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Veröffentlicht am 01.02.2019

Na warte, Langeweile, ich werd’s dir zeigen

Ein Affe an der Angel
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"So konnte es nicht weitergehen! 'Na warte, Langeweile, ich werd’s dir zeigen', schimpfte Darko jetzt laut und stellte sich auf den Kopf. Im Kopfstand kamen ihm immer die besten Einfälle." (14)

Ein verregneter ...

"So konnte es nicht weitergehen! 'Na warte, Langeweile, ich werd’s dir zeigen', schimpfte Darko jetzt laut und stellte sich auf den Kopf. Im Kopfstand kamen ihm immer die besten Einfälle." (14)

Ein verregneter Tag, Warten im Stau oder Wartezimmer? Da kann einem schon mal so richtig langweilig werden, vor allem als Kind. Doch Darko weiß sich stets zu helfen: Sobald er sein Tierlexikon aufschlägt, erlebt er aufregende Fantasiereisen.

Darko ist nämlich "Tierforscher und Fachmann für Abenteuer". Stets dabei, wenn er im Einsatz gegen die Langeweile ist: Seine wandelbare Multifunktionswendeweste, gefüllt mit ultimativ wichtigen Dingen, deren skurrile Aufzählung teil der besonderen Erzählweise dieses Buches ist.

Seinem Tierlexikon entspringen aber nicht einfach nur ganz normale Tiere. Nein, es sind meist sehr spezielle Tierarten, über deren Lebensweise und Charakteristika Darko hin und wieder Informationen beisteuert. Zudem legen die Tiere stets lustige und besondere Marotten an den Tag. Da ist der müde Ameisenbär, der immer gleich nach Kaffee oder Cola fragt, der Brüllaffe, der sich für einen Löwen hält, der neugierige Brillenpelikan und der umweltbewusste und gerechtigkeitsliebende Elefant.

Story und Charaktere sind in diesem Buch sehr fantasievoll und nicht so überkorrekt, wie es heutzutage meist zu sein hat. Ich habe dieses Buch meinem dreijährigen Sohn vorgelesen, der die Gedankenreise viel schneller und unverkopfter mitgemacht hat als ich. Während ich noch erklärte, war er schon längst auf der spannenden Expedition durch langweilige Alltagssituationen. Besonders faszinierend für den jungen Zuhörer sind in diesem Buch die Wortneuschöpfungen, die besonderen Tiere und natürlich die Zeichnungen.

Die Illustrationen gefallen mir übrigens sehr gut. Sie sind sehr unkitschig, abenteuerlich und interessant. Die Figuren haben unterschiedliche Gesichtsausdrücke, was bei Bilderbüchern für kleinere Kinder oftmals vernachlässigt wird. Hier guckt auch mal jemand grummelig, entschlossen, gelangweilt…

An dieser Stelle möchte ich allerdings einen Fehler bemängeln, der kleinen Bücherwürmern sofort ins Auge fällt: Die im Text als gelb beschriebenen Gummistiefel sind orangerot gezeichnet. Was mir außerdem nicht gefällt sind die Titel. Die finde ich irgendwie ziemlich blöd: "Fang!", "Marsch!", "Klopf!".

Das sind allerdings nur Kleinigkeiten. Insgesamt mögen wir dieses Buch sehr. Es mag für eine ältere Zielgruppe gedacht sein (erstes Selbstlesealter), aber wir erleben damit eine sehr abenteuerliche und intensive Vorlesezeit.

Es regt zum Spiel mit der Sprache und zu Gedankenreisen an und macht Lust, selbst ein kleiner, Lexikon wälzender Forscher zu werden.

Veröffentlicht am 09.07.2018

Das Buch der Unruhe

Die Unruhigen
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"So ist die Liebe. Sie sitzt auf der braungebeizten Bank, und jemand hat gesagt, so ist die Liebe." (10%)

Linn Ullmann, eine der besten Autorinnen unserer Zeit, schreibt ein Buch über ihre Familie. Keine ...

"So ist die Liebe. Sie sitzt auf der braungebeizten Bank, und jemand hat gesagt, so ist die Liebe." (10%)

Linn Ullmann, eine der besten Autorinnen unserer Zeit, schreibt ein Buch über ihre Familie. Keine Autobiografie wie man sie kennt. Das Sachlich-Wahre verschwimmt durch die poetische Sprache und die faszinierenden Erzählperspektiven zu einer Art Roman. Aber um Fiktion handelt es sich auch nicht; schreibt sie doch über ihre berühmten Eltern.

Von ihrer Kindheit, über ihr (von den Eltern) unabhängiges Leben als erwachsene Frau bis hin zum Sterben ihres Vaters, umspannt das Buch weite Teile ihres Lebens. Und doch bleibt ihr Vater Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, und somit auch gefühlt der Mittelpunkt ihres Lebens.
Geplant war ein gemeinsames Buch mit dem Vater, zu dessen Zweck sie ihn befragen und auf Tonband aufnehmen wollte. Vater und Tochter starten dieses Projekt aber so spät, dass der alte Bergman nur noch kurze Zeit zu leben haben soll und geistig nicht mehr ganz auf der Höhe ist.

"Was schreibt Pessoa in Das Buch der Unruhe? Ich war früh aufgestanden und hatte viel Zeit darauf verwandt, mich darauf vorzubereiten zu existieren. Ab und zu, früher, tauchte Pessoa in den Gesprächen auf, wenn wir unser Buch planten – konnten wir möglicherweise Pessoas Titel stibitzen oder verdrehen, oder war das bloß gekünstelt, wir durften nicht zu gekünstelt werden, die Kunst besteht darin zu wissen, wo die Grenze zum Gekünstelten verläuft, aber als Arbeitstitel ging es in Ordnung, vielleicht konnten wir ja einen anderen Titel finden, wenn wir fertig und bereit waren, das Buch zu veröffentlichen, aber dann vergaß er Pessoa." (19%)

Einige Jahre nach dem Tod ihres Vaters findet Linn Ullmann die Kraft, sich mit den Tonbandaufnahmen literarisch auseinander zu setzen. So werden das gescheiterte gemeinsame Projekt und die scheinbar dürftige Materialgrundlage zu etwas ganz Besonderem.
Für die Tochter, aber auch für den Leser.
Denn Ullmann zaubert daraus ein so beeindruckendes, eindrückliches Buch, wie ich es selten gelesen habe. Ein Buch über die Liebe, über Familie, über eine zerbrechliche Mutter und einen übermächtigen Vater.

"Und ich denke nicht, dass das eine Geschichte ist über Eltern, die ihr Kind vernachlässigen." (https://www.deutschlandfunkkultur.de/linn-ullmann-ueber-ihr-buch-die-unruhigen-ich-wollte-ueber.1270.de.html?dram:article_id=420093)

Veröffentlicht am 21.09.2017

Eine sehr lange, gemächliche Erzählung

Swing Time
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„Es ist ein Leben im Schatten und irgendwann zermürbt einen das.“ (592)

Ein solches Leben führt die Erzählerin des Romans. Als Kind einer Jamaikanerin und eines Engländers fühlt sie sich im London der ...



„Es ist ein Leben im Schatten und irgendwann zermürbt einen das.“ (592)

Ein solches Leben führt die Erzählerin des Romans. Als Kind einer Jamaikanerin und eines Engländers fühlt sie sich im London der 80er Jahre, in dem sie ihre Kindheit verbringt, zwar irgendwie fremd, aber doch auch geborgen. In ihrem Viertel sind viele Familien mit Migrationshintergrund. Man bleibt gewissermaßen unter seinesgleichen und lebt in recht geordneten Bahnen. Ihr Vater ist sehr aufmerksam und freundlich, ihre Mutter lebt für ihren Wunsch nach Emanzipation (nicht nur persönlicher, sondern allgemeiner).
Die Erzählerin ist zwar klug und verfügt über eine gute Beobachtungsgabe, gleichzeitig schwirrt sie aber sehr um sich selbst mit ihren Gedanken und Wahrnehmungen. Sie hat eigentlich nur ein Interesse: Den Tanz. Doch selbst ist sie auf diesem Gebiet nur mittelmäßig begabt und so kann sie nur andere bewundern. Als Kind schließt sie sich einem Mädchen ihrer Ballettgruppe an. Dann wählt sie ohne große Passion einen Studiengang und gerät mehr zufällig in den Job als persönliche Assistentin eines Popstars. Sie betreut das karitative Projekt ihrer Chefin in Afrika mit: Die Gründung einer Mädchenschule. Ein charakterstärkerer Mensch wäre bei dieser Gelegenheit vielleicht auf Identitätssuche gegangen. Sie jedoch treibt nur zehn Jahre an der Seite des Popstars mit, ohne eigene Besonderheiten. Am Ende trifft sie wieder auf das Mädchen aus der Ballettschule.

„Swing Time“ ist ein über 600 Seiten dicker Schmöker, dem teilweise der Rote Faden zu fehlen scheint. Die Story plätschert dahin, die recht persönlichkeitslose Protagonisten nimmt uns mit in ihr Leben, das zwar nicht unbedingt ereignislos ist, aber dennoch sehr unspektakulär.
Das Besondere des Buches liegt wohl gerade in dieser Perspektive. Die namenlose Erzählerin ist ein sehr formbarer, angepasster Mensch. Ein Normalo ohne Ecken und Kanten, der aus seinem Leben erzählt, ohne dabei ein konkretes Erzähl-Ziel zu verfolgen. Nichts an der Geschichte scheint gestrafft oder künstlerisch zurechtgebogen. Aber am Ende fügt sich dann sogar diese scheinbar ziellose Geschichte zu einer runden Sache.

Wer es mag, sich über viele Lesestunden von einer Erzählung tragen lassen, und nicht unbedingt Handlungsstärke braucht, ist mit diesem Roman gut bedient.
Es fließen immer mal wieder interessante Alltagsbeobachtungen und intelligente Kommentare über das Leben ein.

„Was wusste sie schon von den Wellen der Zeit, die eine nach der anderen über uns hinwegrollten? Was wusste sie schon vom Leben als ständig provisorischem, niemals vollständigem Über-Leben dieses Vorgangs?“ (197)

Veröffentlicht am 19.09.2017

Drei Tage und ein Leben

Drei Tage und ein Leben
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"Sein Leben war nichts anderes als die riesige Niederlage, zu der ihn seine Kindheit, ein einziges Leid, bestimmt hatte." (93%)

Weihnachten 1999. Manch einer erinnert sich noch an die heftigen Stürme ...

"Sein Leben war nichts anderes als die riesige Niederlage, zu der ihn seine Kindheit, ein einziges Leid, bestimmt hatte." (93%)

Weihnachten 1999. Manch einer erinnert sich noch an die heftigen Stürme Lothar und Martin, die über West- und Mitteleuropa hinwegzogen und großes Unheil anrichteten.
Drei Tage zuvor verschwindet der sechsjährige Remi aus dem kleinen französischen Ort Beauval. Er ist dem Nachbarsjungen Antoine in den Wald gefolgt, der dort eine Hütte gebaut hatte. Antoine, selbst gerade einmal zwölf Jahre alt und an der Schwelle zum Erwachsenwerden, durchlebt gerade eine schwierige Zeit. Seine Eltern haben sich getrennt. Der Vater ist sehr gleichgültig und abwesend. Die Mutter - und das ist vielleicht noch schlimmer - ist zwar anwesend, aber auch gleichgültig den Sorgen ihres Sohnes gegenüber. Dieser plagt sich mit Einsamkeit, buhlt um die Anerkennung seiner Altersgenossen und ist irritiert durch seine aufkeimende Sexualität.
Eine Lebenssituation, in der dem Heranwachsenden feinfühlig begegnet werden sollte. Aber in dem kleinen Dorf Beauval werden die Kinder mit ihren Sorgen und Ängsten allein gelassen. Und noch zusätzlich mit Problemen und Taten der Erwachsenen konfrontiert, die sie erschüttern.
So muss Antoine mit ansehen, wie sein Nachbar, Remis Vater kurzerhand, seinen von einem Auto angefahrenen Hund erschlägt. Dieser Hund war Antoines einziger Freund und Begleiter.
Völlig aufgebracht zieht er sich in den Wald zurück, wohin Remi ihm folgt. Antoine projiziert seine Wut auf den kleinen Jungen und schlägt auf ihn ein.

"Das Ausmaß der Katastrophe hat ihn niedergeschmettert. Innerhalb weniger Minuten hat sein Leben die Richtung geändert. Er ist ein Mörder." (8%)

Pierre Lemaitre nimmt sich nicht vor, die Schuldfrage zu klären; Antoines Tat wird als Mord bezeichnet, nie als Unfall. Viel mehr geht es darum, was diese Tat aus Antoine macht.
Auch wie es zu dem Mord kam, spielt natürlich am Rande eine Rolle, doch es kommt nie zu einer Aufklärung und Reflexion der Umstände, da wir alles aus Antoines Perspektive erfahren. Und der bleibt auch in seinem weiteren Leben der selbstbezogene und verängstigte Zwölfjährige, der seine Tat nie verarbeiten wird.

So fühlt man als Leser mit dem jungen Antoine drei Tage lang mit, obwohl er einen Mord begangen hat. Doch den erwachsenen Antoine kann man nicht mögen. Er ist ein gebrochener Mann, dessen Leben von der Angst vor dem Entdecktwerden bestimmt wird.

Ein so bewegendes Buch wie "Drei Tage und ein Leben" habe ich selten gelesen. Es lässt den Leser verzweifelt und zerrissen zurück.

Veröffentlicht am 27.07.2017

Evolution und Revolution

Und Marx stand still in Darwins Garten
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„Dann schwiegen sie wieder. Nach einer ganzen Weile sagte Darwin: »Mir scheint, Sie [Marx] sind ein Idealist, obwohl ich natürlich weiß, dass Sie größten Wert darauf legen, die Welt auf materialistische ...

„Dann schwiegen sie wieder. Nach einer ganzen Weile sagte Darwin: »Mir scheint, Sie [Marx] sind ein Idealist, obwohl ich natürlich weiß, dass Sie größten Wert darauf legen, die Welt auf materialistische Weise zu betrachten.“ (69%)

Darwin und Marx. Zwei große Vor-Denker, die im Jahr 1881 nur wenige Kilometer voneinander entfernt in England leben.
Ilona Jerger nimmt diese Tatsache als Anlass zu spekulieren, wie ein Kennenlernen der beiden Männer hätte ablaufen können. Was hätten die beiden sich zu sagen? Wie passen ihre Weltansichten zueinander? Wie unterschiedlich sind ihre Charaktere und Temperamente?

Im Roman haben Darwin und Marx, beide schon alt und krank, denselben Arzt. Dr. Beckett erzählt seinen Patienten vom jeweils anderen. Er findet, dass ihre Theorien und Ansichten gewisse Überschneidungen haben und dass die beiden sich kennenlernen sollten.

Die Story ist sehr dialoglastig. Darwin redet mit Dr. Beckett über Marx, die Religion und seine Krankheiten. Marx redet mit Dr. Beckett über Darwin, die Religion und seine Krankheiten. Zu einem Treffen der beiden Großen kommt es dann eher zufällig und ohne das Dazutun des Arztes. Und auch erst, nachdem gut die Hälfte des Romanes gelesen ist.

An dieses ruhige Erzähltempo und die wenigen Schauplätze muss man sich als Leser erst gewöhnen. Bis auf einige Ausnahmen findet das gesamte Geschehen in einem der beiden Krankenzimmer und in Dialogform statt.
Auch merkt man, dass Darwin und Marx sich in der Realität nie begegnet sind, denn die Autorin zögert das Treffen hinaus und nähert sich der Thematik nur sehr vorsichtig. Sie scheint den realen Personen nicht allzu viele Worte in den Mund legen zu wollen. Entsprechend unspektakulär gestaltet sich der vermeintliche Höhepunkt des Romans: Marx und Darwin beobachten sich gegenseitig bei ihrem Treffen, die Gespräche übernehmen zu großen Teilen andere Figuren.

So ist dann auch die interessanteste Figur die des Dr. Beckett. Ein sehr moderner und progressiver Arzt, der seiner Zeit weit voraus ist. Er stellt die Arzt-Patient-Beziehung in den Vordergrund, weiß um die Wirkung der seelischen Verfassung auch auf den Körper.
"Am Bett des gebeutelten Professors war ihm klargeworden, dass es zwischen Arzt und Patient einer Allianz bedurfte, nicht nur einer Diagnose." (22%)

„Und Marx stand still in Darwins Garten“ ist ein eigenartiges Buch, wie ich es bisher noch nicht kannte. Aber es ist auch sehr unterhaltsam und lehrreich. Und auf jeden Fall etwas Besonderes.