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Veröffentlicht am 21.06.2020

Wenn es still wird in Holt

Kostbare Tage
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Kent Harufs Roman ist ein kostbarer Roman, der die Stille, Langsamkeit und das Kleinstadtleben würdigt. Allen, die die Thematik des Sterbens und der Krankheit abschrecken mag, sei versichert: ja, es geht ...

Kent Harufs Roman ist ein kostbarer Roman, der die Stille, Langsamkeit und das Kleinstadtleben würdigt. Allen, die die Thematik des Sterbens und der Krankheit abschrecken mag, sei versichert: ja, es geht um das Ende des Lebens, aber nicht auf eine verstörende oder abschreckende Weise und vor allem geht es auch nicht nur um den Tod. Haruf gelingt es im Gegenteil, das Sterben zum Teil des Lebens zu machen - was es ja letztlich auch ist. So ist der Roman durchsetzt mit Erinnerungen an Fehler und Situationen, die das Leben der Figuren in Kostbare Tage beeinflusst oder auch entschieden haben. Die Handlung wechselt zwischen Dad Lewis Geschichte und Reverend Lyles Gewissenskonflikten, Alenes trauriger Liebesgeschichte, John Wesleys Teenagernöten und Alices neuem Leben in Holt, sodass an Dad Lewis Ende auch der Beginn oder die Mitte anderer Schicksale geknüpft sind, wodurch ein Panorama verschiedener menschlicher Leben in einer Kleinstadt geschaffen wird.

Beschrieben wird Holt mit seinen Einwohnern in einer sehr reduzierten, unaufgeregten und stillen Sprache, verstärkt durch den konsequenten Verzicht auf die Anführungszeichen der wörtlichen Rede. So stört nichts den ruhigen, aber unaufhaltsamen Lauf des Lebens in dem kleinen Ort. Eine Sprache, die so sehr der Romanhandlung angepasst gibt, findet man nur selten.

Eine richtige Nähe zu den Figuren kommt aufgrund der Erzählsituation und des Schreibstils zwar nicht auf, dennoch berührt der Roman. Die Trauer, Traurigkeit, Missverständnisse, Fehlentscheidungen und das Abschiednehmen sind Konstante der menschlichen Existenz und beeindrucken daher sehr. Die stärksten Szenen sind für mich die, in denen Dad Lewis auf dem Sterbebett um Vergebung bittet - ohne sich dessen selbst wirklich bewusst zu sein.

Kostbare Tage ist ein Roman, der nachwirkt und reicher macht. Schön und traurig und auch alltäglich.

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Veröffentlicht am 21.06.2020

Behäbige Liebesgeschichte

Strandkorbliebe
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Antje und Michael waren als Teenies ineinander verliebt. Sie lebt in Norderney. Er lebt in Bayern. Sie hat ihm geschrieben. Er hat den Brief nie bekommen. Fünfzehn Jahre später sind beide noch nicht darüber ...

Antje und Michael waren als Teenies ineinander verliebt. Sie lebt in Norderney. Er lebt in Bayern. Sie hat ihm geschrieben. Er hat den Brief nie bekommen. Fünfzehn Jahre später sind beide noch nicht darüber hinweggekommen. Sie treffen sich wieder und alles geht von vorne los.

Vorab: ich liebe Liebesromane oder überhaupt Romane mit Liebesgeschichte. Auch bin ich meist gewillt, über das eine oder andere Klischee hinwegzusehen. Aber interessant muss es sein, d.h. es muss schon ein paar außergewöhnliche Verwicklungen, eine Prise Humor, Selbstironie oder eine außergewöhnliche Erzählstimme geben oder eben auch mal das "ganz große Kino" sein. Das ist leider hier alles nicht der Fall.

Der Roman ist zwar ganz fluffig geschrieben, speziell die tatsächlichen Kuss-/Liebesszenen fand ich recht gut gemacht, aber abgesehen davon handelt es sich bei der Strandkorbliebe um ein Buch, das man schnell vergisst. Der Roman ist einfach zu behäbig, zu eng abgesteckt, irgendwie etwas "oll", also einfach nicht modern, frisch und frech genug. Die Zeit heilt bekanntlich alle Wunden, aber die beiden Protagonisten haben hier ihren Hormonrausch, der fünfzehn Jahre zurückliegt, nicht verwunden und sind dermaßen verbittert, dass man sich dann wundern muss, wie schnell das Drama überwunden werden und zum Happy End führen kann. Die Hauptfigur Antje leidet scheinbar grundsätzlich an den Auswirkungen ihrer eigenen dysfunktionalen Kommunikation und gibt der ganzen Welt die Schuld an ihrem Inselleben, sympathisch macht sie das leider nicht - genauso wenig wie ihr auch sonst leicht divaeskes Verhalten. Dazu kommt das beide Figuren vielleicht aus dem Leben gegriffen sein mögen, aber die ganze Geschichte ist dann doch zu unglamourös und hat mit den Ansprüchen von Michaels Eltern eher etwas von Bauer sucht Frau.

Der Roman konnte mich nicht begeistern, er hatte zu viele Längen und war zu alltäglich - einfach nichts Besonderes. Er ist allenfalls ein netter Zeitvertreib, der mit seinen Settings auf Norderney und im Chiemgau Fans des ZDF-Herzkinos sicherlich trotzdem erfreuen kann.

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Veröffentlicht am 21.06.2020

Die dunkle Seite Islands

Das Netz
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Nach der Trennung von ihrem Mann hat Sonja kein festes Einkommen mehr und lebt nur noch für die Besuchswochenenden mit ihrem Sohn und die Treffen mit ihrer neuen Liebe Agla, die ihrerseits tief in einen ...

Nach der Trennung von ihrem Mann hat Sonja kein festes Einkommen mehr und lebt nur noch für die Besuchswochenenden mit ihrem Sohn und die Treffen mit ihrer neuen Liebe Agla, die ihrerseits tief in einen Bankenskandal verwickelt ist. Um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und irgendwann ihren Sohn wieder ganz bei sich haben zu können, beginnt Sonja Drogen zu schmuggeln. Dabei gerät sie nicht nur zunehmend in einen Strudel von Unfreiwilligkeit und Bedrohung, sondern auch in den Fokus des Zollbeamten Bragi.

Das Netz bietet ein fesselndes Leseerlebnis, das weniger einer abwechslungsreichen oder actiongeladenen Handlung zuzuschreiben ist, als der Erzählstruktur des Romans, welche in sehr kurzen Kapiteln zwischen den Perspektiven der drei Hauptfiguren Sonja, Agla und Bragi hin- und herspringt. Auf diese Weise verfolgt der Leser immer nur kurze Versatzstücke der Innensicht der Figuren und der jeweiligen Situation, um kurz darauf mit einer völlig anderen Momentaufnahme konfrontiert zu werden. Fragmentarisch ist der Roman jedoch glücklicherweise nicht, denn Sonja ist (abnehmend) mit Agla und (zunehmend) mit Bragi verbunden. Darüber hinaus befinden sich die drei Figuren außerdem alle in einer sehr düsteren und wenig hoffnungsvollen Lage, die durchaus Anlass zu Verzweiflung gibt, aber eben auch jeweils das nachvollziehbare Handlungsmotiv stellt, was ein wesentlicher Garant für die hier sehr glaubhafte und gelungene Figurendarstellung ist.

Die Handlung selbst profitiert von der abwechslungsreichen Erzählstruktur, denn der eigentliche Handlungsablauf ist von einigen Wiederholungen und immer wiederkehrenden Tätigkeiten geprägt, deren Erwähnung aber dadurch gerechtfertigt ist, da sich so die Idee einer zunehmend bedrohlicheren Lage Sonjas (und auch Aglas) und eines sich immer enger ziehenden Netzes beim Leser überzeugend verfestigt. Sicherlich gibt es auch ein paar Szenen, die ziemlich "over the top" wirkten (man denke z.B. an den Tiger im Esszimmer), aber grundsätzlich ist das, was der Roman erzählt, gut vorstellbar.

Das isländische Setting steuert ein übriges zur dunklen Atmosphäre bei. Der Roman nutzt sehr viele Verweise auf isländische Orte und Eigenarten und fängt die winterliche Trostlosigkeit und Isolation der Insel sehr gut ein. Zum isländischen Flair trägt natürlich auch die isländische Schreibweise der Namen bei. Den Untertitel "Ein Reykjavik-Krimi" trägt das Buch damit absolut zu Recht und wer schon einmal in Island war, wird einiges wiedererkennen.

Das Netz bietet spannende Lesestunden, die den Leser auf recht subtile Weise fesseln, da sich die Handlung nur langsam entwickelt. Der Roman bewegt sich zwischen Krimi und Thriller und ist für Leser geeignet, die bei Fiktion Wert auf einen Realitätsbezug legen, den das Buch auch durch seinen Kontext der isländischen Finanzkrise erzielt.

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Veröffentlicht am 12.06.2020

So viele Puzzleteile...

Enna Andersen und das verschwundene Mädchen
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Die Kommissarin Enna Andersen wird nach ihrer Rückkehr in den Polizeidienst zur Chefin der Abteilung für "Altfälle" ernannt. Mit ihren Kollegen, der jungen Pia Sims und dem unbequemen Jan Paulsen, macht ...

Die Kommissarin Enna Andersen wird nach ihrer Rückkehr in den Polizeidienst zur Chefin der Abteilung für "Altfälle" ernannt. Mit ihren Kollegen, der jungen Pia Sims und dem unbequemen Jan Paulsen, macht sie sich daran, den Fall eines Mädchens, das einst aus dem Landschulheim auf Wangerooge verschwand, wieder aufzurollen. Bei ihren Ermittlungen stösst das Team auf ein sehr komplexes Netz aus Motiven, Verdächtigen und Verbindungen.

Enna Andersen und das verschwundene Mädchen bietet große Krimi-Freude, denn der Fall ist so verwickelt, dass selbst versierte Leser sich schwer tun, mit einer überzeigenden Lösung aufzuwarten. Es gibt zahlreiche Mosaiksteinchen, Sackgassen, Verwicklungen und Möglichkeiten und auch noch einen Bezug zur kalabrischen Mafia. All diese Versatzstücke halten den Leser bei Laune und bieten überzeugenden Spannung.

Hinzu kommt ein wirklich umfangreiches Personenportfolio, welches die Autorin sehr gut aufbereitet und mit authentischem Leben füllt. Diese Fähigkeit ist für mich immer ein wesentlicher Gradmesser für die Qualität eines Krimis, denn auch wenn Figuren in Krimis meist eher Typen als komplexe Charaktere sind, sollten sie dennoch die ihnen zugewiesene Rolle sinnvoll und nachvollziehbar ausfüllen - und dies gelingt hier famos. Besonders das Ermittler-Team ist überzeugend gezeichnet, was auch dadurch, dass Sims und Paulsen fast durchweg mit vollem Namen benannt werden, damit Ennas zunächst distanzierte Perspektive auf ihr Team unterstrichen wird, deutlich wird. Sehr positiv fällt auch die Spiegelung des Falls durch Sarahs familiäre Problematik auf. Die Komplexität und Figurenfülle birgt jedoch auch die Gefahr, dass der Roman "überfrachtet" wird. Auch wenn dies während des gesamten Lesens zunächst nicht spürbar wird, leidet der Roman zum Ende hin doch etwas unter seinem "Gewicht" und der Vielzahl der Teilaspekte, denn zu guter Letzt müssen alle Fäden aufgelöst werden und genau dieser Prozess gerät leider zu lang und die Spannung ins Stocken.

Enna Andersen ist ein kurzweiliger, spannender, richtig gut gemachter Kriminalroman, der in fast jeder Hinsicht überzeugt und nur am Ende etwas über sich selbst stolpert.

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Veröffentlicht am 10.06.2020

fehlende Tiefe

Die ferne Hoffnung
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Im ersten Teil der Hansen-Saga müssen die drei Brüder Georg, Robert und Karl nach dem Tod ihres Vaters die Geschicke eines Hamburger Handelshauses wieder in erfolgreiche Bahnen lenken. So übernimmt Georg ...

Im ersten Teil der Hansen-Saga müssen die drei Brüder Georg, Robert und Karl nach dem Tod ihres Vaters die Geschicke eines Hamburger Handelshauses wieder in erfolgreiche Bahnen lenken. So übernimmt Georg die Leitung des Hamburger Kontors, während Karl einen neuen Standort in Wien eröffnet und Robert in die deutsche Kolonie Kamerun übersiedelt, um Kakao anzubauen. Der Roman beschreibt die Höhen und Tiefen dieses Unterfangens und die familiären Zerwürfnisse, die damit einhergehen.

Der Roman bietet nette Leseunterhaltung, ist aber vielfach recht einfach konstruiert. So birgt nicht nur die Handlung keine Überraschungen - bis auf die recht unrealistische Darstellung der Frauenpositionen - auch die Figuren sind so konzipiert, dass eine gewisse Langeweile aufkommt, denn die guten Charaktere sind gut und die bösen schlecht und daran ändert sich auch nichts. Hier wird leider Potential verschenkt, denn mehr Komplexität in den Figuren - zumindest in der tragenden Figur Luise - wäre absolut notwendig gewesen, um dem Roman Tiefe zu geben. Stattdessen wird Luise zur moralisch-naiven Instanz, die eine Identifikation schwer macht, und der ultimative weibliche Bösewicht Elisabeth noch zur spannendsten Figur im gesamten Ensemble.

Darüber hinaus war mir der historische Rahmen ganz besonders in Bezug auf die weibliche Rolle nicht überzeugend genug. Man bekommt es in dem Roman so z.B. mit Therese zu tun, die gegen den Willen ihrer ausnehmend vermögenden Eltern Unternehmerin geworden ist und allein lebt, und mit Frederike, die mal eben bei Therese jobbt. Das sind einfach Dinge, die so kaum möglich waren, und bei "jungen Frauen aus gutem Hause" definitiv nicht geduldet wurden. Auch dass Luise als 15-jähriges deutsches Mädchen monatelang allein auf einer Plantage ohne Anstandsdame oder Vormund zurückgelassen wird, ist für mich absolut undenkbar. Der Bewegungsradius einer Frau war so unendlich klein, und die Frauenbewegung steckte erst in den Kinderschuhen...

Gut gefallen hat mir hingegen der Ansatz, deutsche Kolonialgeschichte als einen wesentlichen Aspekt zu wählen, denn dieses Thema ist ja eher eins der "vergessenen". Auch die Entscheidung den Roman an drei verschiedenen Orten spielen zu lassen, fand ich überzeugend und im Kern auch gut umgesetzt.

Insgesamt hat mich der Roman trotz seiner Längen nett unterhalten, aber man sollte weder die Figuren noch den historischen Kontext zu stark hinterfragen.

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