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Veröffentlicht am 24.04.2023

Herzergreifend

Morgen und für immer
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Mit leisen Tönen beginnt "Morgen und für immer", der Debütroman von Ermal Meta (aus dem Italienischen von Peter Klöss), zärtliche Durtöne plätschern vom Fluss nahe des kleinen Bauernhauses her, ab und ...

Mit leisen Tönen beginnt "Morgen und für immer", der Debütroman von Ermal Meta (aus dem Italienischen von Peter Klöss), zärtliche Durtöne plätschern vom Fluss nahe des kleinen Bauernhauses her, ab und an durchdrungen vom kläglichen Versuch des kleinen Kajan, dem Klavier Töne zu entlocken. Schon früh sah sein Großvater etwas in ihm, sah, dass er mit der Musik einmal etwas Großes erschaffen würde. Und er sollte recht behalten.
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Ungemein empathisch und lebendig, zuweilen brutal und schmerzhaft beschreibt Ermal Meta den Weg, den Kajan geht, das Verhältnis zu seinem unerschütterlichen Großvater, der mir sehr ans Herz gewachsen ist, seine Verbindung zu Cornelius, der ihm den Schlüssel in die Hand legen sollte, den Weg zu finden, der für ihn bestimmt scheint - und den er selbst nicht gehen konnte. Die Musik. Sie ist allgegenwärtig, das verbindende Element zwischen Menschen und Zeiten, in Krieg und Frieden; eine Sprache, die keine Worte bedarf. Die Grenzen übertritt und Wege öffnet in eine neue Zukunft. Es ist die Musik, die Kajan den Händen seiner Mutter entriss, einer landesweit bekannten Politikerin, die ihn seiner Freiheit, seiner Liebe entriss, ihn wegschickte, um ihr Ansehen zu wahren. Das Schicksal nimmt seinen Lauf. Kajan wird zum Spielball der Regime, nirgends scheint er sich. Er flüchtet: aus Albanien nach Ostberlin, über die Mauer - und landet schließlich in den USA. Ein Neustart, niemand kennt ihn, niemand weiß um sein Talent. Hier kann er, muss er jemand anders sein, neuer Pass, neues Leben. Doch immer ist es die Musik, die ihn am Leben hält, ihm Hoffnung gibt.
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Mitreißend und gefühlvoll flicht Ermal Meta unterschiedliche Perspektiven um die Coming-of-Age-Geschichte Kajans herum, erzählt vom Schicksal seiner Eltern an der Kriegsfront, seiner Familie, von seinem Großvater; sie sind die Instrumente, die die zarten, immer kräftiger, raumfüllender werdenden Klänge seines Klavier untermalen, ihn an Strahlkraft dazugewinnen lassen - und die Sinfonie abrunden. Dynamisch wechselt das Erzähltempo zwischen lauten und leisen Tönen, folgt jedoch immer der Grundmelodie, chronologisch vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die Gegenwart. Von Beginn an war ich ungemein gefesselt von der liebevollen, gewitzen Sprache, den Ungewissheiten, die die Zeiten des Kriegs für Kajan und seine Familie bereithalten könnten, von Kajans Reise oder vielmehr Flucht, doch gegen Ende hin zogen sich manche Passagen in die Länge, die Musiker müde ob der Länge des Konzerts - und dennoch hörte ich ihnen noch so gerne zu, auch wenn die Achtel- zu halben Tönen wurden, die Luft allmählich weg war. Ein paar Seiten weniger, ja, das wäre meiner Meinung nach nicht verkehrt gewesen, hier und da ein wenig gekürzt, aber die Geschichte hat auch so keinesfalls an Kraft und Gefühl eingebüßt.
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"Morgen und für immer" ist nicht nur eine Liebeserklärung an die Musik, es ist eine wunderbare Geschichte über einen Jungen, der für seinen Traum kämpft, so hart das Schicksal ihm auch zuzusetzen meint, eine Geschichte über Liebe und Freundschaft. Ein ganz besonderes Buch, das ich nicht vergessen werde.

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Veröffentlicht am 12.04.2023

Ein beeindruckendes Werk

Wir hätten uns alles gesagt
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„Jede Geschichte hat ihren ersten Satz. Nicht der Satz, mit dem die Erzählung im Buch beginnt, sondern der Satz, mit dem sie in meinem Kopf beginnt. Manchmal ein Bild oder ein Augenblick, ein Blick auf ...

„Jede Geschichte hat ihren ersten Satz. Nicht der Satz, mit dem die Erzählung im Buch beginnt, sondern der Satz, mit dem sie in meinem Kopf beginnt. Manchmal ein Bild oder ein Augenblick, ein Blick auf etwas hin oder von etwas weg. ... [Der Satz], ihn zu hören, ist begleitet von einer nur sekundenlangen, aber eindeutigen und unmittelbar körperlichen Empfindung – ein Erschauern, Vorahnung, eine Gänsehaut.“ (S. 37)

Ich war gerade zwei Jahre alt, da debütierte Judith Hermann mit dem Erzählband „Sommerhaus, später“. Fünfundzwanzig Jahre ist das nun her. Seitdem veröffentlichte drei weitere Erzählbände und zwei Romane, zuletzt im Frühjahr 2021 „Daheim“, eine Geschichte, die von Erinnerungen erzählt, vom Aufbrechen und Ankommen, die geprägt ist von ihren stillen, magischen Momenten. Eben diesen, die keiner Worte bedürfen, in denen die Stille mehr als genug sagt.

Es ist das verbindende Element, das sich durch das Werk von Judith Hermann zieht, der rote Faden: diese magischen Momente, die ihre Kraft im Ungewissen entfalten, im Ungesagten, die die Grenzen des Rationalen überschreiten, Traum und Realität ineinander übergehen lassen. Doch: Was ist wahr, was erfunden, erträumt, was bleibt ungesagt? In „Wir hätten uns alles gesagt. Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben“ reflektiert Judith Hermann im Rahmen ihrer Gastdozentur bei den Frankfurter Poetikvorlesungen anhand ihrer Lebensgeschichte ihr Schreiben und Denken über das Schreiben, inwiefern sie einander beeinflussen und bedingen, einander in ihren bisherigen Werken abbilden und eben nicht. Schreiben, eine Geschichte erschaffen, das ist ein Schutzraum für sie, die Erzählerin, „ein Gehäuse wie die Schale einer Nuss“ (vgl. S. 16) bestehend aus dem, was nicht gesagt wird, dem Verschwiegenen. Wenn sie schreibt, dann über sich, über ihr Leben – und gleichzeitig aber auch nicht, denn was letztlich Teil der Geschichte bleibt, was gesagt wird, ist nur ein Schneekugelaugenblick. Ein Teil des Bildes, das sie mit Sprache festgehalten hat, eine „Imitation von Leben“ (vgl. S. 27).

„Die Familie ist nicht das einzig Ungeheuerliche, was dir geschieht. Am Ende ist alles ungeheuerlich. Das Eigentliche, das Herz der Materie, ist an und für sich nicht erzählbar, das Zentrum ist ein unbetretbarer Ort. Aber sich etwas auszudenken hieße für mich, aus der Wirklichkeit hinaus und in eine andere Wirklichkeit hinein zu wollen – und das ist eben genau das, was ich nicht will.“ (S. 100)

Mit gleichermaßen zarten wie nachdenklichen Worten verwebt sie in drei Abschnitten Bilder ihrer Kindheit und dem Aufwachsen in einem Puppenhaus aus Dunkelheit, in dem sie schon früh Zuflucht in den Büchern fand, dem Wesen ihrer Familie, traurig-melancholischen Erinnerungen an ihre Wahlverwandtschaft, ihr Wolfsrudel, und den erste Pandemiewinter miteinander, zeigt anhand der Gefühle, Momente und Menschen, die sie prägten, inwiefern sie eben auch ihr Schreiben beeinflussten, was es braucht, um eine Geschichte zu schreiben – und was eben nicht. Denn Schreiben, so sagte sie bei ihrer Lesung in Berlin im April 2023, das sei ein unlösbares Paradox: Schweigen und Verschweigen zur selben Zeit. Sie überträgt dieses Paradox des Schreibens auf das Leben selbst – und andersherum, denn: „Das ist, was ich schreibe: Ich schreibe über mich. Ich schreibe am eigenen Leben entlang, ein anderes Schreiben kenne ich nicht.“ (S. 15)

Während des Lesens stellte ich mir vor, ich säße in eben jenem Hörsaal, in dem Judith Hermann ihre Vorlesungen hielt, den Kopf auf die Hände gestützt, versunken, von Worten warm umarmt. Es war, als würde sich die Welt um mich herum langsamer drehen, so sehr ersetzten ihre Worte und Gedanken eben meine, fantasierte ich anhand der Geschichte um ihre Freundin Ada, was eben im Dunkeln verblieben ist; weinte um Marco, den Gammawolf; beobachtete ihren Analytiker Dr. Dreehüs – der an sich schon ein Paradox in sich ist; ich glühte. Einen Bleistift in der Hand, kehrte ich immer wieder zum Beginn eines Absatzes zurück, hinterließ mit Graphit meine Spuren zwischen den Worten, die die Welt bedeuten; die Fingerkuppen grau, eine jede Seite gezeichnet, der Einband geknickt. Ein Buch über das Leben, die Magie des Schreibens und alles dazwischen. Ein Jahreshighlight.

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Veröffentlicht am 06.04.2023

Beeindruckend

Siegfried
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Neun Lettern, die von Macht sprechen, von altem Geld, von Regeln. Davon, nach dem Besten zu streben, keine Kompromisse: Siegfried. Alle Wege führen zu ihm, denn er war immer da gewesen im Leben der Protagonistin ...

Neun Lettern, die von Macht sprechen, von altem Geld, von Regeln. Davon, nach dem Besten zu streben, keine Kompromisse: Siegfried. Alle Wege führen zu ihm, denn er war immer da gewesen im Leben der Protagonistin aus Antonia Baums neuem Roman „Siegfried“, körperlich wie geistig, in ihren Gedanken, in ihren Handlungen – Siegfried. Das personifizierte Patriarchat, der Macher.

Sie ist fahrig und aufgewühlt, die namenlose Protagonistin, ihr Leben am Rand einer Klippe, im Fallen begriffen, doch sie kann sich nicht halten. Seit einem Jahr hat sie eine Schreibblockade, ihr Buchprojekt ein ruheloses Blinken des Cursors auf dem Display, und sie hat Angst: dass das Geld ausgeht, vor der Reaktion ihrer Verlegerin, vor Alex. Geld war schon immer ein Streitpunkt ihrer Beziehung. Denn Geld bedeutet für sie Sicherheit. Das war etwas, das er – anders als sie – von seinen Eltern nicht mitbekommen hatte. Sie wuchsen in der DDR auf, die Wende hatte etwas mit ihnen gemacht. Alex schämte sich für sie, die Platte, den Nippes, ihre Kleingeistigkeit; dafür, dass sie kein Geld und keine Ambitionen zu haben schienen: „Sie kämen ihm vor die Kinder, die sich erschreckt hätten, als die Mauer fiel, und sich von dem Schreck nicht mehr erholten. Es ging bei uns nur um Angst. Die haben alles aus Angst gemacht. Das Höchste, was man erreichen konnte, war Sicherheit. Es gab nichts, was ich nachmachen konnte. Oder wollte.“ (S. 125)
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Angst, das war etwas, ihrer Familie auch nicht unbekannt war. Sie blickt zurück, in ihre Kindheit, die Wochen, die sie im Sommer bei Hilde, der Mutter ihres Stiefvaters Siegfried, verbrachte. Hilde ist eine Marke, anders kann man es nicht sagen. Sie vergöttert ihren Sohn, doch liebevoll ist sie nicht, in ihrem Haus wohnt Traurigkeit. Ein wenig kauzig, sonderbar, liebt raffinierte Dinge, eine Macht- und Respektsperson, die sich nach der Sicherheit und Stabilität der 80er Jahre sehnt, immer wieder ihre Erinnerungen an den Krieg nebenbei ins alltägliche Gespräch einfließen lässt. Das Mädchen bekommt jeden Tag die Enttäuschung darüber zu spüren, dass sie eben das ist: kein Junge. Sie wird gefordert, ihre Fortschritte gemessen, klein gehalten; der Blick in den Spiegel wird ihr verwehrt, der offenbaren würde, dass sie älter wird, als könne es den Lauf der Dinge aufhalten.
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Angst auch in ihrem Elternhaus: häusliche Gewalt, Berechnung, patriarchale Macht. Und Angst, als sie – ihr Elternhaus hatte sie lange verlassen – Alex kennenlernt. Sie sehnte sich nach jemandem, der anders ist, anders, als sie es kennengelernt, von Hilde gelehrt bekommen hatte, und fand all das in Alex: Er schien sorglos, was das Leben angeht, seine Zukunft, wollte sich lösen von alten Mustern, seinem Zuhause, doch sie wurde immer wieder befallen von den Zügen, die sie ihr Leben lang vorgelebt bekam. Neurotische Ordnungssucht, genug Waschpulver, Brot. Geld. Das große Streitthema. Und immer wieder scheint Alex sich wie Siegfried zu sein, ihre Beziehung wie die ihrer Eltern: „Ich zitterte, er sah mich lächelnd an, und ich war voller Glück. Ich sah ihn an und dachte, dass er überhaupt keine Ahnung hatte und vor allem keine Angst. Nicht davor, bei mir zu sein, auch nicht davor, allein zu sein. Als ich Jahre später in der Psychiatrie saß, fragte ich mich, was aus Alex und mir geworden war, wie es sein konnte, dass es dem so ähnelte, was meine Eltern miteinander veranstaltet hatten, die Lügen, die Kälte, die Brutalität. Ich konnte es nicht sagen, aber ich hatte eine Ahnung." (S. 113)
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Schicht um Schicht legt Baum mit einer gewissen Kühle, in Gedanken – Erkenntnissen – schwebend, Traumata frei, Motive, die sich transgenerational durch den Familienstammbaum ziehen, von Hilde über Siegfried hin zu der namenlosen Protagonistin. Eindrücklich zeigt sie die Beziehungen der einzelnen Protagonisten auf, ihre jeweiligen Charakterzüge. Anhand dessen beschreibt sie kraftvoll, wie Gewohnheiten, wie Gewalterfahrungen fortbestehen und in den Menschen weiterleben, weitergegeben werden, Machtstrukturen überdauern, alte Ideale bleiben – ebenso wie Ängste. Siegfried ist das Kondensat all dessen, die Machtfigur, doch die Zeit ist auch ihm nicht gnädig, ewig jung bleibt niemand. Der König wankt, krank und alternd, doch seine Präsenz schwindet nicht.
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"Siegfried" ist so viel mehr als das, was ich erwartet hatte zu lesen, mehr und anders (!) als das, was der Klappentext suggerierte. Eine eindrückliche, lebendige Charakterdarstellung, eine innere Reise, eine Auf- und Verarbeitung - und ein richtig gutes Buch. Und: Props an Hilde!

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Veröffentlicht am 20.03.2023

Mitten ins Herz

Leonard und Paul
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Voller Wärme und Humor erzählt er von der besonderen Freundschaft zweier Männer Mitte Dreißig, die beide eher eine Nebenrolle auf der großen Bühne des Lebens spielen, zurückgezogen, aber nicht einsam leben ...

Voller Wärme und Humor erzählt er von der besonderen Freundschaft zweier Männer Mitte Dreißig, die beide eher eine Nebenrolle auf der großen Bühne des Lebens spielen, zurückgezogen, aber nicht einsam leben – denn sie haben einander. Und Pauls Familie. Aus jedem Gespräch, jeder Interaktion sprechen Liebe und Wertschätzung des Gegenübers, Aufrichtigkeit. Sanften Wortes gibt Hession seinen Protagonisten Konturen, Ecken und Kanten, zeigt ihre Ängste und Bedürfnisse auf, ihre leicht verschroben sympathische Naivität und ihr warmes Herz, das in dem Kokon versteckt ist. Sie wachsen am Leben und den sich auftuenden Herausforderungen, erkennen, dass es noch so viel mehr zu bieten hat, wenn man sich nur traut, sich öffnet und auf Menschen zugeht, denn: „Menschen waren nämlich gar nicht so schlecht. Jedenfalls nicht alle. Vielleicht lag darin gerade die Kunst: die richtigen Menschen zu finden, sie zu erkennen und zu wissen, wie man ihnen Wertschätzung entgegenbrachte, sobald man sie gefunden hatte.“ (S. 168)
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Hession spielt mit der Sprache, besticht durch eine unvergleichliche Leichtigkeit, eine Lebendigkeit, die ungemein fröhlich macht. Seine feinen, kluge Beobachtungen haben mich ein ums andere Mal innehalten, die Worte wie einen warmen Schauer aufnehmen lassen. Er vertauscht die Leonard und Paul von der Gesellschaft auferlegten Rollen, stellt ihre Freundschaft und jeweilige Entwicklung in den Vordergrund, wo sie sonst übersehen, unterschätzt und abgewertet werden, während die Geschichte von Pauls ältere Schwester Grace, die auf der Bühne des Lebens schon qua Geburt präsenter war, sie lauter, selbstbewusster, eher einen Nebenschauplatz darstellen soll, handlungsunterstützend statt -leitend. Und doch sind es gerade die Nebencharaktere, die Leonard und Paul voranbringen, ermutigen, über sich hinaus zu wachsen, aus Routinen auszubrechen und auf ihr Können zu vertrauen. Und nicht zuletzt: neue Menschen in ihr Leben zu lassen.

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Veröffentlicht am 14.03.2023

first it was sweet

Ohne mich
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So many feelings about this book, but where to start. Ich mochte den Schreibstil. Sehr! GROSSGESCHRIEBEN. Dieses unüberlegt leichte, schnelle Abfeuern von Gedanken, lange Satzketten, den zynisch-verdaddelten ...

So many feelings about this book, but where to start. Ich mochte den Schreibstil. Sehr! GROSSGESCHRIEBEN. Dieses unüberlegt leichte, schnelle Abfeuern von Gedanken, lange Satzketten, den zynisch-verdaddelten Ton, bei dem man nicht weiß, ob man das nun ernst nehmen soll oder welche Version der Protagonistin da nun aus ihr spricht, insbesondere weil Schlagwörter immer wieder in Versalien den Schriftsatz durchbrechen, quasi GÄNSEFÜSSCHEN schreien. Sie ist halt doch auch erst Anfang zwanzig, dagegen fühlte ich mich schon fast wieder alt. Aber nein, mochte ich, hatte regelrecht das Gefühl, in ihrem Kopf zu sitzen und die Karussellpferde durch die Gegend tanzen und auf die Nase fliegen zu sehen. Oder gegen die Wand rennen. Zwar schreibt sie ACHTSAMKEIT und ENTSCHLEUNIGUNG groß, REFLEXION jedoch scheint an ihr vorbeigegangen zu sein. Da kam ich mir dann nicht nur alt vor, sondern wie eine Kindergärtnerin: "Ach, das macht man doch nicht, lass das!" Zwar scheint sie in Bezug auf ihre Gefühle reflektiert zu sein, doch was den Alkohol, die Drogen und das Feiern angeht, naja. Klar, sie ist jung, sie will vergessen, aber so... Naja. Darüber hinaus finde ich, wird sehr flapsig mit dem Thema Depression und/oder Traumabewältigung umgegangen, es als nebensächlich und mit einem Seufzen und dem Kommentar der Mutter, dass sie sich Hilfe suchen solle, und einem Yoga-Retreat abgetan. Finde ich zu wenig. Eh fehlte es mir insgesamt an Tiefe, vieles blieb oberflächlich, und nur zwischen den Zeilen ließ sich Essenz vermuten - und manches Mal auch finden -, und irgendwo auch an Stringenz. Andererseits: She acts her age and her situation. Nur ohne Kopfschutzhelm. Das letzte Drittel flog dann eher an mir vorbei, ich war müde von der Protagonistin, ihrem Gedankenmikado, da konnte mich auch der Schreibstil leider nicht mehr bei der Stange halten.

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