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Veröffentlicht am 29.05.2023

Ödnis in der dänischen Provinz

Meter pro Sekunde
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Stine Pilgaard lässt in ihrem Roman "Meter pro Sekunde" eine junge Mutter, sie dürfte in den 30ern sein, nach Westjütland ziehen. Dass sie mit dieser Gegend Dänemarks nicht viel anfangen kann, wird bald ...

Stine Pilgaard lässt in ihrem Roman "Meter pro Sekunde" eine junge Mutter, sie dürfte in den 30ern sein, nach Westjütland ziehen. Dass sie mit dieser Gegend Dänemarks nicht viel anfangen kann, wird bald deutlich. Denn im Gegensatz zur Ich-Erzählerin, die gerne und viel redet, sind die Jütländer eher zurückhaltend. Kein Wunder also, dass die Ich-Erzählerin des Romans in einige Fettnäpfchen tritt, weil sie als "Schlabbergosch" ziemlich viele Grenzen missachtet.

Den Versuchen, sie in die Gemeinschaft des Ortes Velling  einzubinden, steht die Ich-Erzählerin allerdings zunächst misstrauisch bis feindlich gegenüber. Wie auch dem Autofahren. Es braucht über 80 Fahrstunden, bis sie überhaupt zur Fahrprüfung zugelassen wird. Viel mehr als dass die Ich-Erzählerin Fahrstunden nimmt, die Zeitungskolumne des "Kummerkastens" schreibt und sich mehr oder weniger erfolgreich versucht einzugliedern, passiert in dem Roman nicht.

Was die Handlung angeht, ist "Meter per Sekunde" also ziemlich dünn. Allerdings hat der Roman einen gewissen Unterhaltungswert - zumindest, wenn man sich ein wenig mit der dänischen Kultur und der westjütländischen Lebensart  auskennt. Nur dann dürften einem die umgedichteten Lieder und die oft frechen Kolumnen, die im Roman abgedruckt sind, auch etwas sagen.

Während die zigste Fahrstunde einen als Leser doch irgendwann sehr ermüdet (auch wenn die Fahrlehrer immer wieder wechseln), so haben die Sprachübungen, die die Ich-Erzählerin absolviert, ihren humoristischen Reiz. Wie unterhält man sich also, um nicht aufdringlich zu wirken? Dinge nicht direkt zu sagen und den Menschen nicht direkt in die Augen sehen, das muss gelernt werden. Verraten sei, dass sie durchaus Fortschritte macht - wo doch ihr Kind zu allem nur "Muh" sagt, was die Eltern zur Verzweiflung bringt.

Hier gibt es ganz wunderschöne Szenen zu entdecken - etwa bei der Übung, was man sagt, wenn der Hund eines Bekannten überfahren wurde. Natürlich fragt man nicht direkt, wie es ihm geht, sondern sagt ganz unpersönlich "Traurig, das mit deinem Hund."

Solch witzige Momente sind aber doch dünn gesät in Stine Pilgaards Buch. Insgesamt plätscherte mir der Roman zu sehr vor sich hin.

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Veröffentlicht am 21.05.2023

Ein Wiener Café als Dreh- und Angelpunkt vieler Geschichten

Das Café ohne Namen
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Das Café ohne Namen: In Robert Seethalers neuem Roman "Das Café ohne Namen" ist ein Café in Wien der Dreh- und Angelpunkt vieler Geschichten. 

Robert Simon ist der stolze Pächter des Cafés. 1966 - sicher ...

Das Café ohne Namen: In Robert Seethalers neuem Roman "Das Café ohne Namen" ist ein Café in Wien der Dreh- und Angelpunkt vieler Geschichten. 

Robert Simon ist der stolze Pächter des Cafés. 1966 - sicher nicht ohne Zufall Robert Seethalers Geburtsjahr - wird aus dem Gelegenheitsarbeiter Robert Simon ein stolzer Café-Betreiber. Ein klein wenig klingt die Kaffeehaus-Literatur der 1900er Jahre an. Doch sind es andere Geschichten, die in den 1960er Jahren erzählt werden und es sind andere Gäste, die Robert Simon bedient. Seethaler lässt in dem Café ganz unterschiedliche Menschen ein- und ausgehen, überwiegend sind es aber Arbeiter und Menschen der unteren Mittelschicht. 

Es sind eher die gebrochenen Gestalten - der gescheiterte Boxer, der Fleischer, der seine Kinder kaum ernähren kann, kurzum: all die, die eher ums Überleben kämpfen als dass sie Gewinner des Aufschwungs der Nachkriegszeit sind. 

Allerdings haben mich die Schlaglichter auf das Leben der ganz unterschiedlichen Café-Besucher zumeist nicht so mitgenommen. Ähnlich wie das "Café ohne Namen" bleiben auch sie eher konturlos. Nur kurze Ausschnitte aus ihrem Leben sind dem Leser gegönnt. 

Dafür gewinnt der Blick des Lesers auf den Pächter des Cafés immer mehr an Kontur. Robert Simon ist einer, der abgeschafft ist, dem ein Ruhetag zur Erholung nicht mehr ausreicht. Einer, der sich verwirklicht, seinen Traum lebt. Zumindest solange, bis er merkt, dass er keine weiteren Träume hat. Lebt er überhaupt? Um ihn herum wird gestritten, sich getrennt, wieder versöhnt, gesoffen, gestorben und eine Brücke bricht in sich zusammen. Nur er scheint sich nicht zu entwickeln, nur ihm selbst scheint nichts zu passieren. Außer den Geschichten seiner Gäste erlebt er nichts.

Dass einzelne Kapitel aus der reinen Wiedergabe von "Kaffeehaus"-Gesprächen bestehen, hat mich nicht überzeugt. Schon eher der Briefentwurf an den neuen Pächter, der am Ende des Buches abgedruckt ist. Das Café wird da beschrieben als ein Platz, an dem man sich in der wild drehenden Welt festhalten kann, wo man gleichermaßen schweigen und reden kann - je nachdem, wonach einem ist. 

Die letzten Kapitel des "Cafés ohne Namen" haben mich ein wenig mit dem doch eher ermüdenden Mittelteil versöhnt. Hier kommen die existenziellen Fragen auf den Tisch, hier gelingt es Seethaler mit vergleichenden Bildern wie der eingestürzten Brücke und sprachlichen Mitteln die grundsätzlichen Fragen von Aufbruch und Umbruch zu stellen. Denn letztlich muss das Café der neuen Zeit weichen. 

Fazit: Ganz überzeugt hat mich Robert Seethalers neuer Roman nicht. 

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Veröffentlicht am 13.05.2023

Mühsames Leseerlebnis

Schlafende Sonne
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Wer Bücher liest, um besser einschlafen zu können, der kann an Thomas Lehrs "Schlafende Sonne" vielleicht seine Freude haben. Vielleicht aber auch nicht. Denn der ab- und ausschweifende Erzählstil Lehrs ...

Wer Bücher liest, um besser einschlafen zu können, der kann an Thomas Lehrs "Schlafende Sonne" vielleicht seine Freude haben. Vielleicht aber auch nicht. Denn der ab- und ausschweifende Erzählstil Lehrs lässt die Gedanken des Lesers ebenso schnell abschweifen. Man kann sich in Bildern, Beschreibungen, Geschichten in der Geschichte gnadenlos verlieren. Will man aber der Handlung des Buches doch irgendwann folgen, so ist Lehrs "Schlafende Sonne" so gar nicht als Bettlektüre geeignet.

Ein Tag im Jahr 2011 ist der Kristallisationspunkt, auf den alles hinläuft. An diesem Tag findet die Ausstellungseröffnung der bekannten Künstlerin Milena Sommer statt. Ihr Mann Jonas, ein aus Freiburg stammender Physiker, wird vom Erzähler immer wieder als Erzählperspektive genutzt .

Zwar sind es Bilder der Ausstellung, die immer wieder Thema sind, doch die Handlung pausiert in dieser Zeit nicht, und man hat Mühe ihr zu folgen. So folgt etwa dem Blick auf das Freiburger Münster beim Besuch in der badischen Stadt eine seitenlange Beschreibung über einen früheren Versuch von Jonas, den Turm zu besteigen. Inklusive: jede Menge Fachbegriffe der Architektur wie Expressschlingen, Sprossen und Krabben, Kreuzblume und Maßwerkfenster. Dazu noch: Metaphernreichtum grenzenlos. Das Freiburger Münster? Ein "hohes filigranes Massengebilde aus rotem Fleisch, Raucherlungengewebe oder alter Herzmuskel, mit Finesse in den Himmel ziseliert". Aha.

"Schlafende Sonne" als Gelehrtenroman zu bezeichnen, ist sicherlich richtig, doch hilft dies für das Verständnis mitnichten. So schön einzelne Beschreibungen sind, so sehr es Spaß macht, sich in einzelnen Szenen zu verlieren: den Gesamtzusammenhang überhaupt nur zu erkennen, ist eine Herausforderung, der man als Leser kaum gewachsen ist.

Der extreme Blick auf Details, das abschweifende Erzählen, das ausschweifende Abdriften in Belangloses, die konturlosen Figuren des Buches. All das macht das Buch zu einem zutiefst mühsamen Lese-Erlebnis. Und ja: die Ernte der Lesefrüchte erscheint doch äußerst mager, blickt man auf den Kraftakt, den man dafür geistig aufbringen muss. Nicht zu vergessen die Geduld, die es braucht, um sich immer wieder auf die - zumeist vergebliche - Suche nach einem roten Faden zu machen. Die wenigen Glücksmomente, wenn man sich über eine Formulierung freut, eine Anspielung erkennt, einen Zusammenhang bemerkt, können all dies nicht aufwiegen.

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Veröffentlicht am 01.05.2023

Sprachlich beeindruckend

Licht
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1978 erschienen, hat der Langenmüller-Verlag dieses Jahr Christoph Meckels Erzählung "Licht" neu veröffentlicht. Aus der Zeit gefallen wirkt diese Geschichte auch heute nicht. Im Gegenteil: Die Frage, ...

1978 erschienen, hat der Langenmüller-Verlag dieses Jahr Christoph Meckels Erzählung "Licht" neu veröffentlicht. Aus der Zeit gefallen wirkt diese Geschichte auch heute nicht. Im Gegenteil: Die Frage, wie man als Paar das Zusammenleben regelt, was es für eine Beziehung braucht, sie ist auch heute hochaktuell. 

Glück, das sagt Gil gleich am Anfang der Erzählung, Glück braucht es nicht in einer Beziehung. Glück sei eine Illusion. Es müsse einfach zwischen den beiden alles stimmen. 

Aber stimmt mit den beiden, mit Gil und Dole, alles? Eher nicht. Denn Gil findet einen Liebesbrief von Dole - der allerdings nicht an ihn gerichtet ist. Hat Dole also eine Affäre? Gil geht davon aus, auch wenn er hin und wieder Zweifel hat. Gegenüber Dole spricht er das Thema allerdings nicht an. Stattdessen beginnt er, sie zu beobachten. Dabei ist er völlig verunsichert, wie er mit seinem Fund umgehen soll - sein Versuch, mit Anspielungen Dole zum Reden zu bringen, misslingt. Also bleibt es unausgesprochen zwischen ihnen. 

Nach und nach verliert aber der gefundene Brief an Bedeutung. Stattdessen entwickelt sich Meckels "Licht" von einem spannenden zu einem sperrigeren Text. Rückblenden prägen nun Gils inneren Monolog. Ihr Kennenlernen, gemeinsame Urlaube. Ebenso die Erkenntnis, dass beide ihren Freiraum brauchen, Zeit für sich selbst. Telefongespräche, die sich verändern. Der Besuch an dem Ort, wo Dole aufgewachsen ist .Die Unsicherheit: was interessiert den anderen? Und: haben beide die gleichen Gefühle? Gil weiß, dass Dole 33 Jahre alt ist - Dole muss erst rechnen, wenn sie nach Gils Alter gefragt wird... 

Die Rückblenden sind zum Teil etwas schwer zu lesen, da sie unterschiedlich lang sind und man nicht immer weiß, wo man gerade zeitlich steht. Eine klare Entwicklung lässt sich so dem Text nicht entnehmen - das hat der Autor aber sicher auch nicht beabsichtigt. Vielmehr geht es darum, was eine Beziehung ausmacht - und was sie trägt. Die Chronologie wird dafür außer Acht gelassen. 

"Licht und Geheimnis" heißt es in dem unglückseligen Brief. Beides macht ihre Beziehung aus: Licht und Schatten, Licht und Verborgenes. Lange, bis kurz vorm überraschenden Schluss des Buches, bleibt beides in der Schwebe. 

Sprachlich ist "Licht" beeindruckend. Schon allein wegen Wortschöpfungen wie "Mitternachtsstädte" oder schöne, treffende Formulierungen wie diese: "Wir frühstückten spät und viel zu lang und ließen den Tag bis gegen Mittag warten."  

Auch deshalb hat mir "Licht" trotz der etwas ausufernden Rückblicke und der sprunghaften Erzählweise gut gefallen. 

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Veröffentlicht am 01.05.2023

Jugendbuch über die ersten Jahre des Rauhen Hauses

Matze macht fette Beute
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Matze ist 12. Er lebt in Hamburg. Im Gängeviertel. Dort, wo 1833 die Armen leben. Nachdem er bei einem Diebstahl geschnappt wird, kommt er ins Rauhe Haus zu Johann Hinrich Wichern. Davon handelt Hans-Dietrich ...

Matze ist 12. Er lebt in Hamburg. Im Gängeviertel. Dort, wo 1833 die Armen leben. Nachdem er bei einem Diebstahl geschnappt wird, kommt er ins Rauhe Haus zu Johann Hinrich Wichern. Davon handelt Hans-Dietrich Nehrings Jugendbuch „Matze macht fette Beute„.

Ein klein wenig missverständlich ist der Buchtitel schon, schließlich geht es im größten Teil des Buches darum, wie es im Rauhen Haus zugeht und nicht darum, wie man Beute macht. Gemeint ist natürlich, dass Matze die Kurve kriegt und sein Leben eine ordentliche Wendung nimmt.

Spannung und Liebe sind in „Matze macht fette Beute“ auch mit dabei. Nicht nur, dass Matze sich verliebt, er ist beim Hamburger Stadtbrand auch noch als Lebensretter gefragt. So lässt sich das Buch gut und gerne lesen, denn der Protagonist ist ganz und gar sympathisch, auch wenn er hin und wieder ordentlich auf die Probe gestellt wird.

Auch wenn die Handlung vor allem in den Anfangsjahren des Rauhen Hauses spielt, kommt vieles von dem, was Wichern plant, zur Sprache. So erfährt man viel von Wicherns christlichen Erziehungsidealen und seinen Vorstellungen von Bildung. Der erste Erziehungshelfer trifft im Buch bereits ein – und rettet gleich am ersten Tag zwei Jungs das Leben.

Dies – wie auch vieles anderes was Nehring erzählt – ist tatsächlich ein historischer Fakt. Nehring lehnt vieles an historische Tatsachen an – er hat dafür die Jahresberichte, die Wichern selbst schrieb, gründlich gelesen und vieles daraus in die fiktive Geschichte übernommen. Dies macht das Buch noch überzeugender. Lesenswert!

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