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Veröffentlicht am 30.10.2021

Ohne Gnade: Grace

Grace – Vom Preisträger des Booker Prize 2023 ("Prophet Song")
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Autor Paul Lynch verarbeitet in seinem dritten Roman „Grace“ die große Hungersnot, die Mitte des 19. Jahrhunderts in Irland herrschte. 2,5 Millionen Menschen starben oder sie wanderten aus, was auch nicht ...

Autor Paul Lynch verarbeitet in seinem dritten Roman „Grace“ die große Hungersnot, die Mitte des 19. Jahrhunderts in Irland herrschte. 2,5 Millionen Menschen starben oder sie wanderten aus, was auch nicht immer das Überleben bedeutet hat. 2017 ist das Buch erschienen, jetzt, vier Jahre später, auch bei uns auf deutsch.

Grace ist eine poetisch-entsetzliche Darstellung dieser Verhältnisse. Das Buch ist mit den Werken Charles Dickens’ verglichen worden, und da ist was dran, denn auch in „Grace“ prangert der Autor die Missstände der Zeit an, indem er sie am Versuch eines Kindes, zu überleben, in deprimierender Präzision schildert.

Grace ist 14, als sie sich unfreiwillig auf eine Reise ohne Ziel macht. Sie durchquert das Land, mal allein, mal in Gesellschaft, die nie von langer Dauer ist. Begleitung findet sie auch in den Schatten derer, die vor ihr gestorben sind, und an deren Tod sie sich mitschuldig fühlt. Dem Elend aber kann sie nie entkommen. Auf dem Land nicht, wo sie in Schuppen oder Ställen Unterschlupf sucht, in der Stadt schon gar nicht, wo noch viel mehr Unglückliche um die knappen Ressourcen kämpfen.

„Grace“ stellt die Frage nach dem Menschsein, wenn jeder nur noch auf die grundlegendsten Bedürfnisse reduziert ist, und lässt die Grenzen zwischen den Kreaturen verschwimmen. Zugleich zeichnet das Buch die Lage nach, wie man sie auch in den Geschichtsbüchern lesen kann. Der Zustand der Felder, die Nässe und der Schnee, die Suppenküchen, die sinnlosen Arbeitsangebote, mit denen man die Bevölkerung trotz der großen Not noch disziplinieren wollte, die erzwungene Entvölkerung des Landes, die vielen verlassenen Häuser.

Grace ist keine Heldin, darum bleibt es bis zum Schluss spannend, ob sie diese Odyssee überleben wird. Doch sie wird erwachsen auf ihrer Reise, und nachdem sie es geschafft hat, der Versuchung zu widerstehen, die ihr das Böse in Gestalt eines Paters offeriert, nimmt sie ihr Leben in die eigene Hand.

„Grace“ ist kein Buch, das man in einem Rutsch lesen kann. Aber jede Zeile ist es wert, gelesen zu werden.

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Veröffentlicht am 05.10.2021

Es scroogt im Nachbarhaus

Weihnachten mit Juli
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In „Weihnachten mit Juli“ scroogt es ordentlich, wenn der muffelige Nachbar den Freunden die Vorweihnachtsfreude verdirbt, weil er so über das Pferd im Vorgarten schimpft. Und wie bei der berühmten Vorlage ...

In „Weihnachten mit Juli“ scroogt es ordentlich, wenn der muffelige Nachbar den Freunden die Vorweihnachtsfreude verdirbt, weil er so über das Pferd im Vorgarten schimpft. Und wie bei der berühmten Vorlage kommt am Ende doch sein weiches Herz ans Licht.

In der Zwischenzeit kriegen Paul, Anna, Max und Juli mit, dass man sehr gut auf die ganzen altmodischen Rituale und sogar auf einen Tannenbaum mit Ästen verzichten kann.

Die reichhaltig illustrierte Geschichte, die schon fast als Comic durchgehen kann, überzeugt mit den passenden Bildern an den richtigen Stellen, treffsicheren Texten und einer versöhnlichen Weihnachtsbotschaft.

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Veröffentlicht am 18.09.2021

Hotelgeschichte für Kinder

Vincent und das Großartigste Hotel der Welt
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Hotelgeschichten für Kinder haben ein ganz besonderes Flair. Vom „Kleinen Waldhotel“ über „Greenglass House“ bis zur „Winterhaus“-Reihe - letztere hat mit dem „Großartigsten Hotel der Welt“ sogar die Illustratorin ...

Hotelgeschichten für Kinder haben ein ganz besonderes Flair. Vom „Kleinen Waldhotel“ über „Greenglass House“ bis zur „Winterhaus“-Reihe - letztere hat mit dem „Großartigsten Hotel der Welt“ sogar die Illustratorin Cloe Bristol gemein - preisen die Geschichten das hohe Gut der Gastfreundschaft, die Toleranz gegenüber Fremden und den familiären Zusammenhalt, der dem Hotel seine Unverwechselbarkeit verleiht.

Im „Großartigsten Hotel der Welt“ nimmt die Phantasie besonders zügellos ihren Lauf, gibt es hier doch für jedes menschliche Manko ein eigenes Zimmer. Nach dem Aufenthalt darin verwandelt sich jede Nervensäge in einen freundlichen Zeitgenossen. Kaltherzige Menschen werden liebenswürdig, Angeber üben sich in Bescheidenheit und Streithammel benehmen sich friedliebend.

Es gibt ein Zimmer des Unerwarteten, ein Hüpfburgzimmer, ein Antischwerkraftzimmer und sogar ein Pommes-Zimmer, das diskrete Abwechslung für verwöhnte Gaumen bietet. Ja und dann ist da das Spiegel-der-Zukunft-Zimmer, das dem elfjährigen Schuhputzerjungen Vincent erst viel Freude und dann großes Unbehagen bereitet.

Indem die Autorin ihre eigene Rolle als Erzählerin thematisiert, verstärkt sie den klassischen und beinahe märchenhaften Charakter der Geschichte. Das schlanke Buch lässt sich mit seinen 220 Seiten komfortabel vorlesen.

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Veröffentlicht am 26.08.2021

Meisterhaft erzählt

Harlem Shuffle
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„Harlem Shuffle“ ist ein Großstadtroman, mit dem nicht jeder warmwerden muss, denn das Milieu, in dem er spielt, ist nicht nur geographisch, sondern auch zeitlich ganz weit weg von uns. Wir begleiten Raymond ...

„Harlem Shuffle“ ist ein Großstadtroman, mit dem nicht jeder warmwerden muss, denn das Milieu, in dem er spielt, ist nicht nur geographisch, sondern auch zeitlich ganz weit weg von uns. Wir begleiten Raymond Carney, einen selbständigen Gebrauchtmöbelhändler, der in den sechziger Jahren versucht, in seinem Viertel emporzukommen. Der New Yorker Stadtteil Harlem ist sein ganzer Kosmos. Wie es woanders zugeht, weiß er nur aus zweiter oder dritter Hand, von den Zugezogenen aus den Südstaaten oder von seiner Frau, die beruflich Reisen organisiert - für andere.

Für den Leser bleibt es beim Nachnamen. Carney ist für uns Carney und nicht Ray. Damit wird er zur Hülle und steht für alle anderen, denen es so geht wie ihm. Wie Carney es schafft, seine Familie zu hintergehen, die ihn für einen redlichen Geschäftsmann, Vater und Ehemann hält, so täuscht er auch uns. Mit seiner Menschenfreundlichkeit und seinem Fleiß wickelt er uns ein. Ach, wie sehr fühlen wir mit ihm, wenn er, der es selbst schwerhat, seine Miete zu verdienen, sich fest vornimmt, nichts mehr auf Raten zu verkaufen, und dann doch wieder weich wird, wenn der nächste Kunde ihn darum bittet.

Mißt man ihn jedoch an seinen Taten, dann sieht sie Sache schon anders aus. Carney, der aus schlimmen Verhältnissen kommt und dann über seinem Stand geheiratet hat, kennt Mörder, Erpresser, Schläger, Räuber, Drogenopfer und Prostituierte, und er benutzt sie, um seine Probleme zu lösen. Geschäftsmäßig vermittelt er Diebesgut an Hehler, zahlt Schutz- und Schmiergelder, und wenn er es nicht vermeiden kann, läßt er auch schonmal eine Leiche verschwinden. Trotzdem schafft er es, daß wir ihm das nicht krumm nehmen, denn meist sind es die Umstände, die ihn zum Handeln zwingen. Oder sein nichtsnutziger Cousin Freddie, den er immer wieder aus einem selbstverschuldeten Schlamassel retten muss.

Die Kunst Whiteheads besteht darin, daß Carney in seiner Zerrissenheit zwischen Anstand und Verbrechen dem Leser etwas bedeutet und damit für die Stadt steht, in der er lebt. Ein meisterhaft erzähltes Buch, das an keiner Stelle langweilig wird.

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Veröffentlicht am 13.08.2021

Verliert auf deutsch seinen Reiz

Das Tal in der Mitte der Welt
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Irgendwann weiß man es einfach: In diesem Buch wird nichts von Belang mehr passieren.

Da hat man sich gerade einen Überblick verschafft über die Menschen, die in diesem Tal auf den Shetland-Inseln leben. ...

Irgendwann weiß man es einfach: In diesem Buch wird nichts von Belang mehr passieren.

Da hat man sich gerade einen Überblick verschafft über die Menschen, die in diesem Tal auf den Shetland-Inseln leben. Sandy, den seine Frau Emma verlassen hat, und der bei seinen Schwiegereltern Mary und David und den Schafen geblieben ist. Maggie, die wir gar nicht kennenlernen dürfen, weil mit ihrem Tod das Buch beginnt. Alice, die versucht, für ein Buch zu recherchieren. Jo und Ryan, die Zugezogenen, und Terry, der Trinker.

Noch bevor die Hälfte der Geschichte um ist, wird klar: Die Ansätze dessen, was aus den unspektakulären Ereignissen entspringen könnte - sie waren schon die eigentliche Geschichte.

Was den vielbesungenen Zauber dieses Buches ausmacht, bleibt dem Leser der Übersetzung, die das Schottische, den Dialekt der Einheimischen und dazu so manchen Wortwitz unterschlägt, leider verborgen.

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