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Veröffentlicht am 27.08.2018

Der Himmel ist die Grenze

Der Clan der Kinder
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„Wenn du kommandieren willst, ein Capo sein willst, musst du Angst haben, an jedem einzelnen Tag deines Lebens, in jedem Moment. Um sie zu besiegen, um zu erfahren, ob du es kannst. Ob die Angst dich leben ...

„Wenn du kommandieren willst, ein Capo sein willst, musst du Angst haben, an jedem einzelnen Tag deines Lebens, in jedem Moment. Um sie zu besiegen, um zu erfahren, ob du es kannst. Ob die Angst dich leben lässt oder alles vergiftet.“


Inhalt


Nicolas Fiorillo hat große Pläne für sich und seine Freunde. Zwar sind sie alle pubertierende Teenager, die ihre Freizeit mit Ego-Shooter-Spielen und der Entdeckung ihrer ersten Freundin verbringen, doch eines ist klar: sie werden auf den Straßen von Neapel groß, sie wachsen hinein in ein System von Mafiabossen, Lug und Betrug und wenn man es geschickt anstellt, dem großen Geld. Die Karriere der 10 Jungs startet mit Kleinkriminalität, ein paar Überfälle, einige Schlägereien, nichts was sie wirklich weiterbringt. Als ihr Mittelsmann seine Strafe im Gefängnis verbüßt, beschließt Nicolas eine eigene Paranza ins Leben zu rufen, einen Club der Elitären, der schon bald das Sagen im Ganzen Viertel haben soll. Mittels Blutsbrüderschaft wird der Bund besiegelt und fortan ist Verrat tödlicher als jemals zuvor. Die Kinder-Paranza, wie man sie schon bald nennt, besorgt sich Waffen und trainiert das Schießen, nicht nur an Hauswänden und Antennen, sondern bald auch mit lebenden Zielen. Mit Gewalt wollen sie Angst verbreiten, ihre Macht ausbauen und sich einen Ruf erarbeiten. Die bisherigen Mafiabosse nehmen die Jugendlichen lange Zeit nicht ernst, bis Nicolas und seine Jungs beschließen, die antiquierten Machthaber zu entthronen. Denn die Umschlagsplätze sind nur für den Stärksten da und die einzige Grenze, die akzeptiert wird ist der Himmel …


Meinung


Der italienische Autor Roberto Saviano, selbst in Neapel aufgewachsen, beschreibt hier die alles unterwandernde Wirtschaftskriminalität, die dunkeln Machenschaften der großen Bosse und ihre Skrupellosigkeit gegenüber dem Leben. Er selbst und sein Vater bekamen von der Camorra schon offene Morddrohungen und so lebt er verdeckt und recherchiert im Untergrund. Seine Anklage erfolgt in literarischer Form – auch das Leben auf der Überholspur fordert seinen Tribut.


Neugierig geworden auf das Thema des organisierten Verbrechens in Italien bin ich durch die Romane von Elena Ferrante, denn schon dort bekommt man, allerdings nur in Ansätzen das Szenario zu spüren. Bestechung, Verwandtschaft, Gefallen, die man anderen schuldet und eine seltsame Moral aus Brüderlichkeit und Verachtung. Von diesem Buch hier habe ich mir tiefere Einblicke und mehr Aufklärung gewünscht und sie auch bekommen, doch anders als erwartet, hat mich die Gewaltbereitschaft, die Sinnlosigkeit der Verbrechen, diese Scheinheiligkeit gegenüber Geld und Macht ziemlich abgestoßen und schon bald hätte ich mir gewünscht nicht noch mehr, nicht noch Schlimmeres zu erfahren.


Der Roman an sich wirkt ausgesprochen maskulin, was einerseits natürlich an der Dominanz der männlichen Protagonisten liegt, dann aber auch am Erzählstil an sich. Dieses aggressive, alles vernichtende, auf nichts rücksichtsnehmende Verhalten der Agitatoren, war mir ein Dorn im Auge. Da ist zum einen die vulgäre Sprache, die auf ein geringes Bildungsniveau schließen lässt, zum anderen der gehetzte Ton, die Befehlssprache eines Möchtegern-Gottes, die mich nicht erreichen konnte und nicht zuletzt eine doch sperrige Erzählstruktur, die sich intensiv mit dem Wie beschäftigt und leider weniger mit dem Warum. Frauen werden hier maximal als schmückendes Beiwerk betrachtet oder als die unantastbare Mutterfigur, die es zu verteidigen gilt – was für eine klischeebehaftete Klassifizierung. Selbst wenn der Wahrheitsgehalt des Buches ein hoher ist (was ich leider nicht ausreichend abschätzen kann), fehlt mir bei der Erzählung vor allem der Motivationsfaktor. Mein persönliches Resümee würde jetzt lauten: Für Geld, Macht und Status verkaufe ich mein Leben und mich selbst. Definitiv keine plausible Aussage für mich, irgendetwas fehlt mir da, vielleicht nur ein Denkansatz, aber den bietet der Roman nicht, er ist eine Art Abrechnung mit dem System vor Ort.


Positiv hingegen beurteile ich die persönliche Entwicklung von Nicolas, denn egal wie unsympathisch sein Verhalten auch ist, er durchläuft eine ganz klassische Entwicklung eines Menschen, der sich zielorientiert, fast besessen und absolut konsequent verhält. Selbst nach Rückschlägen lässt er sich nicht entmutigen, er hält seine Jungs zusammen und vereint sie gegen die Kräfte von außen. Er stellt ihre Treue unter Beweis und verbeißt jene, die sich ihm nicht anschließen wollen. Er ist der Chef und gibt den Ton an, er kommandiert und gibt niemals klein bei und er holt sich Tipps von den „Großen“, die er eines Tages vernichten wird, sobald sie ihm im Wege stehen.


Fazit


Ich vergebe 3 Lesesterne für diesen temporeichen, beängstigenden Roman, der inspiriert ist von Begriffen wie Status, Macht, Gewissen und Folgsamkeit. Er bildet das Leben jugendlicher Straftäter in einem vollkommen isolierten Rechtsspektrum ab und offenbart fragwürdige Methoden der Wahrheitsfindung. Die Welt konzentriert auf wenige Plätze, die Verhältnisse zu Gunsten der Stärkeren, die Ohnmacht des öffentlichen Rechtsstaates, die Willkür der vollzogenen Handlungen. All das bleibt mir doch weitestgehend fremd und fesselt mich nicht wirklich. Eigentlich kann ich nur den Kopf schütteln, bezüglich jener Lebensweise. Was man diesem Roman aber zu Gute halten muss, ist eine offene, schockierende Wirkung, die zeigt, wie es sein kann, wenn das Menschsein gegen die Machtbesessenheit verliert. Und das gab es historisch schon viele Male und das gibt es auch heute noch.

Veröffentlicht am 01.08.2018

Mein Vater, der Überlebenskünstler

Fliegenpilze aus Kork
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„Ich schweige meine größte Wut ins Telefon. Irgendwann unterbreche ich ihn: „Papa. Stopp. Ich will das nicht hören. Ich lege jetzt auf!“ Mein Herz klopft. Ich möchte weinen.“


Inhalt


Die Ich-Erzählerin, ...

„Ich schweige meine größte Wut ins Telefon. Irgendwann unterbreche ich ihn: „Papa. Stopp. Ich will das nicht hören. Ich lege jetzt auf!“ Mein Herz klopft. Ich möchte weinen.“


Inhalt


Die Ich-Erzählerin, die ohne Namen bleibt, lässt den Leser an ihrer Kindheit teilhaben, insbesondere an ihren Eindrücken im väterlichen Elternhaus, denn ihre Eltern haben sich schon getrennt, als sie noch ein Baby war. Der Vater, die eigentliche Hauptfigur der Erzählung ist schon sehr speziell. Für seine Tochter nimmt er sich Zeit, doch nur um sie mit hinein in sein unstetes Leben zu nehmen. Eines, in dem er nur hin und wieder arbeitet und Geld verdient, dort wo Freunde bei ihm nächtigen, die eigentlich Kiffer sind, begleitet von Ladendiebstählen, Schwarzarbeit und Essen aus der Mülltonne. Für die Tochter ist klar, ihr Papa kann eine ganze Menge und dafür liebt sie ihn auch, eben weil er so anders ist und sie in ihrer kindlichen Naivität unterstützt. Doch je älter sie wird, desto zwiegespaltener gestaltet sich die Beziehung, weil ersichtlich wird, das eigentlich der Vater ein Kind ist und die heranwachsende Tochter in die Rolle der vernünftigen Erwachsenen gedrängt wird …


Meinung


In ihrem Debütroman thematisiert die junge österreichische Autorin Marie Luise Lehner eine Kindheit fernab von der Normalität, geprägt von einem zweigeteilten Elternhaus, in dem der Vater, trotz seiner alternativen Lebensweise einen großen Stellenwert einnimmt. Dabei geht sie sehr geschickt auf die Desillusionierung einer Kinderseele ein, die mit zunehmendem Alter die Schichten der väterlichen Unzulänglichkeiten aufdeckt und dennoch ganz intuitiv erkennt, dass diese naive Zuwendung, dass einzige ist, was ihr Vater zu geben vermag. Nebenbei verdichten sich beim Leser immer wieder die mannigfaltigen Eindrücke bezüglich elterlicher Verantwortung und dem Umgang mit dem kindlichen Vertrauen.


Dennoch stimmt mich die Geschichte eher traurig, nicht nur weil sie so befremdlich ist, sondern weil man als Leser förmlich zusehen kann, wie die Entwicklung der Kinder Risse trägt, eben darum weil sich zeigt, dass hochfliegende, unrealistische Träume und obskure Ansichten spätestens in der Pubertät eine derart klaffende Lücke zwischen Vater und Tochter entstehen lassen, die sich nicht mehr schließen lässt, selbst wenn die Beteiligten immer noch aneinander hängen.


Erwähnenswert ist auch noch der abgehackte, fragmentarische Erzählstil, der eher Momentaufnahmen abbildet, als eine zusammenhängende Geschichte zu erzählen. Er macht dieses Buch speziell und bleibt auch in Erinnerung, obgleich das nicht meine literarische Wohlfühlzone ist. Zu vieles bleibt im Raum hängen, steht ungeschrieben zwischen den Zeilen und alternativ im Lebensplan der Protagonistin. Letztlich ruft der Text bei mir eine Mischung auf Unverständnis, Mitleid und Bewunderung hervor, die ich zum Glück in der realen Welt nicht mal ansatzweise nachvollziehen kann. Vielleicht wirkt das radikale, bestimmende Vaterbild intensiver, wenn man es selbst erlebt hat, möglicherweise kommt man dann auch der Erzählerin nahe – so jedoch finde ich keine Berührungspunkte und schaue mir alles durch das Auge eines unbeteiligten Dritten an. Diesen Umstand empfinde ich nicht optimal für einen emotionalen Roman, den man hier lesen darf.


Fazit


Ich vergebe mittelmäßige 3 Lesesterne für diesen Roman über eine ungewöhnlich starke Vater-Tochter-Beziehung, die so manchen Sturm erlebt hat. Wer als Leser gerne in fremde Lebensgeschichten hineinschauen möchte, ohne das Anderssein tatsächlich ergründen zu können, wer es aushält, nur Zuschauer ohne Einspruchsrecht zu sein und sich dennoch vieles detailliert vorstellen möchte, ist mit dem Roman ganz gut beraten. Eine Einheit zwischen Erzählung, Inhalt und Wirkung bekommt man aber nicht geboten, irgendwie ist man hinterher genauso schlau wie davor, mit dem Unterschied, dass man die Bequemlichkeit, die mit Sicherheit einhergeht, wieder mehr zu schätzen weiß.

Veröffentlicht am 21.06.2018

Die Philosophie einer aberwitzigen Begegnung

Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt
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„Du stellst dir das alles ein bisschen zu einfach vor, sagte ich, ein literarischer Text braucht eine Form, eine Folgerichtigkeit, die unser Leben nicht hat, Glück macht keine guten Geschichten.“


Inhalt


Christoph ...

„Du stellst dir das alles ein bisschen zu einfach vor, sagte ich, ein literarischer Text braucht eine Form, eine Folgerichtigkeit, die unser Leben nicht hat, Glück macht keine guten Geschichten.“


Inhalt


Christoph begegnet Magdalena, einer Frau, die er vor zwanzig Jahren geliebt hat, nur das sie immer noch so jung ist wie damals und sich nun Lena nennt. Doch wie er feststellt hat sie einen Freund und der ist kein anderer als sein eigenes jüngeres Ich. Er spricht die junge Frau an und möchte ihr seine Geschichte, die bald auch die ihre sein wird erzählen. Lena hört ihm aufmerksam zu, macht sogar die beiden Männer miteinander bekannt und stellt doch immer wieder fest, dass es zwischen dem Leben ihres Geliebten Chris und jenes fremden Mannes Christoph zwar viele Parallelen gibt, aber auch unüberbrückbare Unterschiede. Christoph schwankt ständig zwischen Unglauben und Sicherheit, zwischen dem Wunsch in das Leben der beiden jungen Menschen einzugreifen, um sich oder vielmehr dem anderen Paar die Chance zu geben dauerhaft miteinander glücklich zu werden. Denn das ist sein größter Verlust an der eigenen Lebensgeschichte, die Trennung von jener Frau, die er einst liebte und eigentlich immer noch liebt. Doch lässt sich das Leben wirklich auf zweite Chancen dieser Art ein?


Meinung


Vergangenes Jahr habe ich mit „Weit über das Land“ mein erstes Buch des Autors gelesen und war davon derart fasziniert, dass ich nun auch voller Neugier in sein aktuelles Buch gestartet bin. Dieser Roman bietet eine sehr ungewöhnliche, experimentelle Sicht auf den Lauf des Lebens und lässt sich auf die Möglichkeit ein, einem Menschen die Chance zu geben, seine vergangenen Entscheidungen durch sein Wissen der Gegenwart zu beeinflussen. Allein dieser angedeutete Handlungsschwerpunkt im Klappentext regt die Fantasie an und lässt eine Unmenge hypothetischer Fragen zu. Durchaus ein Ansatzpunkt, den ich in literarischen Texten zu schätzen weiß.


Nur leider wird schon nach wenigen Seiten klar, dass es diesmal nicht gelingt, meine hohe Erwartungshaltung zu befriedigen, allein schon, weil der Text zu viele Unsicherheiten, zu viele Unvorstellbarkeiten in den Vordergrund rückt. Es hat mich zum Beispiel sehr verstört, dass sich Lena, so ohne weiteres auf dieses Gespräch mit dem Fremden einlässt, das auch der junge Chris, in den Fokus rückt, sich aber überhaupt nicht dafür erwärmt. Auch die Verflechtung der beiden Handlungsstränge Vergangenheit versus Gegenwart wechselt willkürlich und unübersichtlich, oft nur durch die andere Namensbezeichnung abgegrenzt, so dass ich stellenweise Passagen zweimal gelesen habe, weil sich gedanklich ein anderes Bild aufgebaut hatte.


Ganz anders habe ich hingegen den Schreibstil zu bewerten. Ich glaube, der macht vieles wieder gut, was der Inhalt dieses Buches nicht geraderücken kann. Ich mag generell den klaren, schnörkellosen Erzählstil, der aussagekräftige Sätze mit Lebensweisheiten koppelt und sich nicht nur auf die Ebene des Erlebens stellt, sondern gedankliche Schlussfolgerungen des Lesers provoziert. Für mich ist auch dieser zweite Text von Peter Stamm ein wahrer Lesegenuss, der mich auch dazu veranlasst, noch weitere Erzählungen aus seiner Feder kennenlernen zu wollen.


Am meisten vermisst habe ich die psychologische Komponente des Romans, denn dieses Gedankenexperiment lebt doch gerade dadurch, dass sich der Hauptprotagonist Fragen stellt und Antworten sucht. Leider unternimmt Christoph diesen Schritt nicht und sein Verhalten ist für mich unvorstellbar. Seltsam unbeteiligt und sehr frustriert begegnet er seiner obskuren Situation, erlebt eine bunte Gefühlspalette, distanziert sich aber vom Geschehen. Manchmal beobachtet er nur, dann ist er wieder sehr aktiv. Nur Antworten auf seine Fragen sucht er nicht, möchte sie vielleicht nicht finden und ergibt sich betroffen seinen Erinnerungen, die nun nicht mehr ganz ungetrübt sind.


Fazit


Ich vergebe mittelmäßige 3 Lesesterne für diesen Roman, der voller Ideen steckt und ein wahres Meisterwerk an Erzählkunst hätte werden können, doch er bleibt im Konjunktiv stecken. Zu wirr, zu aberwitzig, zu wenig überzeugend handelt der Hauptcharakter, auch die Nebencharaktere bleiben seltsam blass und es fehlt eine klare, konkrete Aussage am Ende des Buches. Tatsächlich kann man von „sanfter Gleichgültigkeit“ sprechen, der Titel ist hier Programm, viel wird nicht bleiben vom Inhalt und die Welt dreht sich trotzdem weiter. Mein Interesse an Romanen dieser Art bleibt jedoch entsprechend hoch, weil es die existentiellen Fragen sind, die ich mir nicht nur oft stelle, sondern auf die ich auch gern Antworten bekomme, insbesondere in der Gegenwartsliteratur.

Veröffentlicht am 07.06.2018

Der Hüter deines Bruders

Nachsommer
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„Ich habe sie in der Unterwelt zurückgelassen. Anstatt sie zu überreden, zu bitten, sie einzuschließen, zu entführen, zu rauben, habe ich mich hinter einer Rüstung aus Feigheit, Angst und Konventionen ...

„Ich habe sie in der Unterwelt zurückgelassen. Anstatt sie zu überreden, zu bitten, sie einzuschließen, zu entführen, zu rauben, habe ich mich hinter einer Rüstung aus Feigheit, Angst und Konventionen versteckt.“


Inhalt


Für die beiden ungleichen Brüder Olof und Carl wird das Treffen am Sterbebett der Mutter zu einer Zerreißprobe. Denn nicht nur ihre von Rivalitäten geprägte Kindheit steht zwischen ihnen, sondern auch all die Verfehlungen der letzten Jahre, die Schuldzuweisungen und das Unverständnis auf beiden Seiten. Nicht zuletzt eine Frau, die der eine geliebt, der andere geheiratet hat und die nun auch für einen kurzen, traurigen Besuch in die Heimat zurückkehrt. Die Mutter liegt im Sterben und die Söhne müssen ihren Frieden mit der alten Frau schließen, und gleichzeitig ihren eigenen Weg fortsetzen, der durch Zuwendung oder fehlende Liebe nicht mehr eben ist und das auch nicht mehr werden kann. Familienbande hin oder her – wer sind eigentlich die Leidtragenden einer unausgewogenen Lebensgeschichte?


Meinung


Der in Helsinki geborene Autor Johan Bargum setzt sich in diesem Roman mit einer belasteten Geschwisterbeziehung auseinander, in der jeder Bruder einen Part zugeteilt bekommt und diesen auch hinreichend ausfüllt. Trotzdem wird ersichtlich, dass nicht alles nur schwarz oder weiß ist und dass auch die Zeit nicht alle Wunden heilen kann. Seine Protagonisten werden auf den wenigen Seiten sehr plastisch und greifbar beschrieben, man sieht sie vor sich und kann mit ihnen Empathie empfinden. Der ältere Olof ist der Vernünftige, der sich nichts traut, Carl der Jüngere hingegen springt in die Presche und setzt sich durch. Dennoch ist Olof bei der Mutter geblieben und Carl hat bereits vor Jahren den Kontakt auf ein Minimum beschränkt.


Mit dieser fast lyrischen Erzählung, die ganz wunderbar die Stimmung und Melancholie eines Landes einfängt und noch viel mehr die aufziehenden Gewitterwolken über einer familiären Tragödie, bin ich trotz der Thematik, von der ich mir viel versprochen habe, nicht warm geworden. Prinzipiell liegt das wohl an einer anderen Erwartungshaltung, die ich an den Roman gestellt habe. Durchaus eine traurige, mitreißende Stimmung, den Schatten eines schweren Verlusts, die Traurigkeit am Sterbebett der Mutter, doch all das steht hier nicht wirklich im Mittelpunkt. Vielmehr sind es die Brüder und ihr Beziehungsgeflecht, die hier ein feinsinniges, fast psychologisches Spiel miteinander betreiben und sich dennoch kein Stück annähern.


War der Anfang noch vielversprechend, so flaut die Geschichte schnell ab, die handelnden Personen verfallen in routinierte Muster und kommen nicht mehr von der Stelle. Verletzungen bleiben bestehen, Gespräche werden nicht geführt, zumindest keine, die bewegen, alles bleibt irgendwo im Schweigen verloren, hängt bedeutungsschwanger im Raum und schwebt unschön über der Geschichte. Diese Stille, die hier von den Menschen ausgeht, dieses Unvermögen einander näherzukommen, hat mich sehr mit Unzufriedenheit erfüllt.


Der Schreibstil selbst ist minimalistisch, geprägt von kurzen, nicht immer beendeten Sätzen, weswegen sich ein Deutungsspielraum ergibt. Zwischen den Zeilen steht noch so viel mehr, so viel Ungesagtes, sofern man es hineininterpretieren möchte. Und mir war gerade dieses knappe, nur angedeutete Wort zu wenig, zumal ich verzweifelt nach irgendeiner konkreten Aussage gesucht habe. Einerseits ein getrübtes Geschwisterverhältnis, dann ein Bruder, der mit seinem Leben in der zweiten Reihe ganz und gar nicht zufrieden ist und einer, dem es trotz seiner Dominanz an Unbeschwertheit fehlt. Dazwischen noch eine Frau, die mir fremd blieb und ein Ziehvater, der dem Ganzen ein bisschen von dem Glanz verliehen hat, den ich mir wünschte. Und was ich ganz besonders vermisst habe, war die Rolle der sterbenden Mutter, ihre Persönlichkeit fehlte förmlich komplett, die Gespräche mit den Söhnen, die Aussöhnung mit der Vergangenheit, ihre Wünsche für eine Zukunft der beiden …Für mich bleibt die Ratlosigkeit im Raum stehen - was war die Idee dahinter?


Fazit


Die vielen begeisterten Rezensionen, haben mich zu diesem Buch greifen lassen, dem ich nun doch nur 3 Lesesterne gebe. Die menschliche Seite kam mir hier zu kurz, das Ungesagte machte mich unzufrieden und in die Gegenwart mitnehmen kann ich nicht viel. Sehr einprägsam hingegen die Stimmung in Anlehnung an die Natur, in Kooperation mit der Wirkung der ruhigen, einladenden Landschaften entfaltet sich die Geschichte - ihre Schönheit jedoch bleibt mir im Wesentlichen verborgen.

Veröffentlicht am 07.05.2018

Die Tragikomödie eines Lebens

Wie man die Zeit anhält
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„Der Schlüssel zum Glück ist nicht, man selbst zu sein, denn was heißt das überhaupt? Jeder Mensch hat so viele Ichs. Nein. Der Schlüssel zum Glück ist, die Lüge zu finden, die am besten zu einem passt.“


Inhalt


Tom ...

„Der Schlüssel zum Glück ist nicht, man selbst zu sein, denn was heißt das überhaupt? Jeder Mensch hat so viele Ichs. Nein. Der Schlüssel zum Glück ist, die Lüge zu finden, die am besten zu einem passt.“


Inhalt


Tom Hazard hat viele Namen, spielt zahlreiche Rollen und ist immer wieder auf der Flucht vor seinem ganz alltäglichen Leben, denn anders als die normalen Menschen ist er mittlerweile 439 Jahre auf der Erde und sieht jetzt gerade mal wie Anfang vierzig aus. Die Erfahrung hat ihn gelehrt, dass es verdammt schwer ist, sich dauerhaft irgendwo niederzulassen, denn die Menschen werden misstrauisch, wenn man einfach nicht älter wird. Doch er ist nicht allein - ein gewisser Hendrich Pietersen hat eine Gesellschaft gegründet, die sich „Die Albatrosse“ nennt. Mitglied wird derjenige, der von einem anderen eingeladen wird und sich auf die Suche nach weiteren „Zeitlosen“ macht, die irgendwo auf der Erde leben, solange bis sie entdeckt werden. Hendrich verspricht dem zermürbten Tom, der sich derzeit als Geschichtslehrer in London verdingt, seine Tochter Marion zu finden, die das Krankheitsbild ihrer Vaters geerbt hat und demnach in echter Gefahr schwebt – doch den Preis, den Tom zahlt ist kein geringer, aller acht Jahre muss er weiterziehen, einen neuen Auftrag annehmen und sich von sämtlichen Menschen, die ihm etwas bedeuten fernhalten. Als er die warmherzige Französischlehrerin Camille trifft, wird ihm bewusst, dass er zu alt ist, um wieder in eine neue Rolle zu schlüpfen …


Meinung


Der britische Bestsellerautor Matt Haig, der mich schon mit seinem Roman „Ich und die Menschen“ überzeugen konnte, hat abermals ein sehr ansprechendes Gedankenkonstrukt erschaffen, welches sich explizit mit der Bedeutsamkeit der verrinnenden Zeit beschäftigt, mit dem verlangsamten Lauf des Lebens und einer Krankheit, die fast an Unsterblichkeit erinnert. So oder zumindest ähnlich könnte es sein, wenn man selbst 700 Jahre leben würde und genau diese Frage wirft diese unterhaltsame Geschichte auf. Wäre es wirklich so erstrebenswert sich dem ewigen Leben anzunähern? Oder würde man das Menschsein nicht einfach in die Dauerschleife legen und keinerlei Wertsteigerung mehr erleben.


Die Geschichte selbst fliegt nur so durch die Jahrhunderte, denn in klar umrissenen Kapiteln erfährt der Leser etwas über die Hexenverfolgung, über das Theater des William Shakespeare und das harte Leben als Seefahrer auf dem Höhepunkt der Piraterie – Tom war nämlich immer dabei, als Zeitzeuge sozusagen. Wechselnd erzählt zwischen damals und heute, nähert man sich dem leicht desillusionierten, melancholischen Helden an, der schon öfter den Wunsch verspürte, seinem Leben ein unnatürliches Ende zu setzen. Doch mit Eintritt in die Gesellschaft der „Albatrosse“ bekommt sein Dasein erstmals eine neue Dimension und diese Aufgabe hält ihn zumindest bei der Stange.


Schade finde ich nur, dass der Plot sehr oberflächlich ausgearbeitet wurde, weniger die wichtigen Fragen stehen im Zentrum, sondern eher die Akzeptanz einer Unmöglichkeit. Der Text bleibt weitgehend locker, die Sprache sehr modern, was nicht immer zum historischen Hintergrund passt und mich eher an eine zeitgenössische Erzählung mit fantastischen Elementen erinnert. Mein Anspruch an die Geschichte war auch ein anderer, habe ich mir doch erhofft, zu erfahren, was wirklich wichtig ist, welche Möglichkeiten in der Vorstellung an sich liegen und wo genau sich die Schnittstellen zwischen der Endlichkeit und der Unsterblichkeit befinden – selbst wenn es nur ein imaginärer Ansatz hätte werden können – gefunden habe ich ihn hier leider nicht.


Fazit


Ich vergebe durchschnittliche 3 Lesesterne für einen sehr lockeren, unterhaltsamen Roman. Man findet hier eine inspirierende Geschichte mit hinreichend interessanter Handlung und gut dargestellten Figuren. Dieses Buch ist auch schon für jüngere Leser geeignet, weil es die Phantasie anregt, ohne vorgefertigte Denkweisen zu präsentieren. Für ein kurzes, abenteuerliches Lesevergnügen ist es bestens geeignet, nur die Bedeutsamkeit, die Intensität des Gelesenen hat mir gefehlt und lässt das Buch auch schnell wieder in Vergessenheit geraten. Für eine Verfilmung jedoch würde ich mich aussprechen, dieser Stoff ist geradezu ideal für die Kinoleinwand.