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heinoko

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 29.08.2018

Ein feinsinnig-humoriger Roman, der zu Herzen geht

Ans Meer
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Anton ist Fahrer eines Linienbusses. Tagaus tagein steigen Dorfbewohner und Schulkinder ein und aus. Anton legt Wert auf anständiges Grüßen seiner Fahrgäste, denn seiner Meinung nach ist sogar an der Himmelspforte ...

Anton ist Fahrer eines Linienbusses. Tagaus tagein steigen Dorfbewohner und Schulkinder ein und aus. Anton legt Wert auf anständiges Grüßen seiner Fahrgäste, denn seiner Meinung nach ist sogar an der Himmelspforte ein höfliches Grüß Gott angebracht. Essen ist sein größtes Hobby. Ohne Butterbrezen wäre das Leben in seiner Routine nicht erträglich, umso mehr, wenn man eine Mutter hat, die Mechthild heißt und sich auch so benimmt. Seit einiger Zeit jedoch ist Anton verliebt, und zwar in Doris, eine Nachbarin, obwohl gestern Nacht auf deren Balkon ein fremder Mann hustete. Und dann bereitet der Chef auch noch Antons baldige Entlassung vor. Am Tag darauf steigt die krebskranke Carla in den Bus und fordert vehement, dass sie ein letztes Mal das Meer sehen möchte, jetzt und gleich. Anton steht vor der Herausforderung seines Lebens: Soll er einmal im Leben abweichen vom Kurs, einmal die Monotonie des Alltags durchbrechen und Mut beweisen?
Eine bunte Mischung von Fahrgästen befindet sich im Bus. Neben der krebskranken Carla und ihrer kleinen Tochter, die ganz selbstverständlich mit der Krankheit und den Einschränkungen der Mutter umgeht, sitzt unfreiwillig die demente Frau Prenosil im Bus, die von Eva, der man ihre soziale Ader gar nicht zugetraut hätte, geschickt durch alle Tücken des Tages geführt wird. Aber auch Totti, das Kaninchen, und die Geschwister Helene und Ferdinand werden ungewollt Teil einer Reisegruppe, die um Anton geschart etwas erlebt, was mit Mut zu tun hat, mit dem Wagnis, ungewöhnliche Entscheidungen zu treffen, und mit dem Lernen, Verständnis füreinander in all unserer Unterschiedlichkeit aufzubringen.

René Freund hat uns mit einem überaus liebenswerten Kurzroman beglückt, der einem Märchen gleich alles mit sich bringt, was uns zum Nachdenken über das Leben, über das was wichtig ist im Leben, herausfordert. Der Autor versteht es, eine perfekte Mischung aus Märchen, Roadmovie, Unterhaltungsroman und Humoreske zu mixen und dies alles mit einem verhaltenen Schuss Tiefgang zu würzen. Dazu in einer so feinsinnigen Sprache, die in schlichten Sätzen scheinbar harmlos vor sich hin plaudert und durch das Prisma unterschiedlichsten Humors von gemein bis schlitzohrig, von entlarvend bis emotional, immer aber treffsicher, oft eine tiefe Traurigkeit verdeckend, mitten hinein in unser Herz zielt. „Manchmal muss man vielleicht ein bisschen von der Linie abweichen, um das Glück zu finden.“ Wie wahr!

Veröffentlicht am 28.08.2018

Weiterhin bleibe ich ohne Verständnis für ostdeutsches Befinden

Mit der Faust in die Welt schlagen
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Dass der Autor erst 23 Jahre alt ist, hat mich überaus erstaunt. Zum einen wegen des Schreibstils, der eine eindringliche Wirkung hat, teilweise geradezu poetisch zu nennen ist. Aber auch wegen einer ...


Dass der Autor erst 23 Jahre alt ist, hat mich überaus erstaunt. Zum einen wegen des Schreibstils, der eine eindringliche Wirkung hat, teilweise geradezu poetisch zu nennen ist. Aber auch wegen einer über allem liegenden Hoffnungslosigkeit im Buch, die man von einem jungen Menschen wie dem Autor nicht erwarten würde.

Wir befinden uns in Sachsen wenige Jahre nach der Wende. Tobias und Philipp sind Brüder, ihre Eltern starten mit einem Hausbau in ein neues Leben. Doch die DDR-Vergangenheit lässt sich nicht leugnen. Sie scheint über das Land einen permanenten Schatten der Perspektivlosigkeit geworfen zu haben, der die Menschen in eine uneingestandene Angst treibt, was nicht zuletzt am Thema Flüchtlinge in Wut umschlägt.

Ich konnte mit dem Buch wenig anfangen, auch wenn es gut zu lesen war. In seiner Tristesse war es mir als immer schon im Westen lebend keine Hilfe, auch nur einen Funken Verständnis zu entwickeln für die geschilderten Probleme der Menschen im Osten. Im Gegenteil. Das Buch machte mich zornig. Diese immanent passive Erwartungshaltung, „es“ möge besser werden, irgendwie, irgendwann, irgendwer soll es richten, das bessere Leben, das macht mich zornig. Das Leben selbst in die Hand zu nehmen statt nur Bier zu trinken und herumzuhängen, scheint wohl keine Option zu sein. Und die Schuld sucht man bei anderen, natürlich. Auch das macht mich zornig. Der Autor schildert eine Welt, die lethargisch und stoisch auf dem Elend des Alltags beharrt. Die chronische Grausicht, dieser nicht wegwischbare Grauschleier, der über allem liegt, und diese so unreif wirkende Schuldsuche bei anderen, zum Beispiel beim Thema Flüchtlinge, wurde mir vom Autor nicht wirklich nachvollziehbar erklärt. Ich weiß nicht, wofür dieses Buch gut sein soll. Höchstens vielleicht als Chronik des Scheiterns, wenn Menschen nicht gelernt haben, selbstverantwortlich zu handeln, sich Ziele zu setzen, Idealen nachzustreben. Verständnis für ostdeutsches Befinden hat mir das Buch jedenfalls nicht gebracht, eher noch mehr Kopfschütteln…

Veröffentlicht am 25.08.2018

Starkes, großartig erzähltes Südstaaten-Epos

Alligatoren
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Der überaus starke Buchbeginn nimmt sofort gefangen, und dieser Einstieg in seiner Intensität, auch in seiner Grausamkeit und Unabdingbarkeit zeigt, wohin die Geschichte zielt: auf die enorme Stärke von ...


Der überaus starke Buchbeginn nimmt sofort gefangen, und dieser Einstieg in seiner Intensität, auch in seiner Grausamkeit und Unabdingbarkeit zeigt, wohin die Geschichte zielt: auf die enorme Stärke von Frauen, wenn sie sich verbünden, egal woher sie kommen, egal welche Vorgeschichte sie mit sich herumschleppen, egal welche Sehnsüchte sie antreibt. Freiheit und Selbstbestimmung als Selbstverständlichkeit des Lebens sind die nicht ausgesprochenen Ziele.

Wir befinden uns in den Südstaaten in den Zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts und tauchen ein in das Leben von drei Frauen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Gertrude hat einen brutalen, gewalttätigen Ehemann und vier Töchter, die sie nicht ernähren kann. Oretta ist die schwarze Haushälterin von Annie Coles, hat eine scharfe Beobachtungsgabe und willigt ein, eines der kranken Mädchen von Gertrude zu pflegen. Als dritte Frau lernen wir Annie Coles kennen, Ehefrau des Tabakplantage-Besitzers. Sie führt eine Näherei für Getreidesäcke und will ihr Geschäft mit der Anfertigung von Herrenhemden und Damenbekleidung ausweiten, jedenfalls solange ihr Ehemann ihr dies erlaubt.

In wechselnden Kapiteln berichten diese drei Frauen jeweils als Ich-Erzählerin ihre Geschichte, was von der Autorin gekonnt durch unterschiedliche Schreibstile, passend zum Bildungsgrad, ausgedrückt wird. In ruhiger, unaufgeregter Erzählweise wird uns jede der drei Frauen nahe gebracht, und zwar auf eine subtil so eindringliche Weise, dass man als Leser Seite um Seite liest, von einer merkwürdigen, nicht erklärbaren Spannung getragen. Die Schwüle des Klimas in Sumpfnähe, die Beklemmung der Lebensumstände, Rassismus, häusliche Gewalt – viele große Lebens- und gesellschaftskritische Themen werden wohltuend zurückhaltend in die Geschichte eingewoben. Ein detailreich und lebendig ausgearbeitetes Südstaaten-Epos in drei „Variationen“, in drei Perspektiven, großartig erzählt, lange nachwirkend.

Veröffentlicht am 22.08.2018

Tod von Haustieren als Spukgeschichte geeignet?

Tiergeister AG – Achtung, gruselig! (Tiergeister AG 1)
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Rauhaardackel Arik tapert orientierungslos nachts durch den Wald, sein kleines Herzchen voller Sehnsucht nach seinen Menschen Jette und Tim. Wie war er nur in diesen Wald gekommen? Wie sollte er nach Hause ...

Rauhaardackel Arik tapert orientierungslos nachts durch den Wald, sein kleines Herzchen voller Sehnsucht nach seinen Menschen Jette und Tim. Wie war er nur in diesen Wald gekommen? Wie sollte er nach Hause finden? Und dann plumpst er auch noch in ein Erdloch. Mit seinen kurzen Beinchen hat er keine Chance, sich von dort zu befreien. Aber da naht Rettung: fünf ziemlich seltsame und irgendwie kaputte Tiere holen Arik aus der Erdhöhle und nehmen ihn mit zu ihrer Geisterschule Spuk Ekelburg, die am Tag die ganz normale Menschenschule Sankt Ethelburg ist. Nach und nach wird Arik klar, dass seine neuen Freunde alle tot sind und nachts in ihrer Schule das Geistern und Spuken lernen. Und ja, Arik ist auch tot. Er erinnert sich jetzt, dass er ohne Leine über die gefährliche Straße gelaufen war und ein Auto rasend schnell angekommen war… Seine neuen Tierfreunde und er schließen sich zu einer Tiergeister AG zusammen, um sich gemeinsam gegen ihre recht fiesen Spuklehrer zu stellen.

Das Buch lässt mich etwas ratlos zurück. Vielleicht beginne ich mit den Illustrationen, die meiner Meinung nach sehr gut gelungen sind. Sie sind kindgerecht, humorvoll im Ausdruck, und die Beschädigungen der Tiere (Loch im Körper, heraushängendes Auge usw.) sind relativ unauffällig eingezeichnet, nicht abstoßend oder erschreckend. Auch gut gefallen mir die Grundthemen wie Freundschaft oder Zusammenhalt, weil jeder das, was er kann, zur Gemeinschaft beiträgt. Gut auch, dass das Buch mit sehr viel Sprachwitz geschrieben ist, ideenreich, lebendig. Ratlos macht mich das Buch allerdings, was das Alter der Zielgruppe betrifft. Meines Erachtens enthält das Buch viel zu viele Namen, zu viele Personen, zu viele schwierige Begriffe, zu viele Handlungsstränge, als dass 8- bis 10-jährige Kinder wirklich gut damit zurechtkämen. Am Schlimmsten jedoch empfinde ich persönlich den traurigen Grundgedanken der Geschichte, dass nämlich alle Tiere tot sind, tot bleiben und kein einziger Satz für die traurigen Tierbesitzer, bei Arik z. B. Jette und Tim, übrig ist. Für mich bleibt sehr fragwürdig, ob man für Kinder dieses Alters den Tod von Haustieren auf diese Weise thematisieren oder besser gesagt benutzen kann für eine an sich gut erdachte Spukgeschichte.

Veröffentlicht am 19.08.2018

Zu leichtfertig und zu konstruiert

Zwischen uns ein ganzes Leben
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Was ist dieses Buch? Ein Stück erzählte Zeitgeschichte? Ein Liebesroman? Beides? Oder nichts davon? Ich bin mir sehr unsicher…

Die Autorin wurde nach ihren eigenen Angaben angeregt durch die Lebensgeschichte ...

Was ist dieses Buch? Ein Stück erzählte Zeitgeschichte? Ein Liebesroman? Beides? Oder nichts davon? Ich bin mir sehr unsicher…

Die Autorin wurde nach ihren eigenen Angaben angeregt durch die Lebensgeschichte einer entfernten Verwandten, die in Auschwitz ermordet wurde. So erzählt die jüdische Studentin Judith in der Ich-Form ihre Geschichte in Paris von 1940 bis 1943, als sie, in großer Liebe mit Christian verbunden, von ihm vor den Judenverfolgern versteckt wird. In einem zweiten Handlungsstrang lernen wir Béatrice kennen, im Jahr 2006 in Washington lebend, Karrierefrau, teuere Designer-Kleidung, in einer unbefriedigenden Beziehung lebend. Sie bekommt Kontakt zu Jacobina, die ihr Leben lang versäumt hat, ein einstens ihrem Vater gegebenes Versprechen einzulösen, nämlich ihre unbekannte Halbschwester zu finden. Béatrice will ihr bei der Suche helfen. So weit so gut.

Der Schreibstil des Buches ist sehr ansprechend, leicht lesbar und enthält zahlreiche sehr intensiv nachwirkende Szenen. Die Protagonistin Judith rückt dem Leser nahe, eben aufgrund der der in Ich-Form geschilderten Erzählweise. Und natürlich ist das Schicksal einer jungen jüdischen Studentin zur Zeit der Judenverfolgung bewegend. Dennoch gäbe es hier bereits den einen oder anderen Kritikpunkt anzubringen, doch dazu später mehr.
Die anderen Akteure des Buches werden aus der Über-Sicht der Autorin geschildert und rücken damit automatisch im Vergleich zu Judith in eine gewisse Distanz zum Leser. Ich halte dieses gewählte Stilmittel zweier unterschiedlicher Erzählperspektiven nicht für sehr glücklich bzw. mir erschließt sich nicht deren Sinn. Von der angelegten Handlung her wären alle Personen in gleicher Weise in den Focus zu rücken gewesen, nicht die eine näher, die anderen ferner.
Meine eigentliche und für mich wesentlichste Kritik ist jedoch, dass keine der Personen wirklich psychologisch fundiert dargestellt wird. Judith ist eine Studentin, es ist also von einer intelligenten, interessierten Person auszugehen. Im Buch jedoch wirkt sie naiv, politisch desinteressiert, oberflächlich und – ach – von den Ereignissen der Zeit völlig überrascht. Sie raucht ohne irgend eine Hemmung in ihrem Versteck, ohne darüber nachzudenken, dass sie damit nicht nur sich, sondern auch ihre Helfer in Gefahr bringt. Sie quält Christian kindlich-unreif und undankbar mit eifersüchtigen Gedanken. Mir fehlt die Ernsthaftigkeit, die immanente Angst jüdischen Lebens und das politische Bewusstsein intelligenter Menschen zu dieser Zeit. Und warum wundert es mich jetzt nicht, dass die Geschichte Judiths weitergeht, wie man es aus den Tagebüchern der Anne Frank kennt? Hätte der Autorin nicht etwas mehr einfallen können als dieser Anne-Frank-Abklatsch?
Béatrice ist ein oberflächliches ich-bezogenes Luxusweibchen, hat einen verantwortungsvollen Job, der eigentlich auch Intelligenz voraussetzen würde, erhält bestes Gehalt, lässt sich dennoch quälen sowohl von ihrem Chef und ihrem Freund, benimmt sich wie ein willenloses Opfer und lässt sich mal eben „im Vorübergehen“ auf der Straße durch einen hingeworfenen Satz dazu bringen, am nächsten Tag bereits ehrenamtlich bei einer alten schmuddeligen Frau in einer schmuddeligen Wohnung ekligen Abwasch zu übernehmen? Und natürlich folgt dann zur Krönung eine Liebesgeschichte, die ebenso unrealistisch erdacht ist wie alles vorherig Erzählte.

Ich finde es extrem schade, dass eine eigentlich interessante Geschichte, geschrieben von einer Autorin, die, wie man an einzelnen Szenen erlebt, durchaus lebendig-eindringlich erzählen kann, an allzu viel Konstruiertem und Künstlich-Klischeehaftem kaputt geht und wie die Entsetzlichkeit eines finsteren Kapitels der Zeitgeschichte auf billige Weise für einen Roman benutzt wird, dem es leider, leider an der angemessenen Tiefe fehlt.