Profilbild von missmesmerized

missmesmerized

Lesejury Star
offline

missmesmerized ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit missmesmerized über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 17.10.2020

Sofie Sarenbrant - Schuld

Schuld – Emma Sköld und der tote Junge
0

Ein nächtlicher Einbruch, bei dem der Täter überrascht wurde und offenbar überreagiert hat. Jetzt ist der junge Robin, der allein Zuhause war, tot. Die Polizistin Emma Sköld ist erschüttert, nicht nur, ...

Ein nächtlicher Einbruch, bei dem der Täter überrascht wurde und offenbar überreagiert hat. Jetzt ist der junge Robin, der allein Zuhause war, tot. Die Polizistin Emma Sköld ist erschüttert, nicht nur, weil das Opfer noch sein ganzes Leben vor sich hatte, sondern weil der Mord direkt nebenan geschah. Da sie und ihr Partner sich jedoch just in dieser Nacht getrennt haben, hat sie von den Vorgängen nichts mitbekommen. Als auch noch ein zweiter Mord geschieht, ist nicht nur die Polizei, sondern die ganze Nachbarschaft alarmiert. Dieses Mal hat es jene Putzfrau getroffen, die das erste Opfer aufgefunden hatte und gegenüber der Polizei sichtbar verängstigt wirkte; sie wusste offenbar mehr, als gut für sie war. Eine Spur führt schnell zu baltischen Bauarbeitern, doch irgendwie wollen die Puzzleteile kein stimmiges Bild ergeben.

2019 wurde die schwedische Journalistin und Autorin zum „Crime Writer of the Year“ gekürt, nachdem ihre Romane wiederholt zu den meistverkauften des Jahres gehörten. „Schuld“ ist in der deutschen Übersetzung Band 4 der Reihe um Emma Sköld (im schwedischen Original Band 6, zwei weitere sind dort bereits erschienen), der Thriller lässt sich jedoch auch ohne Kenntnis der Vorgänger problemlos lesen. Erschwert werden die komplexen Ermittlungen dieses Mal durch Emma und Nyléns Trennung, die die Zusammenarbeit der beiden Kommissare nachhaltig stört.

Gleich mehrere Ermittlungsrichtungen werden angelegt, die parallel verlaufen und lange Zeit nicht wirklich einen Zusammenhang erkennen lassen. Einerseits der Einbruchsmord, dessen Motiv völlig offen bleibt. Das Opfer hatte eine Vorgeschichte, wenige Monate zuvor hat er bei einem Autounfall den Ferrari des Vaters seines Schulfreundes Sebastian völlig zerlegt, beide Jungs blieben jedoch wundersamer Weise unverletzt. Die Putzfrau Svetlana hat Angst, offenbar hat sie sich mit zwielichtigen Gestalten eingelassen, doch bevor sie enthüllen kann, wer diese sind, wird auch sie zum Opfer. Womöglich handelt es sich um die ausländischen Bauarbeiter, einer davon, der junge Gervase, muss auf nächtliche Raubzüge gehen und die Beute zu seinem brutalen Vater schicken. Doch kann er wirklich auch ein perfider Mörder sein? Und dann sind da noch Tagebucheinträge eines Mädchens, das offenkundig vernachlässigt wird und heimlich leidet, aber wie passt sie nun wieder ins Bild? So ganz nebenbei wird die Protagonistin auch noch bedroht und ihr Partner erhält ebenfalls beunruhigende Nachrichten. Von Idylle im wohlhabenden Stockholmer Vorort keine Spur.

Eine geschickt konstruierte Handlung, die mit hohem Tempo erzählt wird und sich erst nach und nach enthüllt und einmal mehr das beschauliche Schweden zum Tatort macht. Der Thriller ist ein typischer Vertreter des Nordic Crime, denn neben dem eigentlichen Kriminalfall wird auch ein kritischer Blick auf die Gesellschaft geworfen, die sich in diesem Fall in einer Facebook-Gruppe sensationslustig ereifert und auch an rassistischen Vorurteilen nicht spart.

Veröffentlicht am 15.10.2020

Cemile Sahin – Taxi

Taxi
0

Ein Mann lebt ein gleichförmiges Dasein, man könnte die Uhr nach seinen Routinen stellen, bis eines Tages selbige unterbrochen wird. Eine unbekannte Frau scheint ihn zu beobachten und verfolgen, seit Wochen ...

Ein Mann lebt ein gleichförmiges Dasein, man könnte die Uhr nach seinen Routinen stellen, bis eines Tages selbige unterbrochen wird. Eine unbekannte Frau scheint ihn zu beobachten und verfolgen, seit Wochen schon. Als sie ihm erklärt, weshalb sie das tut, kann er es nicht glauben: sie will, dass er zurückkommt, dass ihr Kind endlich wieder bei ihr ist. Doch das ist nicht seine Mutter, sondern eine Fremde, die offenbar den Verlust ihres Sohnes Polat nicht verwunden hat, der als Soldat im Krieg gefallen und mit Ehren beerdigt wurde, auch wenn man seinen Leichnam nicht gefunden hat. Er lässt sich darauf ein, wird Polat Kaplan, der verschollene Sohn. Über Monate üben sie heimlich die neue Rolle, ein exaktes Drehbuch hat die Mutter verfasst, eine genaue Vorstellung davon hat sie, wie sie Polat ihren Nachbarn präsentieren wird. Was als skurriler Spleen beginnt, übernimmt jedoch zusehends die Realität und bald lassen sich beide nicht mehr trennen.

Cemile Sahins Debütroman ist zunächst eine Herausforderung an den Leser. Man merkt, dass die studierte Künstlerin eigenwillig arbeitet und sich von Konventionen nicht aufhalten lässt. Man muss sich daher in den Text einlesen und sich auf ihn einlassen, dann jedoch entfaltet er sein Potenzial.

Sie greift dabei interessante und auch brisante Themen auf. Weder Land noch Ort sind genau definiert, es herrscht Krieg, das Militär verfügt über große Macht und kann Geschichte nach eigenem Gutdünken schreiben. Die Emotionen und Bedürfnisse einer Mutter dürfen dabei nicht stören. Wenn jene die Realität nach eigenen Vorstellungen modellieren können, warum dann nicht auch die trauernde Mutter? Es bleibt offen, ob dies ein verzweifelter Akt einer psychisch schwer gebeutelten Frau ist oder ob sie nicht eher Mauern eingerissen hat, die ohnehin schon am Bröckeln war.

Wenn es Reality-TV gibt, wieso sollte es dann nicht auch das Gegenstück, quasi gespielte Wirklichkeit geben? Was als moderner Gedanke anmutet, ist sozilogisch betrachtet eigentlich ein alter Hut, Erving Goffmans "Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag“ stammt immerhin aus den 1950ern und postulierte damals schon, dass wir, in Interaktion mit anderen und wenn wir uns beobachtet fühlen, immer versuchen, ein bestimmtes Bild von uns zu präsentieren und unser Selbst wird erst durch das geschaffen, was die anderen in uns sehen. Der Roman geht einfach nur einen Schritt weiter und bald schon findet die Verschmelzung der beiden Ichs statt und sie werden immer schwerer voneinander zu trennen.

Fiktion und Metafiktion und doch: am Ende kann nichts das Leid, das durch Krieg erschaffen wird, lindern. Eine eigenwillige Autorin, die sich leicht zwischen Genres und bekannten Formen bewegt und diese überzeugend neu komponiert.

Veröffentlicht am 13.10.2020

Meg Wolitzer - Das ist dein Leben

Das ist dein Leben
0

Dottie Engels ist in den 1980ern alleinerziehende Mutter zweier Töchter und ein Star am Comedy Himmel. Überall erkennt man sie sofort, extrovertiert wie sie ist, wird sie sofort zum Zentrum jeder Gesellschaft. ...

Dottie Engels ist in den 1980ern alleinerziehende Mutter zweier Töchter und ein Star am Comedy Himmel. Überall erkennt man sie sofort, extrovertiert wie sie ist, wird sie sofort zum Zentrum jeder Gesellschaft. Erica und Opal müssen häufig auf sie verzichten, während Dottie in Los Angeles auf der Bühne steht, werden sie von Babysittern, die sich jedoch kaum um sie kümmern, in New York betreut. Was Dottie zu ihrem Markenzeichen gemacht hat – der selbstironische Umgang mit ihrem Überwicht und dem offenkundig weit entfernten Schönheitsideal – wird für die 16-jährige Erica zunehmend zum Problem. Sie kann mit ihrem Körper nicht so entspannt umgehen wie die Mutter, mehr und mehr zieht sie sich zurück, bis irgendwann der völlige Bruch kommt. Auch für Opal und Dottie beginnen schwere Zeiten, als der Publikumsgeschmack sich ändert und der Stern der Mutter langsam sinkt.

Meg Wolitzer ist erst in den letzten Jahren in Deutschland als Autorin der Durchbruch gelungen, „Das ist dein Leben“ hat sie im Original schon 1988 veröffentlicht und man merkt dem Roman an, dass er noch nicht über die sprachliche Raffinesse und die überzeugende Figurenzeichnung verfügt, mit denen ihre späteren Romane „The Interestings“, „Belzhar“, „Die Ehefrau“ oder „The Female Persuasion“ mich restlos begeistern konnten.

Im Zentrum steht die Beziehung zwischen Mutter und den Töchtern. Dottie liebt diese über alles, trotz ihrer häufigen Abwesenheit wird sie ihrer Rolle als schützende Mutter gerecht, allerdings kann sie auf die zunehmenden Depressionen Ericas nicht wirklich reagieren. Opal, die 5 Jahre jünger ist, vergöttert die Mutter, was auch zu dem Auseinanderdriften der Schwestern führt. In Opal und Erica werden zwei gänzlich verschiedene Seiten von femininer Jugend aufgezeigt, die sich jedoch um die zentralen Aspekte des Umgangs mit dem eigenen Körper und auch den innerfamiliären Beziehungen drehen.

Es ist ein Roman seiner Zeit, das Kabelfernsehen mit seinen eigenen Regeln gibt es in der Form heute nicht mehr, auch die später gerade in New York zentrale Drogenproblematik, die ebenfalls aufgegriffen wird und vor allem der Lebensstil mit Fast Food und ohne die geringste Rücksichtnahme auf Körper und Gesundheit sind heute für Personen des Showbiz und öffentlichen Lebens kaum mehr vorstellbar.

Thematisch hat der Roman vieles zu bieten, nichtsdestotrotz konnte er mich leider nicht im erwarteten Maße für sich gewinnen. Es liegt eine Schwermut über der Handlung, die bisweilen erdrückend wirkt, so manche Länge forderte auch die Geduld heraus. Auch die Figuren blieben mir oft zu eindimensional und reduziert auf wenige Aspekte, um überzeugend zu wirken.

Veröffentlicht am 10.10.2020

Christian Guay-Poliquin - Das Gewicht von Schnee

Das Gewicht von Schnee
0

Sie finden ihn schwerverletzt unter seinem Auto liegend, die Beine eingeklemmt. Obwohl die Situation schwierig ist, will man dem Besucher helfen. Die Veterinärin kümmert sich um die Wunden und der alte ...

Sie finden ihn schwerverletzt unter seinem Auto liegend, die Beine eingeklemmt. Obwohl die Situation schwierig ist, will man dem Besucher helfen. Die Veterinärin kümmert sich um die Wunden und der alte Matthias, dem etwas abseits des Dorfes eine Hütte zugewiesen wurde, soll sich um seine Pflege kümmern. Schon länger haben sie keinen Strom mehr, der Winter naht und der Schnee steigt täglich höher. Es herrscht Endzeitstimmung, abgeschieden von der Außenwelt, mit langsam zur Neige gehenden Lebensmittelvorräten, sieht sich die kleine Gemeinschaft den Naturgewalten ausgeliefert. Die beiden ungleichen Männer ertragen derweil ihr Schicksal tapfer. Beide wortkarg beäugen sie sich zunächst stumm, bis sie langsam Vertrauen fassen auf den wenigen Quadratmetern, die sie miteinander teilen.

Christian Guay-Poliquin schildert zwar ein gänzlich anders geartetes Szenario in der kanadischen Provinz, es könnte aber kaum besser in die Welt passen, die man im Jahr 2020 erlebt. Zwar sind die Menschen nicht von der Außenwelt abgeschnitten und haben auch Strom und zahlreiche Kommunikationsmittel, aber das gemeinsam ans Haus gefesselt sein, die Schwierigkeit, einander aushalten zu müssen und nicht zu wissen, wann und ob sich die Situation entspannen wird, teilt die Fiktion mit der Realität. Mit dem steigenden Gewicht des Schnees, der anfangs nur kniehoch liegt, dann aber dramatische und bedrohliche Dimensionen annimmt, steigt auch der Druck auf die Menschen, die einerseits in der Krise voneinander abhängig sind, gleichzeitig aber auch feindseliger und egoistischer werden.

Dem Autor gelingt es mit einer einerseits sehr klaren und präzisen, andererseits aber auch hochpoetischen Sprache die Emotionen, die selten offenkundig gezeigt werden, einzufangen. Die Gleichförmigkeit der Tage, die Langsamkeit der Zeit, Langeweile durch das Eingesperrt sein und im Falle des Erzählers zudem der Immobilität werden immer wieder deutlich spürbar. Einzig das Feuer im Kamin versprüht bisweilen eine gewisse Wärme, ansonsten herrschen Kälte und unbarmherzige Natur. Aber auch die Menschen offenbaren ihre grausamen Seiten.

Die Kapitel – zunächst irritierend, da der Roman mit „Neununddreissig“ beginnt, was sich aber rasch erklärt – werden von der Ikarus-Sage eingerahmt, die in sieben Teilen untergliedert ist. Es beginnt im Labyrinth und der Leser ist gewarnt, dass zu viel Übermut das Leben kosten kann.

Eine sehr dichte Erzählung, deren reduzierte Handlung und Schauplatz beinahe zu erdrücken drohen, der jedoch zugleich wie eine Hommage an die Natur und den kanadischen Winter wirkt.

Veröffentlicht am 04.10.2020

Deniz Ohde – Streulicht

Streulicht
0

Am Rande des Industrieparks, der Säure in die Luft pustet und klebrigen Schnee produziert, wächst die Ich-Erzählerin auf. Mit ihren Freunden Pikka und Sophie besucht sie das Gymnasium, glaubt dort so sein ...

Am Rande des Industrieparks, der Säure in die Luft pustet und klebrigen Schnee produziert, wächst die Ich-Erzählerin auf. Mit ihren Freunden Pikka und Sophie besucht sie das Gymnasium, glaubt dort so sein zu können wie diese, doch hinter der Tür der elterlichen Wohnung ist vieles anders. Vater wie Großvater trinken zu viel, wollen keine Veränderung und herrschen ruppig über den Haushalt. Die Mutter, die einst aus der Türkei in ein vermeintlich besseres Leben geflüchtet war, akzeptiert dies stumm, bis es nicht mehr geht. Kein Umfeld für eine vielversprechende Zukunft und so kommt es auch: die Versetzung gescheitert, das Gymnasium Vergangenheit. Warum noch kämpfen, wenn der Ausgang doch ohnehin schon gewiss ist?

In Deniz Ohdes Debütroman verarbeitet die Autorin gleich zwei Erfahrungen, die sowohl unsere Gesellschaft wie auch das Bildungswesen prägen: Als Arbeiterkind fehlt ihr der Zugang zum notwendigen Habitus, der Voraussetzung für den Bildungserfolg ist, als Tochter einer türkisch-stämmigen Mutter verleugnet sie zunächst den offenkundigen ausländischen Namen, der sie ebenfalls stigmatisiert und in eine Schublade steckt, auf der sicher nicht Bildungsaufsteiger steht. Sie hat nie gelernt, für sich zu sprechen, Widerstand gegen erfahrenes Unrecht zu leisten und muss so den schweren Weg nehmen.

Gewalt kennt viele Formen. Die Erzählerin erlebt sie auf vielfältige Weise: verbal, psychisch, physisch. Angst und Sprachlosigkeit sind die Folgen, die sie über viele Jahre lähmen und ihr jedes Selbstvertrauen rauben. So trist die Umgebung in der Nähe des grauen und lärmenden Industrieparks, der nur noch von den unzähligen Flugzeugen übertrumpft wird, so traurig auch das Elternhaus in jeder Hinsicht. Sie lernt früh, unsichtbar und unhörbar zu werden, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die Mutter keine Verbündete, kämpft diese noch mit der eigenen Befreiung, die ihr mit der Flucht aus der Heimat vermeintlich schon gelungen war, nur um sie in eine neue, andere Gefangenschaft zu bringen.

Symbolisch zwei Szenen für einerseits die Leere, in der sie schwebt, und andererseits die vermeintlichen Freunde, die an ihrer Seite stehen. Bei einem Aufsatz zum Thema Identität fällt ihr nichts ein. Sie weiß nicht, wer sie eigentlich ist, was sie ausmacht, ebenso wenig wo sie hin will. Trotz hervorragender Zensuren traut ihr die Freundin Sophie, mit bildungsbürgerlichem Hintergrund, reit- und Ballettstunden gesegnet, nicht zu, das Abitur zu schaffen. Obwohl sie ihr Wissen unter Beweis stellt, bleiben immer Zweifel, wird dies als nur zufällig oder vorläufig anerkannt. Sie passt nicht in das Bild und immer wieder finden sich fadenscheinige Gründe, sie wieder beiseite zu schieben.

Es ist kein Roman von Emanzipierung; bei der Rückkehr in die elterliche Wohnung wird sie trotz inzwischen vorhandenem Studienabschluss wieder zu dem unscheinbaren Mädchen, das nichts kann und nichts zählt. Tief haben sich die Erfahrungen aus dem Kindesalter eingeschnitten und Narben verursacht, die sich nicht kaschieren lassen. Ein atmosphärisch düsterer Roman, der ohne plakative Gewaltexzesse doch verdeutlicht, wie grausam ein Leben in Deutschland verlaufen kann. Inhaltlich sicherlich ein würdiger Kandidat für den diesjährigen Deutschen Buchpreis.