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Veröffentlicht am 11.10.2023

Toller Roman über Familiengefüge und Gesellschaft

Zwischen zwei Monden
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Die 17-jährige Amira wächst in Bay Ridge, einem muslimischen Bezirk von New York auf. Gerade hat sie die Schule beendet und startet in den letzten unbeschwerten Sommer, bevor der Ernst des Lebens beginnt. ...

Die 17-jährige Amira wächst in Bay Ridge, einem muslimischen Bezirk von New York auf. Gerade hat sie die Schule beendet und startet in den letzten unbeschwerten Sommer, bevor der Ernst des Lebens beginnt. Doch so unbeschwert wird dieser nicht werden. Mit Beginn des Ramadan wird ihr Bruder nach 4 Jahren aus dem Gefängnis entlassen. Dies zieht Amira den Boden unter den Füßen weg, da schon vor langer Zeit eine Entfremdung zwischen dem Geschwistern stattgefunden hat und sie ihn als Eindringling in der familiären Idylle erlebt. Er verhält sich sehr sonderbar und geheimnisvoll und Amira befürchtet, dass ihre Eltern, die sich sehr um ihn sorgen und möchten das er fortan ein geregeltes Leben führt, daran zerbrechen würden, wenn er wieder in die Kriminalität abrutscht.
Auch ihre Zwillingsschwester Lina ist ihr keine große Stütze. Eher im Gegenteil: sie rebelliert gegen die gesellschaftlich und religiös auferlegten Normen, betrinkt sich, feiert gern, trägt knappe Outfits, wirft sich Männern an den Hals und träumt von einer Karriere als Model.
Amira fühlt sich wie „zwischen zwei Monden“, denn sie ist das gute Kind, dass versucht sich an alle Regeln zu halten.
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Aisha Abdel Gawad hat einen sehr eingängigen, bildlichen Schreibstil und schafft es gut die Atmosphäre des Viertels, in dem die Geschichte spielt, einzufangen. Man hört förmlich die Geräusche, riecht die Gerüche, spürt den Trubel und das Leben, welches in Bay Ridge herrscht. Es ist ein bisschen wie auf dem Dorf… jeder kennt jeden, es wird getratscht, alle passen so ein bisschen auf alle anderen auf. Aber der schöne Schein trügt: das Viertel wird überwacht, durch Kameras und Spitzel, die Anwohner allein auf Grund ihres Glaubens als Bedrohung angesehen. Es ist sicher nicht einfach in einer Welt aufzuwachsen, in der man der permanenten Überwachung ausgesetzt ist und sich nicht den geringsten Fehler erlauben darf.
Über die Darstellung der Gemeinschaft hinaus zeichnet die Autorin ein umfassendes Bild der Familie. In Rückblenden oder durch Erzählungen der Eltern erfährt der Lesende, wie es dazu gekommen ist, dass die Eltern in die USA ausgewandert sind. Auch über die Kindheit der Geschwister wird berichtet und schnell wird klar, warum die Beziehung zwischen dem Bruder und den Schwestern angespannt ist. Es zeigt sich auch, dass das Leben des Bruders wahrscheinlich eine andere Richtung genommen hätte, wenn er im Kindesalter Unterstützung bekommen hätte bzw. wenn die Eltern erkannt hätten, dass er diese benötigt.
Die Autorin fängt den Zwiespalt zwischen traditionellem/religiösem Bewusstsein und dem Wunsch sich selbst zu entfalten bzw. auszubrechen geschickt ein und verdeutlicht dies vor allem in der sehr gegensätzlichen Entwicklung der Zwillinge. Aber auch in Amira selbst herrscht so ein Kampf. Zum einen ist da der Wunsch eine gute Muslima zu sein, zum anderen möchte sie aber auch einfach nur ein amerikanisches Mädchen sein, welches sich frei entfalten kann. Die Diskrepanz die dahingehend im Elternhaus vermittelt wird ( die Mutter legt die Religion sehr viel stringenter als der Vater aus) hilft ihr dabei auch nicht besonders.
Sehr beeindruckt war ich von der Schilderung des Ramadan und den Entbehrungen, die daran hängen. Auch wenn ich prinzipiell weiß wie das Fasten abläuft, so ist es doch etwas anderes darüber zu lesen, wenn an heißen Tagen nicht mal ein Schluck Wasser zu sich genommen werden darf und versucht wird durch Imagination das Durstgefühl zu bekämpfen.
Auch sprachlich fand ich das Geschriebene sehr interessant. Der Wechsel zwischen der sich-Perspektive und dem allwissenden Erzähler hat Abwechslung ins lesen gebracht und mehrere Ansichten auf Situationen ermöglicht.
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Ein toller Roman, der gern noch ein wenig ausführlicher hätte sein dürfen. Vor allem das Ende kam mir dann doch sehr abrupt und hat mich ein wenig ratlos zurück gelassen.
Große Leseempfehlung.

Veröffentlicht am 03.10.2023

Immer für alle Anderen

Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne
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„𝘚𝘪𝘤𝘩 𝘻𝘶 𝘬𝘶̈𝘮𝘮𝘦𝘳𝘯, 𝘢𝘶𝘧𝘻𝘶𝘰𝘱𝘧𝘦𝘳𝘯, 𝘢𝘭𝘭𝘻𝘦𝘪𝘵 𝘣𝘦𝘳𝘦𝘪𝘵 𝘻𝘶 𝘴𝘦𝘪𝘯 𝘪𝘮 𝘒𝘢𝘮𝘱𝘧 𝘨𝘦𝘨𝘦𝘯 𝘥𝘢𝘴 𝘜𝘯𝘸𝘰𝘩𝘭𝘴𝘦𝘪𝘯 𝘥𝘦𝘳 𝘢𝘯𝘥𝘦𝘳𝘦𝘯, 𝘩𝘪𝘦ß 𝘯𝘶𝘳 𝘣𝘭𝘰̈𝘥𝘦𝘳𝘸𝘦𝘪𝘴𝘦 𝘢𝘶𝘤𝘩 𝘪𝘳𝘨𝘦𝘯𝘥𝘸𝘪𝘦 𝘶𝘯𝘴𝘪𝘤𝘩𝘵𝘣𝘢𝘳 𝘻𝘶 𝘸𝘦𝘳𝘥𝘦𝘯. … 𝘈𝘣𝘦𝘳 𝘥𝘢𝘴 𝘸𝘢𝘳 𝘴𝘤𝘩𝘰𝘯 𝘪𝘯 𝘖𝘳𝘥𝘯𝘶𝘯𝘨 𝘴𝘰. 𝘋𝘢𝘴 𝘞𝘪𝘤𝘩𝘵𝘪𝘨𝘴𝘵𝘦 ...

„𝘚𝘪𝘤𝘩 𝘻𝘶 𝘬𝘶̈𝘮𝘮𝘦𝘳𝘯, 𝘢𝘶𝘧𝘻𝘶𝘰𝘱𝘧𝘦𝘳𝘯, 𝘢𝘭𝘭𝘻𝘦𝘪𝘵 𝘣𝘦𝘳𝘦𝘪𝘵 𝘻𝘶 𝘴𝘦𝘪𝘯 𝘪𝘮 𝘒𝘢𝘮𝘱𝘧 𝘨𝘦𝘨𝘦𝘯 𝘥𝘢𝘴 𝘜𝘯𝘸𝘰𝘩𝘭𝘴𝘦𝘪𝘯 𝘥𝘦𝘳 𝘢𝘯𝘥𝘦𝘳𝘦𝘯, 𝘩𝘪𝘦ß 𝘯𝘶𝘳 𝘣𝘭𝘰̈𝘥𝘦𝘳𝘸𝘦𝘪𝘴𝘦 𝘢𝘶𝘤𝘩 𝘪𝘳𝘨𝘦𝘯𝘥𝘸𝘪𝘦 𝘶𝘯𝘴𝘪𝘤𝘩𝘵𝘣𝘢𝘳 𝘻𝘶 𝘸𝘦𝘳𝘥𝘦𝘯. … 𝘈𝘣𝘦𝘳 𝘥𝘢𝘴 𝘸𝘢𝘳 𝘴𝘤𝘩𝘰𝘯 𝘪𝘯 𝘖𝘳𝘥𝘯𝘶𝘯𝘨 𝘴𝘰. 𝘋𝘢𝘴 𝘞𝘪𝘤𝘩𝘵𝘪𝘨𝘴𝘵𝘦 𝘸𝘢𝘳 𝘴𝘤𝘩𝘭𝘪𝘦ß𝘭𝘪𝘤𝘩, 𝘥𝘢𝘴𝘴 𝘦𝘴 𝘢𝘭𝘭𝘦𝘯 𝘨𝘶𝘵 𝘨𝘪𝘯𝘨. 𝘈𝘭𝘭𝘦𝘯 𝘢𝘯𝘥𝘦𝘳𝘦𝘯.“ (𝘚. 14/15)

Katha macht es sich schon sehr früh im Leben zur Aufgabe sich um andere zu kümmern. Sie versucht die Ehe ihrer Eltern zu retten und als sie damit scheitert, nimmt sie der Mutter allerhand Pflichten ab. Sie kümmert sich um ihre jüngere Schwester Nadin, schmeißt den Haushalt, fühlt sich für alles und jeden in ihrer Umgebung verantwortlich.
Sie macht sich klein, versucht unter dem Radar zu bleiben, arbeitet gegen ihre eigenen Bedürfnisse, scheint sie nicht einmal zu kennen, bis sie eines Tages auf Angelica, die Mutter einer Klassenkameradin, trifft. Zum ersten Mal in ihrem jungen Leben fühlt sie sich gesehen. Angelica stellt Fragen, ist aufrichtig interessiert und legt ihr immer wieder ans Herz auch an sich selbst zu denken.
Angelica wird mehr und mehr Mutterersatz, aber das ändert sich schlagartig, als sie krank wird und kurz darauf stirbt. Mit ihrem Tod bricht für Katha eine Welt zusammen, ein Zustand aus dem sie sich nicht so schnell befreien kann.
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Sina Scherzant zeichnet in ihrem Debüt ein großartiges Bild eines Mädchens/ einer jungen Frau, die ihr Leben in den Schatten aller anderen stellt. Dies passiert nicht freiwillig, sondern als erlerntes Verhalten auf äußere Umstände.
Von frühester Kindheit an, fühlt sich Katha verantwortlich für eigentlich alles, traut ihrem Umfeld nicht zu mit Problemen oder Emotionen umzugehen, lädt sämtliche Last auf ihre Schultern. Gepaart mit magischem Denken entwickelt sich ein Verhalten, dass nicht gut für die Protagonistin ist, dass sie fast daran zerbrechen lässt. Die kindliche Sichtweise auf die Dinge, macht es teilweise sehr bedrückend zu lesen. Vor allem die Selbstverleugnung, das nicht Einsehen-wollen, dass man selbst Hilfe braucht.
„𝘌𝘴 𝘪𝘴𝘵 𝘰𝘧𝘵 𝘢𝘭𝘭𝘦𝘴 𝘰𝘬𝘢𝘺, 𝘢𝘭𝘭𝘦𝘴 𝘨𝘶𝘵, 𝘯𝘪𝘤𝘩𝘵 𝘴𝘰 𝘴𝘤𝘩𝘭𝘪𝘮𝘮, 𝘬𝘦𝘪𝘯 𝘗𝘳𝘰𝘣𝘭𝘦𝘮, 𝘬𝘦𝘪𝘯 𝘚𝘵𝘳𝘦𝘴𝘴, 𝘯𝘦𝘪𝘯, 𝘢𝘭𝘭𝘦𝘴 𝘣𝘦𝘴𝘵𝘦𝘯𝘴, 𝘮𝘢𝘤𝘩𝘵 𝘦𝘶𝘤𝘩 𝘬𝘦𝘪𝘯𝘦 𝘎𝘦𝘥𝘢𝘯𝘬𝘦𝘯, 𝘪𝘤𝘩 𝘮𝘢𝘤𝘩𝘦 𝘮𝘪𝘳 𝘥𝘰𝘤𝘩 𝘴𝘤𝘩𝘰𝘯 𝘨𝘦𝘯𝘶𝘨.“ (𝘚. 349)
Katha ist sehr realistisch dargestellt und ich denke der/die ein oder andere wird sich gut in ihrem Verhalten wiederfinden, wodurch es nicht einfach nur ein Roman ist, sondern durchaus auch zur Reflexion einlädt.
Durch die Begleitung über mehrere Jahre wird schön herausgearbeitet, in wiefern sich das fehlen von Urvertrauen auf die späteren Erwachsenenjahre auswirkt.
Durch die Figur der Angelica wird zwar ein bisschen was abgefedert, aber eben nicht komplett. Angelica übernimmt hier die Aufgaben die eigentlich den Eltern obliegen sollte: Katha Selbstvertrauen zu geben, sie in ihren Bedürfnissen zu bestärken, sie Kind sein lassen… etwas was den Eltern nicht möglich ist. Der Vater ist nach der Scheidung größtenteils abwesend, wird von der Mutter schlecht gemacht. Die Mutter versinkt zeitweise in Depression und lenkt sich die restliche Zeit mit arbeiten ab. Gerade im Teenageralter, wo sowieso alles drunter und drüber geht und Halt wichtig ist, muss sich Katha diesen selbst geben, wozu sie natürlich gar nicht in der Lage ist.
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Scherzants Schreibstil ist voll von Metaphern, der die kindlichen Gedanken erlebbar macht und lässt sich schön lesen. Über die Seiten hinweg, macht nicht nur Katha, sondern auch das Geschriebene eine Entwicklung durch und ich wäre der Geschichte gern noch weiter gefolgt.
Im Faziz ein tolles Debüt mit einer schönen Tiefe und eine Empfehlung für euch.

Veröffentlicht am 27.09.2023

Annäherung ohne Nähe

Die Wahrheiten meiner Mutter
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„𝘔𝘶𝘵𝘵𝘦𝘳, 𝘪𝘤𝘩 𝘦𝘳𝘥𝘪𝘤𝘩𝘵𝘦 𝘥𝘪𝘤𝘩 𝘮𝘪𝘵 𝘞𝘰̈𝘳𝘵𝘦𝘳𝘯, 𝘶𝘮 𝘦𝘪𝘯 𝘉𝘪𝘭𝘥 𝘷𝘰𝘯 𝘥𝘪𝘳 𝘻𝘶 𝘩𝘢𝘣𝘦𝘯.“ (𝘚. 99)

Johanna verlässt Hals über Kopf ihren Mann und ihr Leben in Norwegen, um mit ihrer großen Liebe nach Amerika zu gehen. Damit ...

„𝘔𝘶𝘵𝘵𝘦𝘳, 𝘪𝘤𝘩 𝘦𝘳𝘥𝘪𝘤𝘩𝘵𝘦 𝘥𝘪𝘤𝘩 𝘮𝘪𝘵 𝘞𝘰̈𝘳𝘵𝘦𝘳𝘯, 𝘶𝘮 𝘦𝘪𝘯 𝘉𝘪𝘭𝘥 𝘷𝘰𝘯 𝘥𝘪𝘳 𝘻𝘶 𝘩𝘢𝘣𝘦𝘯.“ (𝘚. 99)

Johanna verlässt Hals über Kopf ihren Mann und ihr Leben in Norwegen, um mit ihrer großen Liebe nach Amerika zu gehen. Damit stößt sie ihre Familie vor den Kopf und hat nur noch sporadisch Kontakt.
Sie heiratet, bekommt einen Sohn, ist Könstlerin und stellt ihre Werke (Mutter und Kind 1 und 2) auch in ihrer Heimatstadt aus. Die Mutter fühlt sich davon überaus angegriffen und als kurz darauf der Vater stirbt, bricht der Kontakt vollends ab.
Nach 30 Jahren, der Sohn längst erwachsen, ihr eigner Mann gerade verstorben, kehrt Johanna nach Norwegen, in die Stadt ihrer Kindheit, zurück und will sich mit der verbliebenen Familie bestehend aus Mutter und Schwester aussöhnen, welche jedoch jeglichen Kontakt verweigern.
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Wie gelingt Annäherung, wenn eine der Personen dies nicht will?
Man könnte fast meinen, dass es unmöglich ist und doch gelingt Vigdis Hjorth genau das.
Über die eigenen Gedanken und Erinnerungen nähert sich Johanna ihrer Mutter an, kommt ihr wahrscheinlich näher, als jemals zuvor. Sie nimmt die Vergangenheit auseinander, versucht Rückschlüsse zu ziehen und Fragen zu beantworten. Vieles ist ein Rätselraten, ein Vermuten, ein Schweben zwischen unendlichen Möglichkeiten. Um ihrer Mutter näher zu kommen, stellt Johanna auch sich selbst immer wieder in Frage, durchlebt verschiedenste Gefühle, von Wut, über Verzweiflung, bis hin zu Erleichterung. Sie taucht tief in ihre Kindheit ein, lässt uns daran teilhaben, wie verkorkst es damals schon war und schließt auch irgendwie damit ab, als sie erkennt, dass nicht sie das Problem ist oder war.
Ich fand es unglaublich hart zu lesen, wie Johanna immer wieder versucht den Kontakt zur Mutter aufzunehmen und diese sie immer wieder ignoriert. Ich konnte es nicht verstehen, wie die Mutter so derart verbohrt sein kann, immerhin ist es ihre Tochter… ich kann es bis jetzt nicht und doch zeigt es sehr schön, dass wir andere Menschen nicht ändern können, sondern nur uns selbst oder unsere Einstellung zu ihnen.
Ich hätte mir sehr einen anderen Ausgang der Geschichte gewünscht, aber es passt sehr gut ins Bild und ist auf eine Weise auch irgendwie schön.
Das Buch zu lesen, ist ein bisschen wie denken. Das Geschriebene ist manchmal wirr, ab und zu überschlägt es sich, es wird hin und her gesprungen, viele Emotionen spielen rein. Es fühlt sich an, wie direkt im Kopf der Erzählperson zu verweilen, was mir sehr gut gefallen hat.
Ein thematisch dichter Roman über eine schwierige Mutter-Tochter-„Beziehung“, der von Verlust, Enttäuschung, Ablehnung, Verletzung und Abnabelung erzählt und der Protagonsitin erlaubt ihre Kindheit aufzuarbeiten, auf eine Weise, wie ich es noch nicht gelesen habe.
Auf jeden Fall gibts eine Leseempfehlung von mir.

Veröffentlicht am 20.09.2023

Wut und Ohnmacht

Ich erkenne eure Autorität nicht länger an
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ein Mensch, der einen Künstler beschuldigt politisch zu sein,
hatte wohl
noch nie seine eigenen Menschenrechte zur Diskussion stehen
„ (S. 178)

Glenn Bech ist Psychologe, kommt aus der Provinz Dänemarks, ...


ein Mensch, der einen Künstler beschuldigt politisch zu sein,
hatte wohl
noch nie seine eigenen Menschenrechte zur Diskussion stehen
„ (S. 178)

Glenn Bech ist Psychologe, kommt aus der Provinz Dänemarks, stammt aus armen Verhältnissen, ist schwul und wurde in der Schule gemobbt.


ich denke nicht dass ihr böse seid
ich glaube die Bosheit ist größer als wir
deshalb wird meine Wut politisch
„ (S. 264)

Und von dieser Wut hat er eine ganze Menge… Nun kann ich mit Wut als Gefühl nicht allzu viel anfangen, wegen… nun ja… Sozialisierung und so, aber könnte ich es, würde ich sofort einsteigen.

„Ich erkenne eure Autorität nicht länger an“ liest sich wie ein Tagebuch aus mal längeren und mal kürzeren Sequenzen. Blech nimmt hierbei so ziemlich alles auseinander, von Klassengesellschaft, Homophobie, über Priviliegien und Gut-Menschen-Tum. Zu allem hat er eine Meinung und die wird vielen nicht gefallen.


nenn mich radikal
ich denke
die Wirklichkeit ist es bereits
„ (S. 122)

Schonungslos brüllt er förmlich heraus, was ihm nicht passt… und das ist eine ganze Menge. Er führt uns vor Augen, was in unserer Welt nicht stimmt, was schief läuft und das zu lesen ist nicht immer angenehm. Durch die sehr persönliche Ausarbeitung, gespickt mit eigenen Erlebnissen, macht es Bech mir als Leserin einfach, seine Ausführungen und seine Gefühle (sei es nun Wut, Genervtheit, Angst oder Resignation) nachzuvollziehen. Durch die persönliche Ansprache wird man aufgefordert auch sich selbst zu hinterfragen.
Viele Aussagen würde ich genauso unterschreiben, bei manchen allerdings bin ich nicht d‘accord. Manches ist mir zu generalisiert, zu oberflächlich betrachtet. Aber mit dem meisten hat er am Ende Recht.


Sichtbarkeit ist entscheidend
aber was hilft die ganze Sichtbarkeit wenn sie Schatten wirft
auf die Falschen?
„ (S. 162)

Der Autor spricht mit seinem Buch vor allem für diejenigen die sich ausgegrenzt und am Rande der Gesellschaft fühlen. Er verschafft jenen eine Stimme, die in irgendeiner Weise marginalisiert oder unpriviligiert sind und ich wünsche mir, dass es ganz viel Sichtbarkeit bekommt, bin mir aber sicher, dass es spalten wird und nicht für jeden geeignet ist.

Veröffentlicht am 19.09.2023

Weibliche Selbstbestimmung

Die liegende Frau
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Drei Freundinnen planen einen gemeinsamen Urlaub in Berlin. Kurz bevor es dazu kommt, fährt Nora zu ihrer Mutter ins Rheintal, verschwindet in ihrem alten Kinderzimmer, legt sich dort ins Bett und verfällt ...

Drei Freundinnen planen einen gemeinsamen Urlaub in Berlin. Kurz bevor es dazu kommt, fährt Nora zu ihrer Mutter ins Rheintal, verschwindet in ihrem alten Kinderzimmer, legt sich dort ins Bett und verfällt in Schweigen.
Kurzerhand entschließen sich Szibila und Romi ihr hinterher zu reisen und quartieren sich in einem Wellnesshotel ein. Während Romi, die selbst gerade in einer Selbstfindung und Neuerfindung ihrer Partnerschaft steckt, sehr verstört ist von Noras Verhalten, scheint Szibila, die den Männern abgeschworen hat und keine Beziehung eingehen möchte, da sie Abhängigkeit befürchtet, nicht weiter beunruhigt über Noras Zustand.
Es folgen fünf Tage, in denen Romi und Szibila sich selbst und auch einander näher kommen und letztendlich auch Nora wieder zu sich findet.
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Laura Vogt erschafft sehr nahbare und tiefgründige Charaktere mit Stärken und Schwächen, voll von Fragen und Widersprüchen, angereichert mit Wünschen und einer Vorstellung vom Leben, wie es sein könnte.
Da ist Nora, die mit ihrem Muttersein hadert und sich gern mal in sich zurückzieht, sonst aber ein sonniges Gemüt hat und ihrer Tochter eine bessere Sicht auf das Frau sein vermitteln will.
Da ist Romi, gerade schwanger mit ihrem zweiten Kind, die sich vor kurzem in Dennis verliebt hat, aber auch ihren Mann liebt und Polyamorie für sich entdeckt. Die Alles und Nichts will und Angst hat am Ende zu versagen.
Und da ist Szibila, deren Menstruationsbeschwerden sehr viel tiefer gehen und einen anderen Ursprung haben, die nichts von Abhängigkeit hält und diese in jeder Beziehung vermutet. Sie bleibt lieber allein als sich einem Mann zu unterwerfen und ist im Allgemeinen der Ansicht, dass es nicht gut ist, dass wir Menschen auf diesem Planeten sind.
Sie alle eint der Wunsch anders zu sein, ihr Leben abseits von Normen und Konventionen zu führen, selbst zu bestimmen.
Genau darum geht es auch. Es geht um große (feministische) Fragen, angefangen bei der, was eine Frau sich rausnehmen darf, inwieweit sie ihr Leben selbst bestimmen darf und was das für sie und ihre Umwelt bedeutet. Es geht darum Sozialisierungen zu hinterfragen und auch alte Muster zu durchbrechen. Wer sagt, das eine Frau unbedingt einen Mann an ihrer Seite braucht? Wer sagt, dass eine Mutter immer in erster Linie für die Kinder da ist, die Care-Arbeit übernimmt, die Wünsche aller anderen über die eigenen stellt? Und wer sagt, dass Mutterschaft immer etwas Schönes ist?
Vogt zeigt auf, dass es schwer ist, die gesellschaftliche Prägung abzulegen, dass es mit Selbstzweifel einhergeht und nicht selten in Selbstaufgabe endet, sie zeigt aber auch, dass es möglich ist für sich selbst einen anderen, passenderen Weg zu finden.
Anhand verschiedener Familiengeschichten wird außerdem klar, welche Last und Überzeugungen von der Kindheit ins Erwachsenenalter übergehen und wie diese das Denken und Fühlen beeinflussen können.
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Ein starker Roman der Individualismus über Erwartungen von außen stellt, der die Freiheit der*des Einzelnen beleuchtet und gute Denkanstöße gibt.
Bis auf das Ende, dass mir persönlich viel zu offen war, hat es mir sehr gut gefallen und ich kann es euch wärmstens empfehlen.