrieb, als Kriegsbericherstatter für die sowjetische Armeezeitung war er selbst an der Front, berichtete über den Kampf um Stalingrad.

Die Soldaten der Roten Armee, die er porträtierte, waren stolz auf ihre Rolle in seinen Artikeln, heißt es im Vorwort. Grossman war embedded, so würde man es heute wohl nennen und auch wenn manche Passage aus meiner heutigen Sichtweise vor Pathos trieft - war es womöglich seinerzeit auch ein Versuch, dem massenhaften Sterben einen Sinn zu geben? Dass es nicht nur Selbstaufopferung und Siegeswillen war, der die Soldaten prägte, wird nicht verschwiegen. Gleich mehrfach drohen Offiziere und Kommandeure, Rückzug werde mit dem Tod bestraft.

Wird "Stalingrad" den reichlich erhaltenen Vorschusslorbeeren gerecht? Ein enormes Unterfangen ist dieses Buch allemal. Es gibt atemberaubende, eindrückliche Szenen und Dialoge - und andere, die schwülstig und längst nicht mehr zeitgemäß wirken. Beeindruckend ist der Roman dennoch.

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