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Veröffentlicht am 25.12.2018

18 Geschichten über das Prügeln...

Sich Prügeln
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Wie kommt es, dass Menschen sich prügeln?
Houssam Hamade hat in seinem Buch „Sich Prügeln“ 18 Geschichten gesammelt, die den Umgang mit Gewalt nähern beleuchten.
Es sind ganz unterschiedliche Menschen, ...

Wie kommt es, dass Menschen sich prügeln?
Houssam Hamade hat in seinem Buch „Sich Prügeln“ 18 Geschichten gesammelt, die den Umgang mit Gewalt nähern beleuchten.
Es sind ganz unterschiedliche Menschen, die hier zu Wort kommen. Bei den einen gehört Gewalt zum Leben dazu, bei den anderen ist es eine einmalige Erfahrung, eher impulsiv. Dann gibt es die, die sich nichts gefallen lassen. Wie auch die, die eigentlich gar nicht zuschlagen wollten. Die, die bereuen genauso wie die, die nichts bereuen.

Liest man diese Geschichten, um mehr über den Mechanismus von Gewalt oder über die Ursachen von Gewalt zu erfahren, so wird man vielleicht zunächst enttäuscht. Wie soziologische Feldforschung stehen die Geschichten nebeneinander, immer wieder vermischt mit kurzen Ausführungen zu Prügeltechniken.
So regen die Geschichten an, sich zu fragen: Wozu dient Gewalt? Wäre sie vermeidbar gewesen? Wenn ja, wie hätte man sich anders verhalten können? Oder kann man sie womöglich als berechtigt ansehen? Ist es Aggressionsabbau? Angelerntes Mittel der Auseinandersetzung?
Damit ist „Sich prügeln“ eine Anregung, sich selbst mit der eigenen Position zu Gewaltanwendung zu beschäftigen.
Der Autor selbst vermeidet dabei eine Positionierung, es gibt keinen erhobenen Zeigefinger.

Veröffentlicht am 08.12.2018

Sammlung von interessanten Kurztexten Friedrich Lufts

Über die Berliner Luft
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Friedrich Luft ist ein Feuilletonist der alten Schule. Präzise müssen die Texte sitzen. Kein Geschnörkel. Kein Gelaber. Ein einziger Gedanke, der zu Ende geführt wird. Die Texte des Berliner Autors Friedrich ...

Friedrich Luft ist ein Feuilletonist der alten Schule. Präzise müssen die Texte sitzen. Kein Geschnörkel. Kein Gelaber. Ein einziger Gedanke, der zu Ende geführt wird. Die Texte des Berliner Autors Friedrich Luft sind nun in dem Band „Über die Berliner Luft“ gesammelt veröffentlicht.

Friedrich Luft schreibt Texte, die einen mit ihrer zielgenauen Sprache in den Bann ziehen. Luft nutzt die kleine Form – selten hat ein Text von ihm mehr als zwei Seiten. Kein Wunder, denn lange Jahre war das Radio die Heimat von Lufts kreativem Schaffen.

Meist ist es Alltägliches, das Luft aufgreift und betrachtet oder manchmal auch in abstraktere Überlegungen münden lässt. Manchmal ist es einfach nur ein Gedanke, den er ausführt. Zum Beispiel, dass er nur an den Zweifel glaube. Irgendwann landet er dann bei der Frage, wie Zweifel und Glück vereinbar sind, spricht über die Neugier und endet bei den wunderbaren, überraschenden Augenblicken des Glücks.

Nur selten gelingt es Luft nicht, klar und präzise zu schreiben. Wenn er etwa über den Tod Marilyn Monroes sinniert, wirkt es grausig moralinsauer. Aber das ist die absolute Ausnahme. Lufts Texte kommen leichtfüßig daher und haben doch etwas zu sagen. Viele von ihnen könnte man auch heute problemlos in Zeitungen abdrucken, ohne dass sie an Aktualität verloren hätten. Andere, vor allem der 40er und 50er Jahre, sind ein beredtes Zeugnis der Vergangenheit und schildern eindrücklich Zerstörung und Not der Nachkriegsjahre. Diese Texte wirken dicht und intensiv. Daher wirkt es fast enttäuschend, wenn Luft plötzlich die fiktive Figur des Urbanus ins Spiel bringt, zusammen mit einer Frau namens Ella. Ein wenig geht da die Intensität der Texte verloren.

Als wirklich störend empfand ich aber bei der Sammlung, dass die Texte nicht durchgehend chronologisch sortiert sind, sondern nach Themen bzw. Art der Veröffentlichung. So rutscht man beim Lesen plötzlich in die Nachkriegsjahre, die man eigentlich schon hinter sich glaubte. Zumindest die Texte, die sich direkt mit der Nachkriegszeit beschäftigen, hätten zusammengehört.

Das Nachwort von Wilfried F. Schoeller bietet einen guten Überblick über das Leben Lufts. Wie bei manch anderen Werken aus der „Anderen Bibliothek“ wirkt auch hier das Nachwort auf mich etwas zu abgehoben, etwa wenn nach Schoeller die Texte Lufts „einen geistigen Raum bilden, in dem die Gefühle und Stimmungen einander gleichsam berühren“. Solche Sätze findet man bei Friedrich Luft zum Glück nicht.

Veröffentlicht am 22.11.2018

Neues vom Känguru

Die Känguru-Apokryphen (Die Känguru-Werke 4)
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Mit dem Nachklapp bzw. dem vierten Teil einer Trilogie ist es immer so eine Sache. Das kann gewaltig ins Auge gehen, wenn die gleiche Geschichte ein wenig anders zum x-ten Mal erzählt wird. Marc-Uwe Kling ...

Mit dem Nachklapp bzw. dem vierten Teil einer Trilogie ist es immer so eine Sache. Das kann gewaltig ins Auge gehen, wenn die gleiche Geschichte ein wenig anders zum x-ten Mal erzählt wird. Marc-Uwe Kling ist nicht in der Gefahr, diesen Fehler zu machen. Die „Känguru-Apokryphen“ sind wieder eine witzige Sammlung neuer kleiner Geschichten rund ums Känguru & um seinen Mitbewohner Marc-Uwe.

Während Kling im Vorgängerband, der „Känguru-Offenbarung“, mit einem stringenten Handlungsfaden experimentierte und es in atemberaubendem Tempo quer über den Globus ging, führen die „Känguru-Apokryphen“ wieder zu der Anfangsform der Känguru-Geschichten zurück: kleine Geschichten, die zielgerichtet zu einer Pointe geführt werden.

Das verspricht gute Unterhaltung. Und ja, es ist gute Unterhaltung. Die meisten der Geschichten kann man zweimal hintereinander lesen (oder hören), um sie so richtig zu genießen. Langweilig wird einem auch beim vierten Band der Känguru-Trilogie nicht. Versammelt sind in dem Band witzige Geschichten um eine verpatzte Geburtstagsfeier, um Weihnachten im Juli, und natürlich gibt es auch in diesem Band wieder jede Menge Kleinkunst-Bashing.

Ja, das Buch ist etwas selbstreferenzieller als die Vorgänger, nicht nur einmal geht es um Lesereisen, um Marketing, um die Frage nach einem Känguru-Film. Manches wirkt ein wenig altklug, und man hat den Eindruck, dass Marc-Uwe Kling mit diesem Band seine Känguru-Geschichten erst einmal auch abschließen will. Es gibt viele Bezüge zu den Vorgänger-Bänden, viele Personen werden aufgegriffen, etwas Neues wird aber nicht entwickelt. Auch eine größere Geschichte fehlt in diesem Band. Wie es sich für Apokryphen gehört, wird nachgeliefert, aber nichts Neues angelegt.

Die Känguru-Fans werden ihre Freude an diesem Band haben. Wer von den Känguru-Geschichten bisher nichts gehört hat, sollte lieber mit dem ersten oder zweiten Band beginnen.

Veröffentlicht am 05.11.2018

Keine kleinen Helden

Loyalitäten
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Théo ist 12. Théo braucht den Kick. Am liebsten würde er sich selbst betäuben. Deshalb beginnt er zu trinken.

Delphine de Vigan hat in ihrem Buch „Loyalitäten“ einen Protagonisten geschaffen, der vom ...

Théo ist 12. Théo braucht den Kick. Am liebsten würde er sich selbst betäuben. Deshalb beginnt er zu trinken.

Delphine de Vigan hat in ihrem Buch „Loyalitäten“ einen Protagonisten geschaffen, der vom Leben nur so gebeutelt ist. Stoff genug für einen ganzen Roman. Doch Delphine de Vigan hat daraus ein Kleinod gemacht, das eher einer Novelle entspricht als einem Roman.

Aus der Sicht von vier Personen (Théo, sein Freund, dessen Mutter und eine Lehrerin) entspinnt sich die Geschichte. Eine Geschichte, die so viel Stoff bietet, weil jeder mit sich selbst beschäftigt ist. Jeder hat seinen eigenen Packen zu tragen, jeder hat seine eigenen Erfahrungen, mit denen er andere beurteilt.

So viel Stoff wirkt bei Delphine de Vigan aber keineswegs erschlagend. Immer wieder lenkt sie geschickt den Blick auf Théo und geschickt bringt sie die Aussagen immer wieder auf den Punkt. Delphine de Vigan ist eine Meisterin der Sprache und der sprachlichen Zuspitzung. Knapp und schnörkellos schreibt sie. „Wir sind alle Verbrecher“, lässt sie die Mutter sagen. Besser kann man ihre Lebenseinstellung kaum auf den Punkt bringen. Helden gibt es bei der französischen Autorin nicht. Nicht einmal kleine Helden.

Théo ist weder Held noch Anti-Held. Im Grunde sind ihm Zuschreibungen von außen sowieso egal. Denn er ist mit sich selbst mehr als genug beschäftigt. Er ist ein Scheidungskind, das heißt: eine Woche verbringt er beim Vater, eine bei der Mutter. Doch niemand scheint zu bemerken, wie überfordert er von dieser Situation ist. Ein Tinnitus ist die Folge. Théo will ihn sich wegtrinken, er will, dass etwas in seinem Gehirn explodiert, er sehnt sich danach, „für ein paar Stunden oder für immer in das dicke Gewebe der Trunkenheit zu fallen, sich davon bedecken, begraben lassen“. Er will das Stadium erreichen, in dem das Gehirn in den Ruhezustand geht.

Diese Entgrenzung verhindert, dass man in Théo einen kleinen Helden sehen kann. Wenn man liest, wie sehr sich Théo um seinen arbeitslosen Vater kümmert, der sich immer mehr gehen lässt, wie er für ihn einkauft, versucht eine Woche lang von 20 Euro zu leben, für ihn aufräumt, ihm Stellenangebote im Internet heraussucht – man glaubt, dass man einen kleinen Helden vor sich hat. Diese Erklärung bricht jedoch in sich zusammen, wenn man sieht, wie sehr Théo von dieser Situation überfordert ist und daran zu zerbrechen droht.

Nein, „Loyalitäten“ ist ein Buch ohne Helden. Ein Buch, das aufzeigt, wie wichtig es ist, miteinander zu reden, weil wir uns nicht von selbst verstehen. Und „Loyalitäten“ zeigt eindrücklich auf, wie sehr Kinder unter ihren familiären Verhältnissen zu leiden haben können.

Veröffentlicht am 02.11.2018

Beeindruckende Lyrik-Anthologie

Die Morgendämmerung der Worte
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Eine Lyrik-Anthologie mit Gedichten der Sinti und Roma: eine spannende Sammlung haben da Wilfried Ihrig und Ulrich Janetzki zusammengetragen. Ein „Poesie-Atlas“ ist daraus wohl geworden, weil die Gedichte, ...

Eine Lyrik-Anthologie mit Gedichten der Sinti und Roma: eine spannende Sammlung haben da Wilfried Ihrig und Ulrich Janetzki zusammengetragen. Ein „Poesie-Atlas“ ist daraus wohl geworden, weil die Gedichte, die die beiden Herausgeber mühsam zusammengesucht haben, aus ganz unterschiedlichen Ländern und sogar aus unterschiedlichen Erdteilen stammen. Die über 250 Gedichte aus „Die Morgendämmerung der Worte“ stammen von rund hundert Autorinnen und Autoren, aus rund 20 Sprachen wurden sie ins Deutsche übersetzt. Dass es sich zumeist um Neuübersetzungen handelt, zeigt, wie gründlich die Vorarbeit zu diesem Werk waren.

Somit leistet diese Anthologie einen einzigartigen Blick auf das lyrische Schaffen der Sinti und Roma der letzten rund hundert Jahre. So nimmt es nicht wunder, dass hier ganz unterschiedliche Themen zur Sprache kommen. Zentral ist in vielen Gedichten die Frage nach der eigenen Identität, aber auch nach Vorurteilen, ebenso nehmen Gedichte über Verfolgung einen breiten Raum ein. Hinzu kommen Gedichte über Liebe, Einsamkeit und Trauer. Und natürlich ist auch dabei, worüber Dichter am liebsten schreiben: das Dichten selbst.

Seinen Titel hat der Band von einem Gedicht Rajko Djurics:

Ich warte am Ufer des Flusses
Auf die Dämmerung der Worte

Auch Dezider Banga verbindet die Dunkelheit mit mit dem Dichten:

Ich ging in tiefster Mitternacht
zu nachtschwarzer Stunde
über die Wiese
als die Sterne in die goldenen
Fußstapfen der Sonne traten
die dem Dichter
den Weg wiesen

Die Beschreibung des Dichtens als quasi mystische Beschäftigung kann freilich auch ins Komische abgewendet werden, wie Jack Micheline zeigt:

Ich geh jetzt raus und vertrete mir
die Beine und lache, daß sich die Balken biegen.
Es ist Vollmond.
Ich werde mit dem Mond reden,
werde tanzen
mit den Gerippen auf dem Friedhof.

Immer wieder wird in den Gedichten der Verlust der Worte beschrieben, vor allem bei den nichteuropäischen Autoren, die ihre Roma-Sprache nicht mehr verwenden, sondern ihre Gedichte in den Sprachen ihrer Heimatländer schreiben. Der Verlust der Sprache wird dabei nicht mit dem Verlust der Identität gleichgesetzt – doch ist die Identität dadurch bedroht. „Wer sind wir, Roma ohne Romani“ fragt etwa Jimmy Storey.

Auch die Heimatlosigkeit wird immer wieder in den Gedichten thematisiert. Am schönsten vielleicht bei Thais Barbieux:

Ich bin eine Taube.
Wo ist mein Land?
Denn kein Blau ist unter meinen Flügeln,
kein Himmel in meinem Herzen.

Zur Heimatlosigkeit gehört auch die Rolle des Außenseiters, der sich nicht willkommen sieht und der um seine Rechte kämpfen muss. Am impulsivsten wird dies in „Die Schlacht am Noodledom Platz“ von Ronald Lee besungen, wo die Auseinandersetzung der britischen Roma (Romanichels) mit der Polizei fast schon balladenhaft besungen wird:

Romanichels haben hier gelagert
Auf diesem alten Stück öffentliches Land
Seit sie sich erinnern können
Aber jetzt erklärt die neue Verordnung
Dass Lagern hier verboten ist
Weil es hier kein Scheisshaus und keine Wassertoilette gibt.

Mit den Vorurteilen gegenüber Roma und Sinti wird in den Gedichten ganz unterschiedlich umgegangen: mal resigniert, mal ironisch, mal anklagend. Wenn es aber um die eigene Identität geht, so sind sich die meisten der Schriftsteller einig: die Kultur wird von den Alten, den Ahnen weitergegeben. „Vergesst nicht die Verse der Vorfahren“ – diese Mahnung findet sich nicht nur einmal in den Gedichten des Sammelbandes. Eine Mahnung, die ihren Grund auch im Versuch der Ausrottung der Sinti und Roma hat. Ihre Verschleppung in Lager ist Thema vieler Gedichte. Am eindrücklichsten hat vielleicht Ceija Stojka darüber geschrieben:

Ich
Ceija
sage
Auschwitz lebt
und atmet
noch heute in mir
ich spüre noch heute
das Leid

Das bestehende Leid nach Auschwitz thematisieren auch andere Schriftsteller, wie etwa Stefan Horvath:

Vergessen, das geht nicht,
dafür ist zuviel passiert.
Wir Tote, wir reden
als wären wir heute erst krepiert.

Antonio Ortega warnt in seinem „Unsonett der dunklen Nacht“ dagegen davor, den Schmerz zu inventarisieren: „leben ist nicht sterben voll Wunden“, denn „der Schmerz ist des Lebens nicht würdig“. Und ja, auch das Leben ohne Wunden kommt in den Gedichten des Lyrikbandes zum Tragen. So wird in Cecilia Wolochs Gedicht der Geliebte folgendermaßen beschrieben:

Mein Geliebter mit seinem Haar wie Nachtigallen
Mit seiner Brust wie Taubengeflatter wie graue Tauben die sich in der Dämmerung putzen
Mit seinen Schultern wie zärtliche Balkone halb im Schatten, halb in der Sonne

Und ja: die Vergleiche der Beine, der Zunge, der Zähne, der Finger: sie sind genauso komisch. Überhaupt haben einige der Poeten einen Hang zum Komischen.

Man kann der Anthologie also keinesfalls vorwerfen, einseitig zu sein. Die Gedichte sind vielmehr sehr vielseitig ausgewählt. Was allerdings ein wenig zu bedauern ist, sind die fehlenden Anmerkungen. Bei manchen Gedichte hätte man sich Erklärungen zur Entstehung gewünscht oder auch Erläuterungen zu einzelnen Wörtern. Die sind zwar da, aber sehr unübersichtlich im Vorwort versteckt.

Die Einteilung des Sammelbandes nach Ländern lässt den Wunsch aufkommen, dass weitere Anthologien zur Lyrik der Roma und Sinti entstehen werden, die statt nach Ländern nach Themen sortiert sind – wie Identität, Vorurteile, Liebe, Natur (inklusive des Mondes, der in fast allen Naturgedichten irgendwie besungen wird).

Fazit: Die Lyrik-Anthologie ist ein äußerst gelungenes Werk. Ein Schatz, in dem es viel zu entdecken gibt.