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Veröffentlicht am 21.09.2025

Zwischen Herz und Verstand - im Bann toxischer Gefühle

No Way Home
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Was passiert, wenn sich ein rationaler Arzt, eine impulsive junge Frau und ein eifersüchtiger Ex-Freund in einem verlassenen Haus in Nevada begegnen? T.C. Boyle wirft seine Figuren in ein emotionales Minenfeld ...

Was passiert, wenn sich ein rationaler Arzt, eine impulsive junge Frau und ein eifersüchtiger Ex-Freund in einem verlassenen Haus in Nevada begegnen? T.C. Boyle wirft seine Figuren in ein emotionales Minenfeld – und der Leser schaut fasziniert zu.

Nach dem plötzlichen Tod seiner Mutter reist der junge Assistenzarzt Terry von Los Angeles nach Nevada, um ihren Nachlass zu regeln. Dort trifft er auf die charismatische Bethany, die sich überraschend schnell in sein Leben – und in das Haus seiner Mutter – drängt. Zwischen ihnen entwickelt sich eine Beziehung, doch Bethanys Vergangenheit holt sie bald ein, als ihr Ex-Freund Jesse auftaucht. Es entspinnt sich eine gefährliche Dreiecksdynamik, geprägt von Begehren, Eifersucht und innerer Zerrissenheit.

Boyle erzählt abwechselnd aus der Perspektive der drei Hauptfiguren, was den Leser tief in deren jeweilige Gedanken- und Gefühlswelt eintauchen lässt. Der klare, flüssige Schreibstil sorgt dafür, dass man das Buch kaum aus der Hand legen kann.

Besonders eindrucksvoll sind die realistisch geschilderten Krankenhaus-Szenen, die nicht nur Terrys stressigen Berufsalltag, sondern auch seine soziale Unsicherheit verdeutlichen. Er wirkt wie ein sympathischer, aber etwas verlorener Mensch – jemand, der mit zwischenmenschlichen Beziehungen oft überfordert scheint. Das macht ihn für Bethany zu einer leicht zu beeinflussenden Figur, auch wenn sie selbst innerlich zerrissen und teilweise sogar naiv wirkt. Jesse hingegen bleibt in seiner Rolle als instabiler Ex-Freund eher eindimensional und schwer erträglich – was möglicherweise beabsichtigt ist.

Gerade weil der Roman toxische Beziehungsmuster so eindringlich beschreibt, hätte ich mir gewünscht, dass es zumindest Ansätze zur Überwindung dieser Muster gibt. Die Figuren treten jedoch auf der Stelle, und es fehlt ein erkennbarer Wendepunkt oder eine Entwicklung. Vielleicht ist genau das Boyles Intention – die Macht solcher Dynamiken und die Schwierigkeit, sich daraus zu befreien, schonungslos darzustellen. Dennoch hätte dem Roman eine emotionale Auflösung oder ein Wendepunkt gutgetan.

Fazit:
No Way Home ist ein intensives Beziehungsdrama mit psychologischem Tiefgang, das seine Figuren schonungslos entblößt. Wer sich für menschliche Abgründe, komplexe Beziehungen und literarische Spannung interessiert, wird bei diesem Roman fündig – auch wenn die erhoffte Läuterung ausbleibt.

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Veröffentlicht am 18.09.2025

Komplex, sperrig, bewegend – aber nicht für jede:n

Alles ganz schlimm
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Der Einstieg in den Roman fiel mir nicht ganz leicht. Die vielen verschachtelten Sätze, schnellen Szenenwechsel und Zeitsprünge machen das Lesen zunächst recht herausfordernd. Es ist definitiv kein Buch, ...

Der Einstieg in den Roman fiel mir nicht ganz leicht. Die vielen verschachtelten Sätze, schnellen Szenenwechsel und Zeitsprünge machen das Lesen zunächst recht herausfordernd. Es ist definitiv kein Buch, das man „mal eben nebenbei“ lesen kann – dafür ist es sprachlich und inhaltlich zu anspruchsvoll. Der Erzählfluss wirkt anfangs sprunghaft und teilweise wirr, was das Nachvollziehen der Handlung erschwert.

Auch mit den Figuren hatte ich zu Beginn meine Schwierigkeiten. Viele von ihnen bleiben distanziert, wirken eher unsympathisch oder agieren in oberflächlichen, beinahe zweckmäßigen Beziehungen. Im Mittelpunkt steht Susanne, die von Anfang an einen zutiefst einsamen und unsicheren Eindruck macht. Ihre Freundschaften scheinen zu zerbrechen, und ausgerechnet Stella – ihre frühere Freundin – eignet sich Susannes Vergangenheit an, um daraus Anerkennung zu ziehen. Dass sich gleichzeitig das gesamte soziale Umfeld von Susanne abwendet, verstärkt ihr Gefühl der Isolation enorm.

Im weiteren Verlauf wird Susannes belastende Lebensrealität immer deutlicher: Ängste, Sucht, die Erfahrung sexueller Gewalt, das ständige Gefühl, nirgends dazuzugehören. Ihr tief verinnerlichter Selbstzweifel zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte. Die metaphorische Kraft, mit der Susanne beispielsweise alle Spiegel in der Wohnung verhüllt, hat mich besonders berührt – sie will sich selbst nicht mehr sehen, was sinnbildlich für ihren zerstörten Selbstwert steht.

Ein zentrales Rätsel des Romans bleibt lange unbeantwortet: Was ist wirklich mit Stella passiert? Hat sie sich das Leben genommen – und wenn ja, warum? Doch auch am Ende bleiben viele Fragen offen – nicht nur, was Nebenfiguren wie Oskar betrifft, sondern auch Susannes Entwicklung als Figur. Zwar wirkt sie gegen Ende etwas gefestigter, aber ein Gefühl der „Befreiung“ bleibt aus.

Der Roman behandelt hochkomplexe Themen wie: psychische Erkrankungen, soziale Ausgrenzung, Sucht, Gewalt, Manipulation, Identität, Schuld – all das wird aufgegriffen, jedoch meist nur angedeutet, fragmentarisch und bruchstückhaft erzählt. Genau darin liegt möglicherweise die Intention der Autorin: ein Roman, der keine klaren Antworten gibt, sondern die innere Zerrissenheit seiner Hauptfigur auch stilistisch widerspiegelt.

Insgesamt ist Alles ganz schlimm ein literarisch ambitionierter Roman, der mich zwar in einzelnen Momenten berühren konnte, mich aber als Ganzes nicht überzeugt hat. Zu vieles blieb mir zu vage, zu wirr, zu unaufgelöst.

Eine Empfehlung für alle, die sich auf psychologisch dichte, komplex erzählte Literatur einlassen wollen und keine schematischen Erzählstrukturen erwarten – sondern bereit sind, sich auf Widersprüche, Leerstellen und emotionale Ambivalenz einzulassen.

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Veröffentlicht am 08.09.2025

Was bleibt, wenn Worte fehlen

Du musst meine Hand fester halten, Nr. 104
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„Du musst meine Hand fester halten Nr. 104“ ist ein Roman über das, was in einer Familie nicht gesagt wird – und dennoch über Generationen hinweg bleibt.

Die Geschichte erzählt von Hardy und Magret, die ...

„Du musst meine Hand fester halten Nr. 104“ ist ein Roman über das, was in einer Familie nicht gesagt wird – und dennoch über Generationen hinweg bleibt.

Die Geschichte erzählt von Hardy und Magret, die in der Nachkriegszeit im selben katholischen Kinderheim aufwachsen - einer Zeit, die für beide traumatisch prägend ist. Parallel dazu wird die aktuelle Zeitebene betrachtet, in der wir Hardy und Margret sowie vor allem ihre Urenkelin Emily auf ihrem Weg begleiten.

Susanne Abels Schreibstil ist unaufgeregt, präzise und zutiefst bewegend. Sie erzählt nicht überdramatisch, sondern mit einem tiefen Gespür für Zwischentöne. Besonders gelungen ist die Symbolik: Der Titel selbst verweist auf das zentrale Motiv – das Bedürfnis nach Halt. Dieser wird im Roman gleichzeitig eingefordert und verweigert oder mitunter sogar zerstört.

Die Geschichte entfaltet sich langsam, aber mit emotionaler Wucht. Man erfährt nicht alles auf einmal, sondern durch Rückblenden, Andeutungen und Erinnerungsfetzen. Diese fragmentarische Struktur spiegelt den inneren Zustand der Figuren: zerrissen, verletzt, unvollständig.

Emily ist dabei nicht nur eine Beobachterin, sondern ein Katalysator. Sie sieht, was andere übersehen - oder nicht sehen wollen - und stellt Fragen, die lange vermieden wurden. Ihr empathischer Blick durchbricht die alten Familienmuster - nicht laut, sondern mit Einfühlungsvermögen und stiller Beharrlichkeit.

Das zentrale Thema – das generationenübergreifende Schweigen – wird mit viel Feingefühl und psychologischer Genauigkeit dargestellt. Der Roman zeigt, wie gut gemeintes Verschweigen zum größten Hindernis werden kann – für Liebe und Nähe, für Verständnis, für Heilung, für Entwicklung.

Ein stiller, tief bewegender Roman über das, was bleibt, wenn Worte fehlen – und darüber, wie Liebe auch dort wirken kann, wo sie nicht ausgesprochen wird.

Selten hat mich ein Buch so tief berührt - eine absolute Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 28.08.2025

Zwischen Fürsorge und Freiheit - ein stiller Generationenkonflikt

Halbinsel
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„Der Blick auf das Kind - was davon ist Projektion der eigenen Ängste, der eigenen unerfüllten, der im eigenen Leben nicht erreichten Ziele und Ideale?“

Um eben diese - und auch andere zwischenmenschliche ...

„Der Blick auf das Kind - was davon ist Projektion der eigenen Ängste, der eigenen unerfüllten, der im eigenen Leben nicht erreichten Ziele und Ideale?“

Um eben diese - und auch andere zwischenmenschliche Konflikte - kreist Kristine Bilkaus Roman Halbinsel.

Annett, Ende 40, lebt am nordfriesischen Wattenmeer. Nach dem frühen Tod ihres Mannes hat sie ihre Tochter Linn, inzwischen Mitte 20, alleine großgezogen. Als die sonst so energetische und tatkräftige Aktivistin Linn bei einem Vortrag zusammenbricht, nimmt Annett sie voller Sorge mit zurück ins vertraute Familienheim. Die Konflikte lassen nicht lange auf sich warten…

„Manchmal habe ich den Eindruck, ich bin wie ein Projekt für dich. Ich soll deinen Ehrgeiz befriedigen, den du dir selbst aber nie eingestehen würdest. Ich soll deine Hoffnungen erfüllen.“ (S.201)

Linn fühlt sich von ihrer Mutter unverstanden und bevormundet. Sie braucht nach dem körperlichen und seelischen Zusammenbruch eine Auszeit, um Klarheit zu gewinnen und zu sich selbst zurückzufinden. Doch Annett, geprägt von den Wertvorstellungen ihrer Elterngeneration und einer leistungsorientierten Gesellschaft, kann mit der vermeintlichen Antriebslosigkeit ihrer Tochter nur schwer umgehen.
Gerade weil sie selbst auf vieles verzichtet hat - finanziell, persönlich, emotional -, um Linn eine gute Ausbildung und ein stabiles Umfeld zu ermöglichen, fällt es ihr schwer zu akzeptieren, dass deren Lebensweg nicht gradlinig verläuft.

„…- meine Fürsoge für sie hatte auch zu meiner eigenen Freiheit im Widerspruch gestanden. Fürsorge und Freiheit, das eine schränkte das andere ein, Freiheit und Fürsorge, beides hing untrennbar zusammen.“ (S.202)

Auch Annetts eigene Konflikte brechen auf: der frühe Verlust ihres Mannes, den sie nie wirklich verarbeitet hat und die Unfähigkeit, sich nun - wo die Tochter unabhängig sein könnte - ein neues Leben zuzutrauen. Wünsche, Träume, Veränderungen? Oder doch lieber das Vertraute?

„Ich zweifelte daran, ob ich mich irgendwo anders zugehörig fühlen würde. Ob das wirklich gelingen könnte. Wo würde die Einsamkeit lauern? Hinter der Veränderung oder dem Vertrauten?“ (S. 40)

Kristine Bilkau gelingt es in diesem leisen, vielschichtigen Roman, mit einer ruhigen, klaren Sprache Themen wie Trauer, Generationskonflikte, Erwartungsdruck, Selbstbestimmung und -findung sowie die Klimakrise aufzugreifen - subtil, aber eindringlich. Ihre unaufgeregte Erzählweise lädt dazu ein, innezuhalten, sich selbst zu reflektieren und sich den leisen Zwischentönen des Lebens zu öffnen.

Halbinsel ist ein Roman, der zum Nachdenken anregt - eine Empfehlung für alle, die Stille, tiefgründige Geschichten mit emotionaler Tiefe schätzen.

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Veröffentlicht am 25.08.2025

Ein schonungslos ehrlicher Roman über familiären Alkoholismus

Das Schwarz an den Händen meines Vaters
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Eine Familie, geprägt vom generationsübergreifenden Alkoholismus - im Mittelpunkt die Protagonistin, von ihrem Vater liebevoll Motte genannt. Zwischen den beiden besteht eine enge Verbindung - getragen ...

Eine Familie, geprägt vom generationsübergreifenden Alkoholismus - im Mittelpunkt die Protagonistin, von ihrem Vater liebevoll Motte genannt. Zwischen den beiden besteht eine enge Verbindung - getragen von Liebe, aber auch gezeichnet von Schmerz.

Motte schildert ihr Heranwachsen in einem familiären Umfeld, das stark von der Alkoholsucht des Vaters geprägt ist. Als junge Erwachsene gerät auch sie selbst in ein problematisches Trinkverhalten und findet sich in teils prekären Lebenssituationen wieder. Erst als ihr Vater mit Krebs im Endstadium diagnostiziert wird, beginnt sie, ihr eigenes Leben kritisch zu hinterfragen und neue Wege zu suchen.

Der Schreibstil ist klar, nüchtern und ehrlich. Lena Schätte beschönigt nichts - Konflikte, Scham, Ohnmacht und emotionale Ambivalenz werden offen benannt. Gerade dadurch entsteht ein intensiver, mitunter verstörender Einblick in das familiäre Zusammenleben mit einem suchtkranken Elternteil, insbesondere aus der Perspektive derer, die mitleiden, aber oft schweigen. Ein besonderes Augenmerk liegt hier auf der Rolle der Frauen innerhalb dieser Familienstruktur, die in diesem Roman als Hauptleidtragenden sichtbar werden.
Trotz aller Schwere spart die Autorin die kleinen, liebevollen Momente nicht aus - jene Augenblicke, in denen Nähe, Liebe und echte Verbindungen spürbar sind. Gerade diese machen den Roman nicht nur schmerzhaft, sondern auch berührend schön.

Mottes Gefühlswelt - Zerrissenheit, Wut, Scham, Fürsorge, Mitgefühl und tiefe Liebe - ist durchweg greifbar. Man begleitet sie durch Krisen und Selbstzweifel und entwickelt ein tiefes Verständnis für ihre Geschichte.

Das Schwarz an den Händen meines Vaters hat mich tief bewegt - ein Roman, der schmerzt, berührt und lange nachhallt.

Eine klare Leseempfehlung für alle, die sich von ehrlicher, tiefgründiger Literatur bewegen lassen wollen.

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