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Veröffentlicht am 23.11.2021

Stürmische Zeiten

Revolution der Träume
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Ach, war das noch entspannt, am Anfang von Schatten der Welt. Das Kennenlernen der drei Freunde, ihr Alltag in den frühen 1910er-Jahren, bevor der Sturm des Weltkriegs über Carl, Artur und Isi hereinbrach ...

Ach, war das noch entspannt, am Anfang von Schatten der Welt. Das Kennenlernen der drei Freunde, ihr Alltag in den frühen 1910er-Jahren, bevor der Sturm des Weltkriegs über Carl, Artur und Isi hereinbrach und sie auseinander riss. So beschaulich legt Andreas Izquierdo im Nachfolger „Revolution der Träume“ nicht los – im Gegenteil.

Der Krieg ist gerade vorbei, die Revolution in vollem Gange. Monarchisten gegen Spartakisten, Soldaten gegen Matrosen, Menschen gegen Menschen. Viele lassen ihr Leben, wo sie es doch gerade feiern wollten. In dieser im wahrsten Sinne explosiven Mischung trifft Carl seine Freundin Isi wieder und schließlich auch Artur, gekennzeichnet vom Aufeinandertreffen mit Falk Boysen und einer Granate in Riga. Doch sie leben und sie haben sich wieder, endlich, und diesmal für immer – oder?

Izquierdo lässt im zweiten Teil der sogenannten Wege-der-Zeit-Reihe das Berlin zwischen 1918 und 1922 aufleben. Neben den politischen Querelen auch dass des Amüsements, des Lasters und des großen Kinos. Artur gründet mit ergaunerten Kaisers-Juwelen eine angesagte Halbwelt-Bar, Carl wird Kameramann unter Ernst Lubitsch bei der UFA, Isi lässt sich von einem Adligen umwerben, der für sie sogar mit seiner Familie bricht.

Aber ist eine heile Welt in dieser Zeit möglich? Natürlich nicht. Die Polizei hat Artur genauso auf dem Kieker wie die Konkurrenz aus der Berliner Unterwelt, Carls große Liebe stirbt, während er ihren Sohn als Pflegekind aufnimmt und Isis zukünftige Schwiegereltern tun alles, um sie zu zerstören.

„Revolution der Träume“ besticht nicht mit der gleichen, überraschenden Stärke wie sein Vorgänger, tritt nach einem sehr stürmischen Beginn zwischenzeitlich etwas zu stark auf die (Harmonie-)Bremse, um die drei Freunde und die Leser:innen dann doch wieder in ihren Grundfesten zu erschüttern, aber ist eine wunderbare Fortsetzung der Geschichte um Carl, Isi und Artur. Eine großartige Reihe geht weiter – und das vermutlich und hoffentlich auch über ihren zweiten Teil hinaus.

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Veröffentlicht am 20.03.2024

Zu viel Venedig, zu wenig Daniel Schreiber

Die Zeit der Verluste
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Ach Mensch. Eigentlich ist mir Daniel Schreiber ja recht sympathisch, ohne genau zu wissen warum. Ich mag auch seine Schreibe, wobei Schreibe eigentlich ein merkwürdiges Wort ist, gar nicht so positiv ...

Ach Mensch. Eigentlich ist mir Daniel Schreiber ja recht sympathisch, ohne genau zu wissen warum. Ich mag auch seine Schreibe, wobei Schreibe eigentlich ein merkwürdiges Wort ist, gar nicht so positiv besetzt in meinem Hinterkopf, aber das ist wieder eine ganz andere Geschichte.

Und ich mag auch, wie er sich dem Kontext des Buchs nähert, der Trauer. Vor allem, da ich "Die Zeit der Verluste" selbst in einer Annährung an eine Trauerzeit gelesen habe. In vielen Teilen hat mich Daniel da auch erreicht, ich habe beim Lesen genickt und ich habe mit seiner Trauer mitgefühlt. Aber ... ja, es muss ja nun ein Aber kommen.

Aber ich habe mich über weite Strecken gelangweilt. Und das liegt nicht an der Trauer und das liegt auch nicht an Daniel Schreiber, sondern an Venedig. Vielleicht muss man da gewesen sein, um das Buch mehr zu fühlen. Vielleicht muss man ein bessere Gefühl für die Stadt haben, als ein ewiges "Du warst nie da? Du hast was verpasst!"-Dröhnen gleich hinter dem Mittelohr zu spüren. Vielleicht muss man auch die ewige Metapher zwischen dem Tod und dieser verwesenden Stadt mehr fühlen, aber ganz ehrlich - ich fand schon "Tod in Venedig" furchtbar zäh.

Und Venedig ist mir in diesem Buch eindeutig zu präsent, Schreibers Zeit in der Schreibstube, die Wanderungen durch die mir unbekannten Straßen, ... ich hab die später nur noch überflogen, geguckt, ob hier irgendwas ist, das ich mitnehmen möchte, aber da war wenig.

Daher eher so ein 2,5er-Buch, aufgerundet auf eine 3. Wer trauert und Venedig liebt, landet hier einen Volltreffer, wer nur trauert, naja, vielleicht gefällt's ihm oder ihr ja trotzdem besser als mir.

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Veröffentlicht am 19.03.2024

Die Geschichte seines Lebens

Das Geschenk eines Regentages
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1999 war da der Kurzfilm. She and her Cat - 彼女と彼女の猫. Eine Frau findet an einem Regentag eine Katze und nimmt sie mit nach Hause und die Geschichte nimmt ihren Lauf - auch für Makoto Shinkai. Aus dem Kurzfilm ...

1999 war da der Kurzfilm. She and her Cat - 彼女と彼女の猫. Eine Frau findet an einem Regentag eine Katze und nimmt sie mit nach Hause und die Geschichte nimmt ihren Lauf - auch für Makoto Shinkai. Aus dem Kurzfilm wird ein Anime, ein Manga und dieses Buch.

Ein Buch über Frauen und ihre Katzen. Oder umgekehrt. Ein Buch über tierisch menschliche Schwierigkeiten und das tiefe Verständnis, das eine Beziehung zwischen den Katzen, einem Hund und ihren Frauen erzeugen kann.

Von der alleinlebenden Miyu, die nicht nur ihren Freund, sondern auch ihre beste Freundin verliert. Von der Kunststudentin Reina, die an ihrem Talent zweifelt und sich von einem zweifelhaften Mann vereinnahmen lässt. Von der Mangazeichnerin Aoi, die um ihre beste Freundin Mari trauert und sich die Schuld an ihrem frühen Tod gibt. Und von der älteren Shino, die erst ihren Schwiegervater und dann ihre Schwiegermutter gepflegt hat, als ihr Mann sie längst für eine andere Frau verlassen hat.

Vom kleinen Chobi, der ein neues Zuhause findet. Von der kleinen, schwerhörigen Mimi, die erst Chobi umgarnt und sich dann verletzt und versetzt mit einem anderen Kater einlässt. Von ihrer Tochter Cookie, die ihrer neuen Freundin ein lange veloren geglaubtes Schmuckstück wiederbringt. Von Kuro, der seinem Freund John verspricht, nach dessen Tod eine wichtige Aufgabe zu übernehmen.

Vier Geschichten, die alle über vier mal vier Pfoten miteinander verwoben sind und ganz am Ende zu einem bunten Wollknäuel zusammenlaufen.

Funktioniert das? Ja, wenn man sich auf die Hintergründe der Erzählung einlässt, die Wurzeln in der Anime- und Manga-Welt. Die Erzählweise ist manchmal etwas zu simpel, der Blick der Katzen auf ihre Menschen zu kindisch - ein Fakt, der aber auch an der Übersetzung der Geschichte liegen kann. Die feinen japanischen Zwischentöne zu treffen ist eine Kunst und ob dies Heike Patzschke gelungen ist, ist, ohne den originalen Text zu kennen, schwer zu beantworten.

So bleibt „Das Geschenk eines Regentages“ in erster Linie ein Buch für Freund:innen japanischer Kultur, Manga- und Anime-Fans und Besitzer:innen von Katzen. Wer sich nicht dazu zählt: Es lohnt sich, einen Blick auf die erste Geschichte zu werfen - denn für Makoto Shinkai ist es die Geschichte seines Lebens.

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Veröffentlicht am 05.03.2024

Zwiespältiges Debüt

ruh
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Eigentlich spannend: Cemal möchte sich nicht öffnen, zumindest nicht Georg gegenüber, ihm nicht mehr von sich, seiner Familie erzählen. Von den Geschichten, die ihm durch den Kopf schießen, von seinen ...

Eigentlich spannend: Cemal möchte sich nicht öffnen, zumindest nicht Georg gegenüber, ihm nicht mehr von sich, seiner Familie erzählen. Von den Geschichten, die ihm durch den Kopf schießen, von seinen Eltern und Großeltern und Urgroßeltern in der Türkei. Geschichten, die wichtig und spannend sind für seine Herkunft und sein Wesen. Und gleichzeitig: Die, die den Verlauf von „ruh“ eher zäh machen. Die, für mich persönlich, viel weniger interessant sind als Cemals Persönlichkeit, sein Leben zwischen Ex-Frau Gül, Tochter Ekin und neuer Liebe Georg. Stellt sich die Frage: Liegt es am Buch oder an mir?

Cemals Leben ist nicht einfach, von Anfang an. Aufgewachsen im arabischsprachigen Teil der Türkei, ohne Vater und Schwester, die in Deutschland geblieben sind. Erst mit acht Jahren kommt er nach, in ein neues Leben, ohne die Großeltern. Irgendwann zieht es ihm vom Land in die große Stadt, er heiratet Gül, wird Vater von Ekin, doch ein zweites Kind wird erst einmal aufgeschoben und dann bleibt es bei der einen Tochter und die Ehe ist auch zu Ende. Als Lehrer wird er rassistisch beleidigt und vom Direktor nicht in Schutz genommen. Und dann droht auch noch seiner sechsjährigen Tochter eine schlechte Note, da diese sich gegen ein fremdenfeindliches Lied im Musikunterricht zur Wehr gesetzt hat.

Die Figuren in Şehnaz Dosts Debütroman schwanken zwischen Aufbegehren und Resignation, wenn es um Alltagsrassismus geht. Und dieser Zwiespalt vom Leben mit Migrationshintergrund in Deutschland ist stark geschrieben. Viel mehr, viel intensiver hätte ich mir diesen so wichtigen Teil von „ruh“ gewünscht. Und auch Cemals Unsicherheit in Bezug auf seine Beziehung mit Georg, ihre gemeinsame Freundschaft mit Anne ist spannend, ja, vielleicht ein Roman für sich, in „ruh“ aber leider eher nur ein Nebenfluss, der irgendwann zu versanden droht.

Dass die Geschichte rund um Cemals Familie nicht so richtig ankommt, ist sicher auch einem Stück mir geschuldet. Ich verliere gerne mal den Faden bei Erzählungen über Generationen hinweg. Das „Wer war noch mal wer“ wird zwar durch den Stammbaum am Ende des Buches abgefedert, aber irgendwie hat mich dieser Teil von Dosts Roman nicht gefesselt. Eine weitere Hürde: Mir fehlt der sprachliche Hintergrund, die vielen türkischen und arabischen Begriffe zu verstehen, die im Buch Teil der Erzählung sind. Sie sind extrem gut eingebunden, man liest alles flüssig, aber stolpert doch, muss googeln, und das macht es doch etwas anstrengender. Hätte es ein Glossar gebraucht, wie häufig bei japanischen oder koreanischen Büchern? Oder doch mehr Verständnis für Begrifflichkeiten, die Teil der deutschen Sprache werden könnten?

Wenn ich beide Teile von Şehnaz Dosts „ruh“ bewerte, dann bekommt Cemals Gegenwart 4 von 5 Sternen, seine Familiengeschichte aber nur 2. Macht 3 von 5. Aber wer Generationengeschichten mag, der wird auch hier mehr Freude haben. Und mit Blick auf das Leben von türkischstämmigen Deutschen und den unerträglichen Rassismus, der ihnen im Alltag entgegenschlägt, ist „ruh“ auch allen anderen eine Empfehlung wert. Und die Hoffnung groß, dass Dosts nächster Roman die Stärken des Debüts bündelt und noch besser wird.

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Veröffentlicht am 02.06.2023

Feuer auf Sparflamme

Idol in Flammen
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Akari ist Fan eines Pop-Idols. Nicht ungewöhnlich für Teenager. Als ihr Idol Masaki beschuldigt wird, einen anderen Fan geschlagen zu haben, scheint ihre heile Welt zu zerbrechen. Aber: Richtig dramatisch ...

Akari ist Fan eines Pop-Idols. Nicht ungewöhnlich für Teenager. Als ihr Idol Masaki beschuldigt wird, einen anderen Fan geschlagen zu haben, scheint ihre heile Welt zu zerbrechen. Aber: Richtig dramatisch wird Rin Usamis „Idol in Flammen“ nie. Gut für Akari, etwas schade vielleicht für die Leser:innen.


Eigentlich geht es gut los. Ein Skandal, der Schlag, macht die Runde. Und dieser erschüttert Akaris kleine Welt. Sofort tauscht sie Nachrichten mit ihrer Freundin Narumi aus, am nächsten Tag im Schulbus ist es auch sofort das erste Thema:

„Echt stark, dass du noch [zur Schule] gehst.“

„Erst habe ich >echt stark, dass du noch lebst< verstanden.“
„Das natürlich auch.“

Der Fan-Wahnsinn, der hier angerissen wird, ist jedoch nicht Teil des Romans. Akari vernachlässigt die Schule, ihren Nebenjob, den sie eh nur hat, um sich Merch von Masaki und seiner Band zu kaufen, und ihre Familie. Aber sie denkt nicht an Suizid, ihre Welt fällt nicht in Scherben und auch ihr Idol steht nicht in Flammen, maximal in einem Feuer auf Sparflamme, trotz Shitstorm in sozialen Medien.

Trotzdem ist „Idol in Flammen“ keine Enttäuschung, sondern ein phasenweise durchaus spannender Einblick in die japanische Pop-Industrie, die Fans jeden Yen aus dem Sparschwein ziehen möchte – und das bei Akari auch schafft. Die Stars von Masakis Band haben alle ihre persönliche Farbe, mit Lichtstäben kann auf Konzerten gezeigt werden, wer die Favoriten der Fans sind. Auch Akaris Zimmer strahlt in Masakis Blautönen. Regelmäßig wird das beliebteste Band-Mitglied gewählt, abstimmen darf nur, wer die neueste Platte kauft – Akari bestellt sie gleich dutzendfach, damit Masaki nach dem Skandal nicht Letzter wird. Immerhin: Geld für persönliche Treffen und Selfies für gemeinsame Selfies mit ihrem Idol gibt sie nicht aus, auch an einer Beziehung ist sie (scheinbar) nicht interessiert.

Und dann ist Usamis Debütroman auch noch etwas anderes: eine Art Aufstehhilfe. Ein kleines, kurzes, schnell gelesenes Buch, das zeigt, wie ein Drama das eigene Leben erschüttern kann, wie schwer es fällt, wieder auf die Füße zu kommen, dass es aber gelingen kann. Und das sollte zumindest jugendlichen Leser:innen Mut machen, wenn ihr Idol oder ihre eigene Welt in Flammen steht.

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