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Veröffentlicht am 28.04.2021

Marianne Philips - Die Beichte einer Nacht

Die Beichte einer Nacht
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Eine Frau kann nicht schlafen, zu sehr stören sie die anderen, die sich in dem Gemeinschaftsschlafsaal der Nervenklinik aufhalten. Sie geht zur Nachtschwester und merkt, dass sie sich plötzlich nach Monaten ...

Eine Frau kann nicht schlafen, zu sehr stören sie die anderen, die sich in dem Gemeinschaftsschlafsaal der Nervenklinik aufhalten. Sie geht zur Nachtschwester und merkt, dass sie sich plötzlich nach Monaten des Schweigens öffnen und von all dem erzählen kann, was sie an diesen Ort geführt hat. Stumm hört die andere ihr zu, erfährt von der entbehrungsreichen Kindheit als ältestes von zehn Kindern, das früh schon mit anpacken musste. Der gehässige Vater und schon bald der Wunsch, dem Elend zu entkommen. Als Schneiderin und später Verkäuferin gelingt er der Sprung in die Stadt und Bekanntschaft mit reichen Herren, die sie anbeten und gerne ihr Geld für sie ausgeben. Eine gescheiterte Ehe, der finanzielle Ruin und dann unerwartet doch noch die große Liebe – aber offenbar hatte das Leben kein Happy End für Heleen vorgesehen, sonst wäre sie nicht dort in der Klinik, weggesperrt vor der Öffentlichkeit.

Marianne Philips war ihrer Zeit in vielerlei Hinsicht voraus. Drei Kinder konnten sie nicht von einer politischen Karriere abhalten, das Schreiben entdeckte sie erst spät, wobei ihr das Veröffentlichen ab 1940 als Jüdin verboten war. In „Die Beichte einer Nacht“ sind sicherlich ihre eigenen Erfahrungen mit eingeflossen, da sie nach der Geburt ihrer ersten Tochter einige Wochen in einer Klinik war, aber auch sonst weist der Roman zahlreiche Parallelen zu ihrem Leben auf. Er ist ein einziger Stream of Consciousness, als wenn jemand die Tore weit geöffnet hätte, fließt es einfach so aus der Erzählerin heraus.

„Seltsam ist das, es gibt Augenblicke, in denen hat man tatsächlich die Wahl. Damals vor dem Bahnhof erkannte ich glasklar, dass ich die Wahl hatte: unser Städtchen und ein bisschen Mühsal, aber auch Ruhe – oder Groenmans und das Unbekannte. „

Es ist zunächst die Geschichte eines Mädchens mit Träumen, dem sich plötzlich eine Chance bietet, die sie ergreift. Sie erkennt, was ihr ob der Herkunft alles fehlt, um in der oberen Gesellschaft mitzuhalten, aber konsequent arbeitet sie an sich, bleibt bescheiden und höflich und so öffnen sich immer mehr Türen für sie. Zunächst unter dem Schutz des Kaufmanns Groenmans, später des Unternehmers Camelot entwickelt sie sich zur begehrten Dame, die Luxus erkennt und ihn lieben lernt. Die erste Ehe eine Farce, geblendet von der Bildung des Mannes erkennt sie ihn nicht, bis sie sich befreit und bereit ist, noch einmal von vorne anzufangen. Mit Hannes und der deutlich jüngeren Schwester Lientje, die sie zu sich genommen hat, scheint das Glück perfekt.

Es ist jedoch nicht nur die Entwicklung vom Entlein zum Schwan, sondern die Selbstreflexion der Erzählerin, die den Reiz der Geschichte ausmacht. Sie beschönigt dabei nichts, benennt ihre Fehler und Unzulänglichkeiten und weiß, weshalb alles in diesem Chaos enden musste. Am Ende ist sie allein, nicht einmal mehr Gott steht ihr bei. Sie muss mit sich selbst und dem, was sie getan hat, Frieden schließen.

Man kann kaum glauben, dass der Roman schon vor 90 Jahren verfasst wurde, zeitlos ist die Geschichte des hoffnungsvollen Aufstiegs und schlussendlichen Niedergangs. Dabei reißt Marianne Philips die großen Fragen des Lebens auf: Glück, Glaube und der Platz in der Welt. Eine sprachgewaltige Introspektion einer faszinierenden Protagonistin.

Veröffentlicht am 25.04.2021

Angelika Jodl - Laudatio auf eine kaukasische Kuh

Laudatio auf eine kaukasische Kuh
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Sie ist bereits im Praktischen Jahr als Ärztin, also hat Olga bald ihr Ziel erreicht, von dem die Eltern nach der Auswanderung aus Georgien und der Zwischenstation Griechenland bei der Ankunft schließlich ...

Sie ist bereits im Praktischen Jahr als Ärztin, also hat Olga bald ihr Ziel erreicht, von dem die Eltern nach der Auswanderung aus Georgien und der Zwischenstation Griechenland bei der Ankunft schließlich in Deutschland nur träumen konnten. Stolz sind sie auf die Tochter, aber noch besser wäre, wenn sie mit Ende 20 auch endlich unter der Haube wäre. Von ihrem Freund Felix hat sie ihnen nichts erzählt, die beiden Welten passen einfach nicht zueinander, von ihren Kollegen ahnt keiner von ihren Familienverhältnissen, die sie immer noch lieber verschweigt, obwohl ihr Vater unzählige Sprachen spricht und gebildet ist – aber in München sind die nur Migranten mit gebrochenem Deutsch. Auf Besuch bei ihrer Familie trifft sie zufällig auf Jack und ist sogleich fasziniert von dem Lebemann, der sich völlig in sie verschossen hat. Bald schon steht Olga nicht nur zwischen zwei unvereinbaren Welten, sondern auch noch zwischen zwei Männern.

Angelika Jodl unterrichtet Deutsch als Zweisprache und kennt daher viele Geschichten von Zugewanderten, auch Georgien ist ihr von Aufenthalten als Dozentin in Tiflis bestens bekannt, was man bei der lebhaften Schilderung des georgischen Lebens in „Laudatio auf eine kaukasische Kuh“ in jeder Zeile merkt. Ihre Protagonistin steht zwischen den Stühlen, wie es vielen Kinder von Zugewanderten geht, die sich zwischen Kulturen und Lebenswelten bewegen, die sich nicht wirklich vereinen lassen.

Der Roman funktioniert auf unterschiedlichen Ebenen, einerseits sprießt es in ihm nur so vor humorvollen Episoden und kurzweiligem Slapstick, wie man es auch aus unterhaltsamen Filmkomödien kennt. Highlight sicherlich die kaukasische Kuh, auch wenn der Anlass tatsächlich dramatisch ist. Die zahlreichen kulturellen Differenzen werden ebenfalls mit viel Ironie schamlos überzeichnet geschildert, so dass man mit den Unzulänglichkeiten auf allen Seiten locker leben kann. Andererseits liegen darunter auch ernstzunehmende Aspekte wie eben Olgas Gefühl immer zwischen den Stühlen zu sitzen und die beiden Welten, strikt voneinander zu trennen. So ist es kein Zufall, dass sie gerade in dem türkischstämmigen Kommilitonen einen Freund und Verbündeten findet. Die Erwartungen der Familie – eine von der Tradition geprägte überkommene Frauenrolle - belasten und vor allem die unermüdlichen Zwistigkeiten mit der Mutter ermüden sie. In dieser Konstellation zu erkennen, was sie wirklich will und wer sie tatsächlich ist – kein leichtes Unterfangen.

Eine lockere Lektüre, die jedoch auch Tiefgang bietet und sowohl unterhalten wie zum Nachdenken anregen kann.

Veröffentlicht am 24.04.2021

Dana Grigorcea - Die nicht sterben

Die nicht sterben
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Nach dem Kunststudium in Paris kehrt eine Malerin zurück in ihre rumänische Heimat, wo sie wie in jedem Jahr den Sommer in der Villa der Familie in einem kleinen Ort der Walachei südlich Transsilvaniens ...

Nach dem Kunststudium in Paris kehrt eine Malerin zurück in ihre rumänische Heimat, wo sie wie in jedem Jahr den Sommer in der Villa der Familie in einem kleinen Ort der Walachei südlich Transsilvaniens zu verbringen. Die Stimmung ist wie immer ausgelassen, trotz der Klagen darüber, was die kommunistische Diktatur mit dem Land und den Menschen gemacht hatte, doch ein tragischer Unfall, bei dem eine der Besucherinnen tödlich verunglückt, bringt ungeahnte Ereignisse ins Rollen. In der Familiengruft wird eine grausame zugerichtete Leiche gefunden just auf jenem Grab, das die Insignia des berühmtesten Bewohners des Landstriches trägt: Vlad der Pfähler, der berühmte Fürsten Dracula. Nicht nur die Weltpresse ist aufgeschreckt, sondern vor allem die Familie, die nicht ahnte, welches Blut in ihren Adern fließt.

„Der Vampirbiss ist keine Strafe, wie etwa der Pfahl eine ist. Er ist die Erlösung dessen, der geknechtet, verraten und erniedrigt wurde. Her mit eurem schwachen Blut! Und dann nehmt und trinkt alle vom Blut des Fürsten. Ihr Ohnmächtigen, die ihr mächtig werden wollt. Die ist der Blutsbund derer, die für das Recht kämpfen!“

Die rumänisch stämmige Journalistin und Autorin Dana Grigorcea wurde für ihre Werke bereits vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem 3sat-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb. In ihrem Roman „Die nicht sterben“ greift sie die berühmte Sage um den blutrünstigen Vampir auf und verbindet diese sowohl mit den Erinnerungen an die Diktatur Ceaușescus wie auch mit der modernen sensationsgierigen und kapitalistischen Gesellschaft. Der Roman wie auch die Protagonistin erscheinen im Stil eines klassischen Schauerromans, der jedoch viel mehr als nur schaurigen Grusel zu bieten hat.

Immer wieder kollidieren im Roman Gegensätze. Zunächst kommt die gebildete, kunst- und kulturaffine Oberschicht aus der Hauptstadt aufs Land, wo die naturverbundene Bevölkerung mit deutlicher Geringschätzung betrachtet wird. Im Verlauf der Handlung tritt dann mehr und mehr der
sagenumwobene Fürst ins Zentrum, wobei dieser mit seinen Gräueltaten kaum schrecklicher daherkommt als der kommunistische Diktator. Die Reaktion der Öffentlichkeit auf die Entdeckung ist jedoch der mit Abstand herrlichste Part der Geschichte: es wird unmittelbar ein Dracula Park geplant, in Scharen pilgern die Touristen zur Grabesstätte und lassen sich auch gerne als Dracula-Verschnitt von der Künstlerin porträtieren während sie ihren Geschichten über die Vorfahren lauschen.

Ein Vampirroman der etwas anderen Sorte, der Gesellschafts- und Politikkritik mit Schauerelementen und einer gehörigen Portion Witz kombiniert.

Veröffentlicht am 20.04.2021

Jørn Lier Horst - Wisting und der See des Vergessens

Wisting und der See des Vergessens
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William Wisting ist im Urlaub als er einen anonymen Brief mit einer Fallnummer erhält. Der Mord an einer jungen Frau aus dem Jahr 1999, der aufgeklärt und der Mörder verurteilt werden konnte. Dieser hat ...

William Wisting ist im Urlaub als er einen anonymen Brief mit einer Fallnummer erhält. Der Mord an einer jungen Frau aus dem Jahr 1999, der aufgeklärt und der Mörder verurteilt werden konnte. Dieser hat inzwischen seine mehrjährige Strafe abgesessen und ist wieder ein freier Mann. Auf einen zweiten Fall aus dem Jahr 2001, an dem Wisting selbst arbeitete, wird er ebenfalls anonym aufmerksam gemacht. Beide Fälle weisen frappierende Parallelen auch. Auch in diesem Fall gab es eine Verurteilung, der Täter ist zwischenzeitlich jedoch bereits verstorben. Was will man Wisting mitteilen? Und vor allem: wer? Während der Kommissar seinen Urlaub also mit privaten Nachforschungen verbringt, sind seine Kollegen an einem aktuellen Fall, bei dem ebenfalls eine junge Frau zu Tode kam, diesen kann Wisting jedoch nur aus der Ferne begleiten – bis sich die Fälle beginnen zu kreuzen.

„Wisting und der See des Vergessens“, Jørn Lier Horsts vierter Roman der Cold Case Reihe fügt sich nahtlos in die Serie der Altfälle ein, die den norwegischen Ermittler beschäftigen. Im Gegensatz zu den vorherigen jedoch, sind die aktuellen Fälle geklärt, was ein gänzlich anderer Ansatz ist. Diese dennoch erneut aufzurollen und nochmals zu betrachten, hat einen ganz eigenen Reiz, insbesondere, da sich die Kriminaltechnik im Laufe der Jahre enorm entwickelt hat und auch, weil hier die Polizeiarbeit durchaus kritisch hinterfragt wird.

Die Geschichte beginnt nicht mit einem aufsehenerregenden Fall oder einem dramatischen, noch immer ungeklärten Verbrechen. In entspanntem Erzählton darf der anonyme Briefeschreiber den Stein ins Rollen bringen, der sofort Wistings Neugier weckt. Weder Urlaub noch Krankheit können ihn vom Ermitteln abhalten. Es ist kein Rennen gegen die Zeit, eher eine akribische, solide Revision der alten Ermittlungen, die den Krimi prägt, der daher viel weniger durch Spannung als durch interessante Einblicke in die Polizeiarbeit überzeugen kann. Immer wieder neue Spuren tauchen unerwartet auf und lenken Wisting mal in diese, mal in jene Richtung. Über allem schwebt jedoch immer das große Fragezeichen nach dem heimlichen Strippenzieher, der den Kommissar wie eine Marionette zu lenken scheint.

Ein grundsolider Krimi, der detailreich die Ermittlungen aufschlüsselt ohne dabei jedoch langatmig zu werden oder sich in ebendiesen zu verlieren. Ganz im Gegenteil, an zahlreichen Stellen hat sich mir die Frage gestellt, ob die rechtlich in Deutschland ähnlich wäre, wie etwa die Auswertungen von Dashcams, der unmittelbare Zugriff auf Daten von Mautstationen und Stromanbietern oder das Auslesen von Gesundheitsapps. Umgekehrt verblüfft, welche Schlüsse aus diesen neuen Daten gezogen werden können und verdeutlicht, wie gläsern wir als Bürger geworden sind. Fingerabdrücke zu verwischen reicht schon lange nicht mehr aus, um nicht entdeckt zu werden.

Gewohnt gute Unterhaltung, der Autor setzt die Reihe mit einem ganz anderen Ermittlungsszenario fort und kann erwartungsgemäß bestens unterhalten.

Veröffentlicht am 18.04.2021

Trent Dalton - Der Junge, der das Universum verschlang

Der Junge, der das Universum verschlang
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Trent Dalton - Der Junge, der das Universum verschlang
Was für andere hochgradig seltsam erscheinen mag, ist für den 12-jährigen Eli Bell Anfang der 1980er Jahre im australischen Brisbane einfach das normale ...

Trent Dalton - Der Junge, der das Universum verschlang
Was für andere hochgradig seltsam erscheinen mag, ist für den 12-jährigen Eli Bell Anfang der 1980er Jahre im australischen Brisbane einfach das normale Leben. Sein Bruder Gus spricht nicht, seine Mutter und ihr Freund dealen mit Heroin und der berühmteste Verbrecher des Landes ist sein Babysitter. Eli träumt davon, eines Tages Reporter bei der Zeitung zu sein und unablässig hinterfragt er alles, was ihm in seinem Leben begegnet. Als sich jedoch sein Stiefvater Lyle mit dem Drogenkartell anlegt und versucht, lukrative Nebenschäfte an diesen vorbei zu organisieren, bricht für die ungewöhnliche Familie alles zusammen. Aber das hält den Jungen nicht davon ab, tapfer weiter seinen Weg zu gehen. Er weiß, dass die Wahrheit über das, was mit Lyle geschehen ist, irgendwann ans Licht kommen wird und auch wenn die Jahre vergehen, bleibt er an seiner ganz eigenen Story.

Der Autor Trent Dalton berichtete in einem Interview, dass es hinter dem Wandschrank seines Kinderzimmers eines geheimen Raum mit einem roten Telefon gab. Der Escape Room seiner Familie ist der Ausgangspunkt für sein Erstlingswerk, das noch mehr Parallelen zu seiner Vita aufweist und von Dalton selbst als halb Fiktion, halb Realität bezeichnet wird. Es ist eine coming-of-age Geschichte, ein Kriminalroman und eine Milieustudie, die ein Leben am unteren Ende der Gesellschaft nicht beschönigt. In seiner Heimat wurde Dalton mit allen vier großen literarischen Preisen ausgezeichnet und wurde auch beim Publikum zu einem Verkaufsschlager.

Es gibt quasi keine Facette des Lebens, die in dem Roman nicht eher oder später aufgegriffen wird. Drogen und Gewalt bilden den Hintergrund, vor dem die Geschichte erzählt wird. So drastisch das Milieu, in dem Eli und Gus aufwachsen, auch geschildert wird, so vielschichtiges ist dieses jedoch auch. Gerade an der Figur Arthur „Slim“ Halliday zeigt sich, dass ein notorischer Verbrecher nicht zwingend nur böse ist, von ihm lernt Eli die wichtigsten Lektionen in seinem Leben. Seine geradezu philosophischen Fragen nach dem Guten und Bösen durchziehen den Roman wie ein roter Faden. Auch Gus ist alles andere als gewöhnlich, sein Mutismus gekoppelt mit einer Savant-gleichen Vorsehungsgabe passt sich jedoch völlig natürlich in die Geschichte ein.

Ungläubig folgt man der Handlung, die in rasantem Tempo die Jugendjahre Elis durchläuft und unglaubliche Episoden schildert, die so fern jedes Durchschnittslebens sind, dass es mir bisweilen nicht ganz leicht fiel, sie nicht für gänzlich übertrieben und fragwürdig zu halten. Der Erzählton passte zwar hervorragend zu dem jungen Protagonisten, ist in seiner lakonischen Art auch unterhaltsam, aber so wirklich konnte mich der Roman nicht erreichen.